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Berliner Zeitung 16.04.2019

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20 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 89 · D ienstag, 16. April 2019<br />

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Feuilleton<br />

Dieses verdammte Lachen<br />

Sibylle Berg führt in ihrer äußerst gegenwärtigen Post-Brexit-Dystopie „GRM“ vor,was aus uns werden kann: vom Grundeinkommen bis zum Geheimdienst<br />

VonJudith von Sternburg<br />

Womit soll man anfangen?<br />

Mit dem Klima,<br />

der Überwachung,<br />

dem Internet, dem<br />

Voyeurismus, der Gleichgültigkeit,<br />

der Verblödung (verschuldet/unverschuldet),<br />

derVerwahrlosung (innerlich/äußerlich),<br />

der Verelendung,<br />

der Vereinsamung, der Verrohung<br />

der Sitten, der Verschärfung der<br />

Strafgesetzgebung?<br />

Mit der Wohnungs- und überhaupt<br />

Platznot, der Arbeits- und<br />

überhaupt Beschäftigungslosigkeit?<br />

Mitdem Gesundheits- und Reinlichkeitswahn,<br />

der Bigotterie,Heuchelei,<br />

dem Christ-, Kapitalist-, Traditionalistsein,<br />

der Misogynie, Xenophobie,<br />

Homophobie? Mit den steigenden<br />

Suizidraten bei gleichzeitigen Chancen<br />

auf ein Fortleben mittels Hirntransplantation?<br />

Mit dem Grundeinkommen,<br />

der Punktevergabe und<br />

dem Chip, der sie steuert, mit dem<br />

privatisierten Geheimdienst, der alles<br />

weiß, aber egal? Mitden Chinesen?<br />

Oder dann doch einfach mit dem<br />

Brexit. Der Brexit liegt in Sibylle<br />

Bergs neuem Roman „GRM“ ein<br />

paar Jahre zurück, sehr viele sind es<br />

nicht. „Nach dem Brexit war ein wenig<br />

Ruhe gewesen. Hoffnung war bei<br />

den Dummköpfen eingezogen. Sie<br />

träumten von einem Land, das nur<br />

von weißen, trinkfesten Menschen<br />

bewohnt wird ... Vonbritischer Musik<br />

und britischen Filmen und britischem<br />

Essen träumten sie. Und<br />

dann ist –nichts passiert. DieAraber<br />

sind noch da, die Schwarzen, die Polen,<br />

die Armut, die Anstrengung, die<br />

Leben bedeutet, alles geblieben.“<br />

Es ist böse und gemein, wenn<br />

auch für Kontinentaleuropäer nicht<br />

tröstlich (woanders scheint es ebenfalls<br />

den Bach heruntergegangen zu<br />

sein), dass Berg ihren Spott ausgerechnet<br />

gegen Großbritannien richtet.<br />

Unddie inzwischen berühmt berüchtigten<br />

alten weißen Männer<br />

(hier:englische Politiker) vorm Urinal<br />

Pläne schmieden lässt. „,Man muss<br />

Großbritannien wieder zu einem Ort<br />

der Tradition machen, vonDreck befreien‘,<br />

sagte Thomes Vater und betrachtete<br />

die offene Hose seines Kollegen<br />

und die weiße Wurst, die aus<br />

dem Dunkel zu winken schien.“<br />

Wenn Dinge nicht gut laufen und<br />

Menschen sich Blößen geben, ist es<br />

relativ einfach, sich über sie lustig zu<br />

machen. Trotzdem geschieht das<br />

hier virtuos.Carl hatte „auf dem Bau<br />

als Vorarbeiter gearbeitet …Bis er<br />

durch einen Polacken ersetzt wurde.<br />

Darumwar er gegen den Islam. Und<br />

gegen all die Scheiße. Zu der Carl<br />

eine Theorie hatte. Seiner Meinung<br />

Die Schriftstellerin Sibylle Berg im vergangenen Jahr bei der Internetkonferenz re:publica in Berlin.<br />

DAS BUCH<br />

Sibylle Berg: GRM. Brainfuck<br />

Roman. Kiepenheuer &Witsch, Köln 2019. 637 Seiten, 25 Euro.<br />

Lesung vonSibylle Berg: 16. 4., 20 Uhr,Festsaal Kreuzberg,AmFlutgraben 2<br />

DPA/JENS KALAENE<br />

nach waren die Schieflage,der mangelnde<br />

Respekt, die Armut, die Veränderung<br />

als Grundrauschen in der<br />

berufstätigen Frau begründet.“<br />

Denn es ist gar nicht so viel passiert<br />

in den Jahren zwischen jetzt und<br />

„GRM“. Neu ist die gerade wieder<br />

eingeführte Todesstrafe.Carls perVideo<br />

übertragene Hinrichtung ist die<br />

erste ihrer Art. Auch die Vollidioten<br />

werden es also nicht leicht haben.<br />

Dasist ebenfalls kein Trost.<br />

Sibylle Berg beschreibt die Welt,<br />

die uns bekannt ist und geht bloß<br />

lässig einige Schritte weiter. Diese<br />

Schritte haben einen Zug ins Neckische,aber<br />

im Grunde ist es fürchterlich.<br />

DieAutorin zeigt, wie es weitergehen<br />

dürfte,wenn es so weitergeht,<br />

und findet eine Form dafür.<br />

Zur Form gehört, dass es keine<br />

Form gibt, aber alles miteinander zusammenzuhängen<br />

scheint. Das<br />

stimmt nicht, ist jedoch Verschwörungstheoretikers<br />

liebste gefühlte<br />

Wahrheit. Verschwörungstheoretiker<br />

gibt es auch in ein paar Jahren<br />

noch. Gefühlte Wahrheiten auch.<br />

Grammatikalisch flitscht Berg<br />

von Abschnittchen zu Abschnittchen,<br />

indem Schlusswendungen<br />

schon zum nächsten gehören (können).<br />

Das stellt eine immens hohe<br />

Grundgeschwindigkeit her,die Ellipsen<br />

übertölpeln einen beim Lesen,<br />

aber man gewöhnt sich daran, wie<br />

man sich an so manches gewöhnt.<br />

Auch die Atemlosigkeit jener totalen<br />

Überwachung wird durch Schnipsel<br />

und Schnitte vermittelt. Berg und<br />

ihreLeser sitzen gewissermaßen mit<br />

am Arbeitsplatz eines gewissen MI5<br />

Piet, der beim privatisierten Geheimdienst<br />

tätig ist. Das„MI5“ ist die<br />

nostalgisch angehauchte Benennung<br />

einer Sache,die eh keiner mehr<br />

versteht. Da die Überwachung alles<br />

weiß, kann Berg auktorial erzählen,<br />

schlüpft aber auch in die Perspektiven<br />

der Figuren. Berg, MI5 Piet, sogar<br />

die Rechner kommentieren rein.<br />

Ferner sorgt Berg gelegentlich für<br />

eine starke, schiefe, aber wummernde<br />

Rhythmisierung durch Zeilensprünge.„Don<br />

hielt das nicht aus.<br />

/Und /Weigerte sich, ihren vorgesehenen<br />

Platz als Abschaum einzunehmen.<br />

/Und /Wartete nicht mehr<br />

auf Liebe.“ Das mag mit der Musik<br />

zusammenhängen, die „GRM“ den<br />

Namen gibt. GRM ist die coole Verkürzung<br />

für „Grime“, eine um 2015<br />

aufgetauchte britische Spielart des<br />

HipHop. Don und ihre Freunde lieben<br />

sie.Don kommt aus der Provinz<br />

nach London. Ein Quartett minderjähriger<br />

Außenseiter sucht in der<br />

Hauptstadt nur theoretisch ein besseres<br />

Leben. Praktisch fehlen ihm<br />

dazu erstens die Mittel, zweitens ist<br />

es zu schlapp, und was soll das sein,<br />

ein besseres Leben in einer öden,<br />

kalten Welt, in der schon lange keine<br />

Vögel mehr zwitschern.<br />

Don, ihre Freunde und ihr allmähliches<br />

Verlassen der Kindheit –<br />

da kommt auch die Liebe vor, aber<br />

die Liebe hat keine große Chance<br />

mehr,falls sie je eine hatte –sind der<br />

Kern einer verzweigten Handlung<br />

und vielfältigen Zustandsbeschreibung.<br />

Drumherum: eine Fülle von<br />

Figuren. Dank der Überwachung<br />

können sie jeweils mit Grunddaten<br />

kurz eingeführt werden (sexuelle<br />

Ausrichtung, Kreditwürdigkeit, Gefährdungspotenzial,<br />

Hobbys). Einige<br />

laufen dann über Hunderte von Seiten<br />

mit, andere sind gleich wieder<br />

weg(meistens tot).<br />

Es gibt explizite Schilderungen<br />

von Gewalt und sexueller Gewalt, es<br />

gibt bizarre Un- und Vorfälle, aber<br />

auch das ist nicht in dem Sinne neu.<br />

Leute schauen sich das heutzutage<br />

im Netz an, in BergsLondon passiert<br />

es eben andauernd auf der Straße,<br />

die Leute filmen mit und schauen es<br />

sich dann im Netz an. Das Internet<br />

hat in „GRM“ das Internet verlassen.<br />

Dasprägt den Umgangston –ruppig,<br />

salopp und unsicher,was den Tonfall<br />

betrifft.<br />

Es gibt ihn nicht, den großen<br />

Plan. Es gibt sie nicht, die große Gegenwehr.<br />

Wer ist schuld? Das lässt<br />

sich nicht so einfach sagen. „Fußball“,<br />

heißt es einmal, „war eine<br />

wichtige Volksablenkungsmaßnahme,umMenschen<br />

vonder Revolution<br />

abzuhalten. Fast so wichtig<br />

wie Verschwörungsseiten, Filterblasen,<br />

Nazipages, gefälschte Meldungen,<br />

Manipulation, Pornosites und<br />

das Hobby, das Netz mit blöden Gesichtern<br />

zu überfluten und mit<br />

Scheißkommentaren.“<br />

Don und ihre Freunde vergraben<br />

ihre elektronischen Geräte und leben<br />

hinfort analog. Eine noch jüngere<br />

Gruppe, die die vier in London<br />

kennenlernen, hackt sich in das<br />

Überwachungssystem ein und zeigt<br />

auf den öffentlichen Bildschirmen,<br />

was das Überwachungssystem von<br />

den Leuten weiß. DieGruppe will die<br />

Leute aufrütteln. DieLeute sind aber<br />

nicht schockiert. „Sie sind hervorragend<br />

darauf trainiert worden, gesehen<br />

zu werden. Zehn Jahre soziale<br />

Medien haben eine immense geistige<br />

Verwüstung hinterlassen.“ Eigentlich<br />

sind die Leute sogar froh,<br />

dass sich jemand für sie interessiert.<br />

DieEinsamkeit ist kein Widerspruch<br />

zum Mangel an Privatsphäre, stellt<br />

Berg fest, der wenig entgeht. Das ist<br />

wichtig bei dieser unfassbaren<br />

Gleichzeitigkeit vonallem.<br />

Es gibt Gewinner, aber der Gewinn<br />

kommt einem vorläufig vor.<br />

Ein paar haben es bis zum Mars geschafft<br />

und leben dort wie die wohlhabenden<br />

Leute jetzt bei uns hier.<br />

Spielen Golf und so.„GRM“, dessen<br />

Untertitel „Brainfuck“ eher ein ironisches<br />

Schnauben ist (auch die Ironie<br />

macht uns fertig), ist die krasseste,<br />

aber auch gegenwärtigste der derzeit<br />

möglichen Gegenwartsbeschreibungen.<br />

Eine sehr zynische Volte,<br />

dass ausgerechnet das Grundeinkommen<br />

eine so üble Rolle dabei<br />

spielt. Und dass man auch noch<br />

ständig lachen muss beim Lesen.<br />

Das verdammte Lachen, es klingt so<br />

vernünftig und abgeklärt. Aber es<br />

wird uns den Rest geben, wenn wir<br />

so weiter machen, und offenbar machen<br />

wir so weiter.<br />

Die schönsten Seiten<br />

des Frühlings!<br />

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