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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 160 · 1 3./14. Juli 2019 3 *<br />
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Report<br />
IM OSTEN GEHT DER<br />
SOMMER AUF<br />
Die Sommerserie der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>,Teil 4<br />
DER KLEINE REISEFÜHRER – EISDORF<br />
Entfernung von Berlin-Alexanderplatz: 205 Kilometer<br />
Dauer der Anreise mit Bahn und Rad: 4Stunden<br />
Zahl der Fremdenzimmer: 6<br />
Einwohnerzahl: 136<br />
Partei mit dem stärksten Wahlergebnis: Bei der Bundestagswahl<br />
2017 bekam die CDU 30,1 Prozent, die AfD 26,9 Prozent.<br />
Jahreshöhepunkte im Ort: das Dorffest im August, der Karneval<br />
Wichtigste Sehenswürdigkeit: romanische Kirche, schön saniert<br />
Kulinarische Spezialitäten: wie überall rund um Leipzig: Eierschecke–ein<br />
Blechkuchen mit Quark und Pudding<br />
Nächste Bademöglichkeit: 15 Kilometer entfernt am Kap Zwenkau<br />
im Strandbad am Zwenkauer See<br />
gilt, 56 immer enger werdende Stufen zu erklimmen.<br />
SybillaSchumann klopft mit dem Fingerknöchel gegen<br />
eine der drei Glocken, undein feiner Tonerklingt, dann<br />
öffnet sie die Fenster. Sie kann zu jedem Haus die Namen<br />
der Bewohner sagte, aber sie kennt auch fast alle<br />
6000 Einwohner von Pegau. „Ich arbeite im Einwohnermeldeamt“,<br />
sagt sie fast entschuldigend.<br />
IV.WIR SIND HEIMSCHEISSER<br />
Nur mit Nähe, Geborgenheit und Vertrauen wächst<br />
eine Gemeinschaft. Das ist es, was Sybilla Schumann<br />
bei den Leipzigern vermisst, die raus aufs Dorf ziehen.<br />
„Das sind schon andereMenschen, die ticken anders“,<br />
sagt sie und lästert ein wenig auf über die Leute vom<br />
„Roten Land“, eine neue Siedlung mit 80 Einfamilienhäusernimnächst<br />
größeren Ort.„Das Erste, was dieauf<br />
ihrem Grundstück errichten, ist eine Hecke oder eine<br />
Mauer“, erzählt sie.„Wirmachen eine Tür in den Zaun,<br />
damit der Weg zum Nachbarn kürzer ist.“ Die Leute<br />
vom„Roten Land“ feiernlieber untereinander ein Sommerwendfest,<br />
gehen aber nicht zum örtlichen Karneval<br />
oder zur Rentnerweihnacht. Und dann wundern sie<br />
sich, dass sie sich fremd fühlen.<br />
Sieerzählt voneiner Ex-Kollegin, die aus Leipzig herzog,<br />
die mit langem Kleid und Stöckelschuhen Knöllchen<br />
an Falschparker verteilte und sich wunderte,dass<br />
sich die Leute hier über ihren Aufzug wunderten. „Sie<br />
hat gesagt: Hier bleib ich nicht lange.Hier sagte ja ständig<br />
jeder zu jedem auf der Straße Guten Tag.“ Sybilla<br />
Schumann schüttelt den Kopf.„Aber dieLeipziger kennen<br />
es nicht anders. Inder Stadt geht man in seine<br />
Wohnung und macht die Tür hinter sich zu.“<br />
Sybilla Schumann erzählt, dass die Mehrheit der<br />
LeuteinEisdorf bleibt,ihreTochter zum Beispiel sucht<br />
ein Grundstück zum Bauen. Sie ist erschrocken, wenn<br />
Naschhausen<br />
Rom<br />
Herzsprung<br />
Eisdorf<br />
BLZ/GALANTY<br />
Nächste<br />
Woche:<br />
Wüstenhain<br />
siehört, dass Kinder einfach wegziehen und Elternoder<br />
Großeltern zurücklassen. „Das gibt es bei uns kaum.<br />
Eine Freundin sagt immer:Wir sind Heimscheißer.“<br />
Es gibt hier einen Willen zur Gemeinschaft, was vielleicht<br />
auch daran liegt, dass viele Leute hier –sowie<br />
Schumanns Eltern –Kohle-Vertriebene sind: Ihre Dörfermussten<br />
verschwinden, als sich die Bagger der Tagebaue<br />
immer weiter durchs Land fraßen.<br />
So ist es auch Walter Eichner ergangen. Der 65-Jährige<br />
wohnte auf einem Vierseithof. Sein Vater musste<br />
einst wegen des einen Tagebaus weichen, die Familie<br />
seiner Mutter wegen eines anderen. Hier in Eisdorfhaben<br />
sie eine neue Heimat gefunden. Und das soll so<br />
bleiben.<br />
IhrHaus wirkt zur Straße unscheinbar,dochder Hof<br />
ist groß, mittendrin steht ein selbst gebauter Backofen.<br />
Gerade lässtdie Familie das Dach derScheune neu decken.<br />
„Das hält jetzt wieder hundert Jahre“, sagt Eichnerund<br />
strahlt.<br />
Sein Schwiegersohn André steht neben ihm und<br />
sagt: „Wir sind hier drei Generationen unter einem<br />
Dach.“ Er und seine Frau, die Tochter des Hauses, haben<br />
drei Jungs. Vorein paar Jahren sind sie hergezogen.<br />
Dasist nichtalltäglich in Zeiten der großen Landflucht.<br />
Denn André stammt nicht aus der Gegend, sondernaus<br />
dem Raum Münster, und er fährt noch immer zur Arbeit<br />
nach Stuttgart. „Aber mir gefällt es hier nun mal<br />
richtiggut“, sagt er.Auchfür seine Söhne ist das Leben<br />
hier toll, der große alte Hof, derSpielplatz vordem Haus<br />
aufdem Dorfanger,den seine Frau mit viel Engagement<br />
beim Bürgermeister durchgeboxt hat.<br />
Walter Eichner, braungebrannt und erst einmal abwartend<br />
wortkarg, ist so etwas wie der bekannteste Eisdorfer<br />
oder besser gesagt: der mit den meisten Auszeichnungen.<br />
Mit seiner Kaninchenzucht gewinnt er<br />
Sybilla Schumann ist im Karnevalsverein<br />
und im Gemeinderat<br />
und macht die Dorfzeitung.<br />
im Schnitt jedes Jahr zwei oder drei Pokale. Erwill gar<br />
nicht so gerndarüber reden, aber dann holt er doch eines<br />
seiner Kaninchen aus der Box imurigen Stall. Es<br />
sind Großchinchillas, graue Tiere mit wunderbar weichem<br />
Fell. Er streicht demKaninchen über denRücken<br />
und pustet lange und gleichmäßig ins Fell. Soentsteht<br />
eine kleines Mulde, und es ist zusehen, dass das Fell<br />
vier unterschiedliche Färbungen übereinander hat.<br />
Eine echte Besonderheit. Sein Enkel züchtet kleine<br />
weiße Zwergwidder,sehr niedliche Tieremit Hängeohren.<br />
Zusammen habensie etwa 60 Kaninchen.<br />
Natürlich haben die keine Namen. Denn auf dem<br />
Dorf ist es nun mal so: Wer einem Tier einen Namen<br />
gibt, schlachtet es nicht mehr. „So was können die<br />
Leute in der Stadt machen, die nur zwei Tiere haben“,<br />
sagt Walter Eichner und erzählt, dass er selbst schon als<br />
Zehnjähriger mit den Tieren undder Zucht anfing, dass<br />
so etwas auf dem Dorfeinfach dazugehört.<br />
In der DDR hat er sich als Kind damit auch ein wenig<br />
Geld dazuverdient. „Heute geht es mir um die Schönheit<br />
der Tiere, aber klar,auch ums Essen“, sagt Eichner.<br />
„Und es geht darum, dass mein Enkelmitmacht. Er soll<br />
mal sagen: Mein Opahat mirdas beigebracht. So etwas<br />
ist wichtig: Sein Wissen muss man weitergeben.“<br />
V. DIE PROBLEME DER ANDEREN<br />
Bei soviel Hang zur Tradition stellt sich die Frage, wie<br />
die Region wählt. Wer 2019 im Osten unterwegs ist,<br />
weiß, dass ein politisch heißer Herbst bevorsteht: In<br />
Sachsen, Brandenburg und Thüringen werden neue<br />
Landtage gewählt –und die AfD könnte überall zweitstärkste<br />
oder sogar stärkste Kraftwerden.<br />
Auch beim Wahlverhalten gibt es klare Stadt-Land-<br />
Unterschiede. ImMai wählte Leipzig ein neues Stadtparlament.<br />
Es siegten Linke undGrüne,die zusammen<br />
auf 42 Prozent kamen. Den Rest teilen sich CDU, AfD<br />
und sechs andere Parteien. Auf dem Land ist es umgekehrt.<br />
Im Raum Pegau erzielten CDU und AfD bei der<br />
Bundestagswahl zusammen 57 Prozent. Aber die Leute<br />
unterscheiden offenbar klar,wie sie ihreStimme einsetzen.<br />
Im Bund wählen die Pegauer mehrheitlich konservativ<br />
und rechts, aber bei der eigenen Kommunalwahl<br />
bekam die AfD nur acht Prozent. Es siegte eine lokale<br />
Wählervereinigung, was Sybilla Schumann freut.<br />
Werimmer mal wieder in der ostdeutschen Provinz<br />
unterwegs ist und den Leuten zuhört, erkennt eine Art<br />
Erklärungsmuster, warum Parteien wie die AfD auch<br />
von Leuten gewählt werden, die keine Rechtsnationalen<br />
sind. In jedem Ort gibt es irgendein Problem, das<br />
wirklich alle nervt: dass kein Bus fährt, dass die Straße<br />
nicht saniertwird, dass es zu vieleWindräder gibt. Doch<br />
nichts ändert sich, egal, wie sehr sich die Leute aufregen<br />
oder was sie unternehmen oder wen sie wählen.<br />
Manche haben das Gefühl, dass niemand ihre Sorgen<br />
hört, dass ihreDörfer dem Sterben überlassen werden.<br />
In der großen Politik, in den Städten und in den Medien<br />
geht es vor allem um die Probleme der anderen:<br />
mal um Flüchtlinge, mal um den nächsten veganen<br />
Trend. Und wenn über die Dörfer geredet wird, dann<br />
wird den Leuten dort vorgeworfen, dass sie zu viel<br />
Auto fahren und so das Klima kaputtmachen oder<br />
dass die Bauern die Bienen töten. Und dann wählen<br />
einige eben Parteien, über die sich die anderen am<br />
meisten ärgern.<br />
Auch in Eisdorf gibt es ein solches Dauerproblem,<br />
über das alle meckern: Es ist ein wenig wie zu DDR-Zeiten,<br />
als die Leute in einem recht grauen Land lebten<br />
und die tolle bunte Welt nur aus dem West-Fernsehen<br />
kannten. Nunsehen die Eisdorfer jeden Taginder Werbung,<br />
dass es dieses superschnelle Internet gibt und<br />
selbst die Kollegen aus dem Nachbardorferzählen von<br />
der neuesten Netflix-Serie.Aber in Eisdorfwirdeinfach<br />
kein schnelles Internet verlegt, und niemand weiß,<br />
warum die Kabel in den Nachbarorten längst im Boden<br />
sind, warum aber die Eisdorfer weiterhin von der modernen<br />
Internetwelt abgeschnitten sein werden.<br />
VI. LUXUSVILLEN UND JACHTHAFEN<br />
„Das mit dem Internet ist wirklich nicht normal“, sagt<br />
Barbara Schmidt. Sie ist 65Jahre alt und hat in Leipzig<br />
noch immer ihrePhysiotherapie-Praxis. 2011 hat sie in<br />
Eisdorf ein altes Lehrlingswohnheim der LPG gekauft.<br />
„Es hat reingeregnet. DasEinzige,was funktionierthat,<br />
war die Kegelbahn.“ Nun hat sie sechs Gästewohnungen<br />
in ihrem Landhotel, das sie Stückfür Stückumbaut.<br />
BarbaraSchmidt ist sich sicher,dass Eisdorfnicht mehr<br />
allzu lange im Niemandsland liegen wird.<br />
Ganz in der Nähe ist der Zwenkauer See, ein gefluteter<br />
Tagebau, eine Perle des Leipziger Neuseenlandes.<br />
Dort, wo einst Kohleaus dem Boden geholt wurde,gibt<br />
es jetzt ein Erholungsgebiet mit Jachthafen,mit Luxusvillen<br />
und mit x-fach höheren Baulandpreisen. „Irgendwann<br />
gehören wir zum Speckgürtel“, sagt sie und<br />
freut sich, dass sie dann ein hoffentlich gut laufendes<br />
kleines Hotel hat. Ihrgefällt es hier.„Keinerlei Kriminalität<br />
und freundliche Nachbarn. Diewollenhier einfach<br />
nicht weg. Die sind so bodenständig. Und feiern können<br />
die.“<br />
Barbara Schmidt, die Leipzigerin, ist angekommen<br />
im Dorf. „Ich habe mich mental längst von der Großstadt<br />
verabschiedet.“<br />
36 Grad, die Hitze steht still, das Leben auch. Kein<br />
Mensch ist auf der Straße,kein Kind auf dem Spielplatz.<br />
Die letzte Radtour geht zu einem Teich, der auf der<br />
Landkarte wie ein Badeseeaussieht. Es ist ein wunderbar<br />
wilder Tümpel, aber baden gehen hier nur Hunde.<br />
Ein Frosch mit tiefer Stimme beginnt ein Wettquaken<br />
mit einigen Artgenossen, die fast wie Enten schnattern.<br />
Zurück im Dorf. Selbst den Hunden ist es zu heiß,<br />
um zu bellen. Die Schwalben aber fliegen im Sonnenuntergangswind<br />
wild und hoch und zwitschern unablässig.<br />
Dann ist es plötzlich ganz still. So still wie es in<br />
einer Großstadt nie ist. Kein Tonist gerade zu hören.<br />
Nur die Gedanken im Kopf rauschen noch. Dörfer<br />
stehen vielleicht für die Vergangenheit, aber sie bleiben<br />
nach der Familie die kleinste Überlebensgemeinschaft<br />
der Menschen.<br />
Undindiesem unscheinbaren Örtchen namens Eisdorf<br />
scheint die Vergangenheit eine Zukunft zu haben.<br />
Weil es Leute gibt, die dieses enge Leben so gewohnt<br />
sind, dass sie es aus tiefem Herzen lieben. Leute, die<br />
auch ohne Netflix glücklich sein können und die nicht<br />
auf die Stechuhr schauen, wenn sie auf den Felderndie<br />
Lebensmittel für die Großstädter anbauen oder Gästezimmer<br />
für sie bereiten.<br />
Jens Blankennagel<br />
hat nach der Rückkehr das Dunkle-Schokoladen-Sorbet-Eis<br />
bei sich um die Eckesehr genossen.