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2* <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 222 · D ienstag, 24. September 2019<br />
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Tagesthema<br />
Reisen<br />
Der Touristikriese Thomas Cook<br />
geht in die Insolvenz.<br />
Hunderttausende Urlauber sitzen fest.<br />
Der<br />
schlimmste<br />
Fall<br />
VonFrank-Thomas Wenzel<br />
Der geschlossene Thomas-Cook-Schalter auf dem Flughafen von Palma de Mallorca.<br />
AP/FRANCISCO UBILLA<br />
Das Auswärtige Amt hat<br />
eine Krisenvorsorgesitzung<br />
einberufen. Botschaften<br />
und Konsulate<br />
in aller Herren Länder sind in Habachtstellung.<br />
DieRegierung will und<br />
sie muss vorbereitet sein: Eine der<br />
größten Reisegesellschaften der Welt<br />
ist pleitegegangen –und wenn alle<br />
Stricke reißen, muss der Staat gestrandete<br />
Deutsche aus dem Urlaub<br />
irgendwie nach Hause kriegen.<br />
„Wir bemühen uns, Lösungen zu<br />
finden“, sagt die Vorsitzende des Verbandes<br />
unabhängiger selbstständiger<br />
Reisebüros, Maija Linnhoff. Aber<br />
sie sagt auch:„Die Leute wissen nicht,<br />
wie sie nach Hause kommen sollen.“<br />
Es geht um deutsche Urlauber,die bei<br />
dem britisch-deutschen Reisekonzern<br />
Thomas Cook einen Urlaub gebucht<br />
haben und nun auf Sizilien<br />
festsitzen. Auf die Insel wurden sie<br />
von einer Airline geflogen, die nicht<br />
zu dem Reisekonzern gehört, der am<br />
Montag seine Insolvenz erklären<br />
musste.Nun weigertsich die Fluggesellschaft,<br />
die Reisenden zurück nach<br />
Deutschland zu bringen. Womöglich<br />
müssen sie den Rückflug zunächst<br />
aus eigener Tasche bezahlen.<br />
Solche und ähnliche Meldungen<br />
kursierten am Montag in großer<br />
Zahl. Die Lage war chaotisch. Die<br />
Reisebranche erlebt gerade den<br />
schlimmstmöglichen Fall: Den ungebremsten<br />
Absturz eines Giganten,<br />
gegen den das Management nach<br />
Einschätzung von Experten nur unzulängliche<br />
Vorkehrungen getroffen<br />
hat.<br />
Zehntausende Kunden erfuhren<br />
erst aus den Nachrichten, dass das<br />
Unternehmen in die Zahlungsunfähigkeit<br />
gerutscht ist und was das für<br />
sie bedeutet. Oder es wurde ihnen<br />
erst kurzvor Abflug klar.<br />
So wurden an deutschen Flughäfen<br />
Passagiere kurzerhand aus der<br />
Warteschlange am Check in gezogen.<br />
Sie wollten gerade mit Condor,<br />
dem hiesigen Ferienflieger vonThomas<br />
Cook, in den Urlaub aufbrechen.<br />
Doch die Airline darfseit Montag<br />
„aus rechtlichen Gründen“, wie<br />
es heißt, keine Passagiere mehr mitnehmen,<br />
die bei einem Veranstalter<br />
des eigenen Konzerns gebucht haben.<br />
Die Pleite des weltweit zweitgrößten<br />
Tourismuskonzerns kam<br />
zwar plötzlich, aber nur für die Reisenden<br />
unerwartet. Seit Monaten<br />
gab es Warnsignale.<br />
Schwaches Wintergeschäft<br />
Am Sonntag hatte Konzernchef Peter<br />
Fankhauser einen letzten Rettungsversuch<br />
unternommen. Doch er<br />
scheiterte.AmMontagfrüh musste die<br />
britische Muttergesellschaft des Unternehmens<br />
Insolvenz erklären. Es<br />
fehlten letztendlich 200 Millionen<br />
Pfund, was etwa 227 Millionen Euro<br />
entspricht. Diese Summe wäre mindestens<br />
nötig gewesen, um über den<br />
Winter mit seinem schwächeren Reisegeschäft<br />
zu kommen. Doch ein Konsortium<br />
aus Gläubigerbanken lehnte<br />
eine weitere Finanzspritze ab. Auch<br />
die britische Regierung war nicht bereit,<br />
kurzfristig Geld zur Verfügung zu<br />
stellen. Das Management hatte um<br />
150 Millionen Pfund gebeten.<br />
Der hiesige Ableger des Reiseveranstalters<br />
erklärte am Montagmittag,<br />
man sehe sich nun gezwungen,<br />
„auf Notgeschäftsführung“ umzustellen.<br />
Es würden „letzte Optionen“<br />
Thomas Cook<br />
Umsatz<br />
in Millionen Pfund<br />
9809 9584<br />
7810<br />
2011<br />
Nettoschulden<br />
in Millionen Pfund<br />
894<br />
2011 ’15 2018<br />
Mitarbeiter<br />
im Durchschnitt<br />
32 250<br />
’15 2018<br />
40<br />
389<br />
21 263<br />
2011 ’15 2018<br />
Gewinn und Verlust<br />
in Millionen Pfund<br />
518<br />
2011 ’15 2018<br />
Währungsgewinne/-verluste,<br />
in Millionen Pfund<br />
113<br />
2<br />
-3<br />
19<br />
1 9<br />
163<br />
–16<br />
–52<br />
2011 15 2018<br />
Aktienkurs<br />
London Stock Exchange, in Pfund<br />
200<br />
150<br />
189,0<br />
*8:30 Uhr<br />
23. Sept.*<br />
3,451<br />
100<br />
50<br />
0<br />
’11 ’13 ’15 ’17 ’19<br />
BLZ/GALANTY; QUELLE: THOMAS COOK, DPA<br />
ausgelotet. Details wurden nicht genannt.<br />
Doch sollten diese scheitern,<br />
müsse man auch für hiesige Gesellschaften<br />
beim Amtsgericht Anträge<br />
auf Einleitung von Insolvenzverfahren<br />
stellen. Gemeint sind neben der<br />
Thomas Cook GmbH selbst auch<br />
Töchter wie Öger Tours oder Bucher<br />
Reisen. Condor indes firmiert als eigenständiges<br />
Unternehmen und<br />
kann deshalb zunächst weiterfliegen<br />
und Reisende befördern, die nur ein<br />
Flugticket und/oder bei einem Reiseveranstalter<br />
gebucht haben, der<br />
nicht zum Konzerngehört.<br />
Vieles hängt von der Bundesregierung<br />
ab; bei der hat der Ferienflieger<br />
einen Überbrückungskredit beantragt.<br />
Dabei soll es sich nach Informationen<br />
aus Branchenkreisen um<br />
200 Millionen Euro handeln. Die<br />
Lage werde aufmerksam verfolgt,<br />
teilte die Bundesregierung mit. Verbunden<br />
mit dem Hinweis: „Reisenden,<br />
die eine Reise erst noch antreten,<br />
wird empfohlen, sich an ihren<br />
Reiseveranstalter zu wenden.“<br />
Schon 2012 in Bedrängnis<br />
Der Niedergang von Thomas Cook<br />
hat eine lange Vorgeschichte. Das<br />
britisch-deutsche Unternehmen,<br />
der älteste Reiseveranstalter der<br />
Welt, war schon 2012 in schwereBedrängnis<br />
geraten. Wertminderungen<br />
auf dasVeranstaltergeschäft in Großbritannien<br />
und die IT-Systeme<br />
brachten es an den Rand des Ruins.<br />
Damals sprangen Banken ein, stellten<br />
beträchtliche Summen zur Verfügung,<br />
was aber die Verschuldung<br />
massiv erhöhte. Zuletzt wurden Verbindlichkeiten<br />
von 1,6 Milliarden<br />
Pfund mit entsprechend hohen<br />
Zinszahlungen genannt. Der Vorstandhat<br />
in den vergangenen Jahren<br />
einen harten Sparkurs gefahren.<br />
„Doch der führte auch dazu, dass<br />
das Tafelsilber verkauft wurde und<br />
die Geschäfte nicht weiterentwickelt<br />
wurden“, sagt ein Insider.<br />
Unter anderem versäumte das<br />
Management, konsequent in das lukrative<br />
Kreuzfahrtgeschäft einzusteigen.<br />
Jüngst führte ein Überangebot<br />
an Betten in Spanien zu einem<br />
heftigen Preiskampf. Hinzu kamen<br />
die Hitzewellen in Europa, die das<br />
Bedürfnis, in warme Länder zu reisen,<br />
massiv dämmten. Vielen Briten<br />
wurde überdies die Reiselust durch<br />
das immer schwächere Pfund und<br />
die Angst vor den Folgen des Brexits<br />
vermiest. Bei den Banken wuchsen<br />
die Befürchtungen über eine heftige<br />
Schieflage. Viele deutsche Reisebürobetreiber<br />
wurden zunehmend zurückhaltender,wenn<br />
es um Buchungen<br />
bei Cook und seinen Töchtern<br />
ging. Auch Verbraucherschützer<br />
warnten. Dassetzte nach Brancheninformationen<br />
einen Teufelskreis in<br />
Gang,der zu immer wenigerGeldin<br />
der Kasse des Konzerns führte. Die<br />
Airlinesparte litt darüber hinaus unter<br />
den Schwankungen des Kerosinpreises<br />
in Kombination mit einem<br />
massiven Konkurrenzkampf. Vonall<br />
diesen Fährnissen sind beinahe alle<br />
Reiseunternehmen betroffen. „Aber<br />
es hat auch einfach an einem tragfähigen<br />
Sanierungsplan für den Konzern<br />
gefehlt“, erläuterte Marianna<br />
Sigola vonder UniAdelaide in einem<br />
Fernsehinterview. Die Tourismusexpertin<br />
befürchtet nun, dass Thomas<br />
Cook eine Reihe weiterer Unternehmen<br />
in die Tiefe reißen könnte.<br />
VonChristian Schlüter<br />
Thomas Cook<br />
Pauschale Abstinenz<br />
Thomas Cook erfand im 19. Jahrhundert<br />
die Pauschalreise.<br />
HULTON ARCHIVE<br />
Die Idee war und ist bestechend,<br />
zumindest für all jene,<br />
die auf festen Glaubensgründen<br />
stehen: „Menschen mit Menschen<br />
und Menschen mit Gott zu verbinden.“<br />
Thomas Cook wusste genau,<br />
was er wollte, als er, ein baptistischer<br />
Geistlicher aus dem britischen<br />
Örtchen Melbourne, im<br />
Jahre 1841 eine fröhliche Landpartie<br />
organisierte. Der Mann wollte<br />
die Menschen weg vom Alkohol<br />
und hin zu einem gottgefälligen<br />
Leben führen. Eben das war die Geburtsstunde<br />
der Pauschalreise:<br />
Cook organisierte für 570 Aktivisten<br />
der Abstinenzbewegung eine<br />
Eisenbahnfahrt von Leicester ins<br />
nahe gelegene Loughborough zum<br />
Sonderpreis von einem Schilling<br />
pro Person, inklusive Hin- und<br />
Rückfahrt, 3. Klasse ohne Sitzgelegenheit<br />
in offenen Waggons, einer<br />
Schinkenstulle und einem Tee.<br />
Der Mann kam als Wanderprediger<br />
viel herum und unterrichtete<br />
auch in Sonntagsschulen. Seine eigentliche<br />
Mission aber bestand in<br />
einem forcierten Antialkoholismus.<br />
Erwar ein überzeugter Abstinenzler,<br />
seitdem er in seiner Jugend<br />
bei seinem Onkel das Tischlerhandwerk<br />
erlernen und dabei<br />
den Verwandten vor allem als wü-<br />
tenden Trunkenbold kennenlernen<br />
musste.Cook wollte das Suchtübel,<br />
mithin also die Verführung durch<br />
das Böse,aus der Welt schaffen und<br />
erfand die Gemeinschaftsreise zur<br />
Stärkung des hierfür unabdingbaren<br />
Gottesglaubens. Daraus erwuchs<br />
ein eigenes Unternehmen.<br />
Es folgten Exkursionen nach Liverpool<br />
(1845), Schottland (1846) und<br />
zur Weltausstellung in London<br />
(1851).<br />
Allen diesen Reisen, die bald aufs<br />
europäische Festland, etwa nach<br />
Paris, oder ins ägyptische Luxor<br />
oder in 222 Tagen um die ganzeWelt<br />
führten – allen diesen Reisen war<br />
gemeinsam, dass sie vom Reiseveranstalter,also<br />
vonThomas Cook, zu<br />
einem festgesetzten Preis vollständig<br />
organisiert und entsprechend<br />
standardisiert wurden. Die religiösabstinenzlerische<br />
Motivation des<br />
Anfangs sollte bei diesem Geschäftsmodell<br />
alsbald verschwinden.<br />
Es bleibt allerdings die Ironie,<br />
dass die Geburt des Massen- und<br />
Pauschaltourismus aus dem Geiste<br />
des Antialkoholismus erfolgte.<br />
VonGerhard Lehrke<br />
Ratlosigkeit bei Reisenden und<br />
Reisebüros in Berlin und Brandenburg:<br />
Die Pleite von Thomas<br />
Cook lässt Tausende vonUrlaubslustigen<br />
aus der Region, die am Montag<br />
oder Dienstag in die Ferne wollten,<br />
auf gepackten Koffernsitzen. Siehatten<br />
Reisen bei Thomas Cook, Bucher<br />
Reisen, Neckermann und Öger Tours<br />
gebucht und können nicht reisen.<br />
Per SMS erfuhren einige, dass ihr<br />
Trip nicht stattfindet, berichtete die<br />
Mitarbeiterin einer <strong>Berliner</strong> Thomas-Cook-Agentur.<br />
Sie selbst bekomme<br />
von der Deutschland-Zentrale<br />
in Oberursel nichts über das<br />
hinaus mitgeteilt, was im Internet<br />
steht, nämlich dass die Abflüge am<br />
Montag und Dienstag „nicht garantiert“<br />
werden könnten und dass Urlauber<br />
davon absehen mögen, die<br />
Callcenter anzurufen. Telefonisch<br />
sei das Unternehmen auch für das<br />
Reisebüronicht erreichbar.<br />
Werbereits im Urlaub ist und eine<br />
Pauschalreise gebucht hatte, sollte<br />
vor der Abreise einen sogenannten<br />
Berlin<br />
Kein Flug, keine Auskunft<br />
Die Fluggesellschaft Condor hat einen<br />
Überbrückungskredit beantragt. DPA/PLEUL<br />
Sicherungsschein erhalten haben.<br />
Jens Hörnig vom <strong>Berliner</strong> Reisebüro<br />
cube travel erklärt, dass man die Versicherungsgesellschaft<br />
anrufen<br />
muss, die auf dem Schein vermerkt<br />
ist, und den Schaden melden, falls<br />
das Hotel nicht bezahlt war.„DerGe-<br />
samtpreis der Reise ist damit abgesichert“,<br />
sagt Hörnig, „aber nicht<br />
mehr“. Werde die Rückreise gegebenenfalls<br />
teurer, müssten die Reisenden<br />
die Mehrkosten tragen. In jedem<br />
Fall sollte man alle Kosten dokumentieren<br />
und Belege aufbewahren.<br />
Ist die Reise noch nicht angetreten,<br />
hilft bei Pauschalbuchungen der<br />
Sicherungsschein. Schlecht sieht es<br />
aber beispielsweise für Reisende aus,<br />
die Flug undHotel beiunterschiedlichen<br />
Anbieternüber das Internet gebucht<br />
haben. Läuft der Hotelaufenthalt<br />
über Thomas Cook, der Flug jedoch<br />
separat bei einer Gesellschaft,<br />
die nicht zu Thomas Cook gehört,<br />
sind nur die Kosten des Hotels abgesichert,<br />
erläutertHörnig.<br />
Er rät, anhand der Reiseunterlagen<br />
selbst zu forschen, ob Thomas<br />
Cook das Geld an Hotel und Fluggesellschaft<br />
weitergeleitet hat.„Auf den<br />
Internetseiten der Airlines kann man<br />
unter Angabe von Ticketnummer<br />
oder Buchungscodes sowie des<br />
Nachnamens sehen, ob man fliegen<br />
kann.“ Beim jeweiligen Hotel müsse<br />
man gesondertnachfragen.