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Berliner Kurier 26.05.2019

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16 JOURNAL BERLINER KURIER, Sonntag, 26. Mai 2019<br />

den vergangenen Jahren gemacht<br />

hat. Als im Jahr 2001 die<br />

Taliban von der Macht vertrieben<br />

waren, lag das GesundheitssysteminAfghanistan<br />

darnieder.<br />

Lediglich zwanzig Prozent<br />

der Bevölkerung hatten<br />

Zugang zur Gesundheitsversorgung.<br />

Der Bereich psychische<br />

Gesundheit existierte praktisch<br />

nicht. Vor dem Jahr2000 gab es<br />

lediglich ein Krankenhaus für<br />

mental Kranke mit 68 Betten,<br />

abgeschieden weit außerhalb<br />

Kabuls.<br />

Vier Jahrespäter wurde im afghanischen<br />

Gesundheitsministerium<br />

eine Abteilung für mentale<br />

Gesundheit gegründet, auf<br />

Anraten der WHO. Als sich<br />

2007 die Ansicht durchgesetzt<br />

hatte, dass Menschen mit psychischen<br />

Problemen nicht nur<br />

Medikamente wie Antidepressiva<br />

oder Schlafmittel brauchen,<br />

sondern vielmehr psychosoziale<br />

Hilfe, wurde diese in die<br />

medizinische Grundversorgung<br />

aufgenommen. Auch hier<br />

musste von null angefangen<br />

werden, denn das in Afghanistan<br />

herrschende Stigma für psychische<br />

Probleme umfasste<br />

nicht nur die<br />

Patienten, sondern<br />

auchdas Gesundheitspersonal.<br />

Gut 700 psychosoziale<br />

Berater<br />

durchliefen<br />

seither eine einjährige<br />

Ausbildung.<br />

Der Großteil<br />

davonarbeitetnunin<br />

kleinen, ländlichen<br />

Kliniken quer über<br />

das Land verstreut<br />

nebst Ärzten, Hebammen<br />

und Pharmazeuten;<br />

sie sind für<br />

Afghanen gratis zugänglich.<br />

An klinischen<br />

Psychologen,<br />

also Psychologen mit<br />

umfassender Therapieausbildung,<br />

stehen dem 35-Millionen-<br />

Einwohner-Land heute weiterhin<br />

keine 20 zur Verfügung.<br />

Das „Mental Health Center“<br />

in Kabul ist sozusagen der Gipfel<br />

dieses Ausbaus –und der gestiegenen<br />

Akzeptanz für<br />

die Existenz psychischer<br />

Probleme<br />

und einer Anerkennung<br />

der<br />

Notwendigkeit,<br />

diese zu behandeln.<br />

Die Probleme,<br />

mit denen<br />

die Menschen in<br />

das Zentrumkommen,<br />

hingen freilich<br />

mit ihrer aktuellen<br />

„Manche vonuns<br />

kommen mit der<br />

Geschwindigkeit<br />

des Wandels<br />

einfach nicht<br />

mehr mit.“<br />

Rohullah Amin,<br />

Psychologe und Unidozent in Kabul<br />

Lebenslage zusammen,<br />

sagt Quedees.<br />

Es ist eine bunte Mischung<br />

an Afghanen,<br />

die in dem karg dekorierten<br />

Zentrum<br />

mit den vielen weißen<br />

Trennwänden<br />

Hilfe suchen.<br />

Zurückgekehrte Flüchtlinge<br />

müssendamit zurechtkommen,<br />

sich aus dem Nichts wieder ein<br />

Leben aufzubauen. Bei Menschen<br />

aus Regionen mit sehr<br />

schlechter Sicherheitslage dominieren<br />

Themen wie Angst<br />

und Verlust. Ein „wirklich großes<br />

Thema“ imganzen Land<br />

seien aber die Familienkonflikte,<br />

diedurch den Wertewandel<br />

in derGesellschaft hervorgerufen<br />

werden. „Ob wir es wollen<br />

oder nicht“, sagt Quedees und<br />

zieht die Schultern hoch, „wir<br />

sind in Afghanistan in einer<br />

Übergangsperiode von einem<br />

traditionellenzueinem modernen<br />

Land. Und Konflikte liegen<br />

nun mal in der Natur einer<br />

Übergangsperiode.“<br />

Der Wertewandel fordere<br />

Menschen aller Altersgruppen<br />

und aller Bildungsschichten<br />

heraus, Universitätsabgänger<br />

wie Analphabeten. Er habe<br />

nicht nur die städtische Bevölkerung<br />

erfasst, sondern auch<br />

die Menschen in den Dörfern.<br />

„Medien oder Internet kommen<br />

doch überall hin.“<br />

Es ist aber nicht nur die minimale<br />

Zeitspanne, die Afghanen<br />

hatten, um sich mit den neuen<br />

Ideen und Lebensbildernanzufreunden.<br />

Verschärft werden<br />

die Konflikte zusätzlich dadurch,dass<br />

in Afghanistan noch<br />

immer Krieg herrscht. Die ständige<br />

Übererregbarkeit aus früheren<br />

Traumatisierungen –<br />

wenn also Menschen permanent<br />

Angst haben, dass ihnen<br />

vergangenes Leid wieder zustößt<br />

–hält sie in konstanter<br />

emotionaler Anspannung. „Bei<br />

kleinen Änderungen im Familiensystem<br />

kann das dann<br />

schnell inextremes Kontrollverhalten,<br />

Schläge oder sogar<br />

Folter umschlagen“, sagt<br />

Quedees.<br />

Hussein Binish überlegt lange.<br />

„Nein, nein“, winkt er<br />

schließlich ab. Mit seinen Eltern<br />

habe er mittlerweile rein<br />

gar nichts mehr gemeinsam.<br />

Der 27-Jährige, geboren in der<br />

Provinz Daikundi, war im Alter<br />

von 19 mit mehreren Freunden<br />

von seinem Heimatdorf nach<br />

Kabul gezogen, um zu studie-<br />

„Erhebt euch und alles wird gut“: Junge Frau bei<br />

der psychosozialen Beratung in Faizabad.

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