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ZETT-2

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DER SINN DES LEBENS<br />

Heinrich Heine – Fragen<br />

Am Meer, am wüsten, nächtlichen Meer<br />

Steht ein Jüngling-Mann,<br />

Die Brust voller Wehmut, das Haupt voll Zweifel,<br />

Und mit düstern Lippen fragt er die Wogen:<br />

DER SINN DES LEBENS<br />

Im Kernfragennebel<br />

Grafik: Andreas Verstappen<br />

von Arne Bicker<br />

„O löst mir das Rätsel des Lebens,<br />

Das qualvoll uralte Rätsel,<br />

Worüber schon manche Häupter gegrübelt,<br />

Häupter in Hieroglyphenmützen.<br />

Häupter im Turban und schwarzem Barett,<br />

Perückenhäupter und tausend andre<br />

Arme, schwitzende Menschenhäupter -<br />

Sag mir, was bedeutet der Mensch?<br />

Woher ist er kommen? Wo geht er hin?<br />

Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?“<br />

Es murmeln die Wogen ihr ewges Gemurmel,<br />

Es wehet der Wind, es fliehen die Wolken,<br />

Es blinken die Sterne, gleichgültig und kalt,<br />

Und ein Narr wartet auf Antwort.<br />

2<br />

1<br />

Auf dieses Thema kam ich beim Lesen einiger Nachrufe auf<br />

den am 1. Oktober letzten Jahres in Folge eines Verkehrsunfalls<br />

auf Sizilien verstorbenen Boxers Graciano Rocchigiani.<br />

Etliche Medien ließen in den folgenden Tagen das Leben<br />

des schillernden Sportlers Revue passieren und übermittelten<br />

gleich mehrfach dieses Zitat von ihm: „Wat braucht der<br />

Mensch außer Glotze gucken, een bisschen bumsen und een<br />

bisschen Anerkennung.“<br />

Wow, der traute sich was,<br />

dachte ich. Aber was ist eigentlich<br />

mein Lebensmotto, fragte<br />

ich mich plötzlich. Die Frage<br />

nach dem Sinn des Lebens<br />

steckte latent in mir drin; der<br />

Tod Rocchigianis hatte eine<br />

Tür aufgestoßen. Eine schnel-<br />

le Antwort fand ich nicht.<br />

Nachdem am 16. Februar<br />

Bruno Ganz verstorben war,<br />

fand ich in einem Interview<br />

in dem evangelischen Magazin<br />

‚Chrismon‘ einen Absatz,<br />

in dem der großartige<br />

Schauspieler die explizite<br />

Frage beantwortet hatte, ob<br />

das Leben einen Sinn habe.<br />

Ganz: „Nein. Aber mich beschäftigt das auch nicht so. Ich frage<br />

mich eher: Was machst du mit der Zeit, die dir gegeben ist<br />

von Geburt bis Tod? Was machst du mit deiner Begabung? […]<br />

Ich bin froh, wenn ich sagen kann: Ich habe wirklich getan,<br />

was ich konnte, mehr war nicht drin.“<br />

Und wieder fragte ich mich: Was wäre meine Antwort<br />

gewesen? Ich fand die Antwort wieder nicht, dafür ein verständliches<br />

Taschenbuch des<br />

renommierten, britischen Gegenwarts-Philosophen<br />

Julian<br />

Baggini (50) mit dem Titel „Der<br />

Sinn des Lebens“. Die Frage<br />

nach dem Sinn sei eigentlich ein<br />

Platzhalter für mehrere Fragen,<br />

schreibt Baggini, nach dem Warum,<br />

dem Glück, einem höheren<br />

Zweck, dem Eigensinn oder der Hilfe für andere, unter anderem.<br />

Das klingt zumindest nicht allzu geheimnisvoll. Worum<br />

geht es also? Um Erfolg, Glück, Reichtum? Für mich oder ein<br />

paar oder alle Menschen oder auch für andere Lebewesen?<br />

Oder vielleicht um Selbständigkeit oder das Streben nach<br />

Wahrheit? Oder ergibt sich der Sinn allein aus einem gesunden<br />

Selbstvertrauen? Geht es um einen schönen Körper, tollen<br />

Sex? Oder ist das Leben per se sinnlos, weil wir ja eh alle<br />

irgendwann sterben?<br />

Je länger ich las, desto mehr entfernte ich mich von einer<br />

einfachen Antwort. Die Frage lasse sich nicht durch die Entdeckung<br />

neuer Fakten beantworten, so Baggini, vielmehr durch<br />

pures Nachdenken. Und der französische Philosoph Jean-Paul<br />

Sartre meinte, dem menschlichen Leben wohne nicht per se<br />

ein im Voraus festgelegter Sinn inne. Deshalb müsse sich jeder<br />

einzelne der Verantwortung stellen, sich einen Sinn zu<br />

schaffen.<br />

Ist es vielleicht das, was die vielen Flüchtlingshelfer in<br />

Deutschland antreibt? Aber was ist dann der Lebenssinn radikaler<br />

Nationalisten ?<br />

Und was wäre mit einer Maxime, frei nach Kant: Tu, was zu<br />

einem besseren Leben für alle führt? – der maximale Anspruch.<br />

Er ließe sich problemlos in eine Säulenhalle einsortieren zwi-<br />

24 <strong>ZETT</strong>. JULI 2019

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