hinnerk Oktober/November 2019
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Neu ist nicht die Form der Verabreichung<br />
durch ein Implantat. Das wird schon lange<br />
zum Beispiel in der Empfängnisverhütung<br />
eingesetzt. Man bekommt ein etwa<br />
streichholzgroßes Polymer-Stäbchen in<br />
den Oberarm gesetzt, das dann über ein<br />
Jahr die Wirkstoffe abgibt. Gilead arbeitet<br />
aktuell zum Beispiel daran, Tenofovir (in<br />
Kombination mit Emtricitabin als Truvada<br />
bekannt, Anm. d. Red.) als Implantat zu<br />
entwickeln. Das von MSD vorgestellte<br />
Medikament Islatravir dagegen beruht auf<br />
einem völlig neuen Wirkstoff. Interessanterweise<br />
wurde er zuerst in Sojasoße entdeckt.<br />
Was nicht bedeutet, dass Sojasoße vor HIV<br />
schützt! (lacht)<br />
„Eine ganz neue<br />
Wirkstoffklasse“<br />
Ich sehe schon die „BILD“-<br />
Schlagzeile …<br />
Ein großer Vorteil dieses Wirkstoffs ist,<br />
dass er in unglaublich kleinen Dosierungen<br />
ausreichend wirkt. Um das zu veranschaulichen:<br />
Bisher reichen die Tagesdosierungen<br />
von ungefähr 25 Milligramm bis zu<br />
einigen 100 Milligramm. Die notwendige<br />
Tagesdosis von Islatravir wird wahrscheinlich<br />
nur ein halbes Milligramm betragen.<br />
Das ist für eine Depot-Therapie natürlich<br />
sehr vorteilhaft. Die Daten, die auf der<br />
IAS vorgestellt wurden, lassen hoffen,<br />
dass mit dem Implantat tatsächlich eine<br />
Wirkdauer von einem Jahr erreicht werden<br />
kann. Das Medikament ist aber nicht nur<br />
ein neuer Wirkstoff, sondern gehört zu<br />
einer ganz neuen Wirkstoffklasse, den<br />
Nukleosidischen Reverse-Transkriptase-<br />
Translocations-Inhibitoren. Für diese haben<br />
wir noch keine Langzeiterfahrungen,<br />
wie es mit der Verträglichkeit aussieht,<br />
und müssen weitere Studien abwarten.<br />
Es gibt aber ja weitere Depot-Therapieansätze.<br />
Wie ist da der Stand?<br />
Es wird auch mit den bekannten Wirkstoffklassen<br />
an neuen Therapieformen<br />
gearbeitet. Das hat den Vorteil, dass die<br />
Langzeitverträglichkeit der verwendeten<br />
Substanzen gut erforscht ist. Im kommenden<br />
Jahr werden die ersten Depotspritzen<br />
zur Behandlung zugelassen werden. Wir<br />
wissen es noch nicht ganz genau, aber<br />
zunächst werden es wohl monatliche,<br />
eventuell zweimonatliche Spritzen sein.<br />
ViiV Healthcare hat sie mit dem seit Jahren<br />
angewendeten Rilpivirin und dem neuen<br />
Medikament Cabotegravir, einer Schwestersubstanz<br />
des ebenfalls lange verwendeten<br />
Dolutegravir, entwickelt. Cabotegravir wird<br />
übrigens gleichzeitig für die PrEP erforscht,<br />
hier wäre eine dreimonatige Depotgabe<br />
denkbar.<br />
„Da ist noch<br />
Spiel drin!“<br />
Was ist der Vorteil dieser Depot-<br />
Therapien?<br />
Sie bieten einerseits die Möglichkeit,<br />
Patienten zu behandeln, die Schwierigkeiten<br />
mit der Adhärenz haben. Wichtiger<br />
ist aber noch, dass sie hervorragend für<br />
jegliche Umfelder geeignet sind, in denen<br />
die HIV-Infektion nicht bekannt werden<br />
soll. Wo Tabletten nicht auffallen sollen.<br />
Das kann in Gefängnissen sein, in Familien,<br />
wo vielleicht das Kind die Infektion der<br />
Mutter oder des Vaters nicht bemerken<br />
soll. Bei Migranten, die ihre Familie in<br />
religiös besonders strenggläubigen Ländern<br />
besuchen. Bei Flugbegleitern oder anderen,<br />
die beruflich in diese Länder müssen oder<br />
dort ihren Urlaub verbringen wollen.<br />
Wie kommt es, dass wir hier jeweils<br />
nur noch über zwei Wirkstoffe<br />
sprechen? Ist die Dreierkombi ein<br />
Auslaufmodell?<br />
Die Dreierkombi ist einfach historisch gewachsen.<br />
Bei Retrovir in den 1990ern haben<br />
wir gesehen, dass das Virus maximal sechs<br />
Monate brauchte, um sich anzupassen. Mit<br />
zwei Wirkstoffen hat es dann ca. drei Jahre<br />
gedauert, bis das Virus resistent war. Erst mit<br />
der Einführung der Proteasehemmer 1996<br />
gelang es, das Virus dauerhaft unter die<br />
Nachweisgrenze zu bringen, also seine Vermehrung<br />
und damit Anpassungsmöglichkeit<br />
nachhaltig zu unterbinden. Inzwischen sind<br />
wir in der Situation, dass die Medikamente<br />
viel, viel wirksamer sind und wir sehen, dass<br />
drei keine magische Zahl ist. Studien zeigen<br />
sogar, dass die modernsten Protease- und<br />
Integrasehemmer so wirksam sind, dass sie<br />
theoretisch einzeln wirken würden. Das ist<br />
aber nur Theorie und niemand möchte sich<br />
eine Resistenz gegen diese hochwirksamen<br />
Wirkstoffe einhandeln. Für viele Patienten<br />
reichen aber in Zukunft zwei Wirkstoffe aus,<br />
wie bei den eben genannten erwarteten<br />
neuen Therapien. In Deutschland ist mit<br />
Dolutegravir/Lamivudin (Dovato, Anm. d. Red.)<br />
in diesem Jahr schon die zweite Zweierkombination<br />
zugelassen worden, Juluca ist schon<br />
etwas länger auf dem Markt.<br />
Sie haben im Vorfeld auch eine<br />
Infusion angesprochen …<br />
Mit Ibalizumab von Theratechnologies steht<br />
das erste Medikament zur Behandlung<br />
durch eine alle zwei Wochen zu gebende<br />
Infusion kurz vor der europäischen<br />
Zulassung. Es ist speziell für Patienten<br />
entwickelt worden, die wegen Resistenzen<br />
oder Unverträglichkeiten nur wenige<br />
Therapieoptionen haben. Infusionen sind<br />
im Vergleich zur Depotspritze aufwendig,<br />
man kommt an den Tropf, muss warten,<br />
aber: Es wird in Zukunft vermutlich weitere<br />
Medikamente wie dieses geben, deren<br />
Wirkung nicht mehr auf chemischen kleinen<br />
Molekülen beruhen, sondern mit menschlichen<br />
Antikörpern arbeiten. Das ist zurzeit<br />
noch extrem teuer. Die angesprochene<br />
Therapie wird rund 130.000 Euro im Jahr<br />
kosten, allerdings ist sie für betroffene Menschen<br />
(in den USA schätzungsweise 25.000,<br />
Anm. d. Red.) ein lebensrettender Segen.<br />
Bei anderen Erkrankungen hat man die<br />
Verweildauer der Antikörper im Organismus<br />
bereits durch Tricks so weit verlängert, dass<br />
eine halbjährliche Infusion möglich ist. Da ist<br />
noch Spiel drin.<br />
*Interview: Christian Knuth<br />
Auf www.blu.fm/topics/hiv spricht<br />
Siegfried Schwarze im zweiten<br />
Teil dieses Interviews über weitere<br />
spannende Ansätze, wie die eventuell<br />
einmal mögliche Heilung durch eine<br />
Gentherapie und den Stand der Erforschung<br />
eines Impfstoffes.<br />
Siegfried Schwarze ist Vorstandsmitglied<br />
bei Projekt Information e.<br />
V., einem Verein, der HIV-infizierte<br />
Menschen, ihre Freunde, Angehörigen<br />
und Ärzte über Forschung,<br />
Entwicklung und Anwendung von<br />
schulmedizinischen, unterstützenden<br />
und holistischen Behandlungsmethoden<br />
informiert. Im ständigen<br />
interdisziplinären Informationsaustausch<br />
mit Medizinern, Naturheilkundlern,<br />
Psychologen, Therapeuten<br />
und Pflegern entsteht so alle zwei<br />
Monate eine Vereinszeitschrift,<br />
die diese Informationen sammelt.<br />
Zudem schafft Projekt Information<br />
mit POSITIVER RAUM Möglichkeiten<br />
des Austausches und der Vernetzung<br />
HIV-Positiver in ländlichen Gebieten.<br />
www.projektinfo.de<br />
GESUNDHEIT