Anja Matzker.DEKALOG HEUTE
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DAS NEUNTE GEBOT<br />
JENS SPARSCHUH<br />
Entsprechend wären dann die Zehn Gebote genau im Regelzusammenhang<br />
des Alten Testaments wahre Sätze.<br />
Einen etwas anderen Lösungsansatz für dieses Grundproblem<br />
der deontischen Logik wählte weiland Tante Helga, meine mollige<br />
Kindergärtnerin. Mittags etwa hieß es bei ihr anstelle des Gebotes<br />
»Du sollst deine Blumenkohlsuppe aufessen!« einfach: »Der Jens,<br />
der ißt jetzt ganz, ganz lieb seine Blumenkohlsuppe auf«. Damit<br />
war mir der Löffel freier Entscheidung praktisch aus der Hand genommen,<br />
die Sache also fast schon gegessen. Wäre es ein Befehl<br />
gewesen: »Iß endlich auf!«, hätte ich den ja mutig verweigern können.<br />
So aber, durch diese eigenwillige Sprachregelung, wurde an<br />
die Stelle des Gebotes, dessen zukünftige Befolgung durch mich<br />
vielleicht noch ein wenig zweifelhaft war oder sogar zu verhindern<br />
gewesen wäre, bereits der Präsens des vorweggenommenen<br />
Vollzugs gesetzt, nämlich die Aussage: »Der Jens, der ißt jetzt ...«<br />
Ein Satz, der entweder wahr oder falsch sein kann. Versank mein<br />
grauer Alulöffel dann folgsam in den Untiefen dieser furchteinflößend<br />
klumpigen Suppe, machte ich ihn zu einem wahren Satz.<br />
Nahtlos knüpften hier die Gebote der Jungpioniere an. Sie hießen<br />
zwar »Gebote«, doch bediente sich diese Gesetzestafel für die<br />
Allerkleinsten ebenfalls der eben erwähnten Kindergartensprache,<br />
als erstes Gebot stand dort zu lesen: »Wir Jungpioniere lieben unsere<br />
Deutsche Demokratische Republik.« Weiter hinten wurde es<br />
dann sogar noch etwas spezieller: »Wir Jungpioniere singen und<br />
tanzen, spielen und basteln gern«.<br />
In den Zehn Geboten der sozialistischen Moral und Ethik, mit<br />
denen ich es später, im Jugendalter, zu tun bekommen sollte, heißt<br />
es dann zwar, so wie es sich für ein ordentliches Gebot gehört,<br />
»Du sollst«, allerdings von »Häusern« ist dort nirgendwo die Rede<br />
gewesen; Immobilienbesitz stand damals, anders als heute, noch<br />
nicht – beziehungsweise, im Unterschied zum Alten Testament:<br />
nicht mehr – ganz so hoch im Kurs. Dafür ging es um viel grundsätzlichere<br />
Dinge: »Du sollst Dich stets für die internationale<br />
Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen ...« usw. usf.<br />
» ... einsetzen.« Auffällig ist, wenn ich das vergleichen darf, daß es<br />
in diesen Geboten grundsätzlich affirmativ zuging, es baute sich<br />
ausschließlich ein »Du sollst« gebieterisch vor mir auf, während in<br />
den biblischen Zehn Geboten, so auch in der Nr. 9, eindeutig ein<br />
»Du sollst nicht« dominiert.<br />
Bringt uns das jetzt in bezug auf das neunte Gebot (respektive:<br />
auf die Einzelheiten seiner Befolgung oder Nichtbefolgung) wirklich<br />
weiter? Ich fürchte, eher nicht. Und die Logik? Gut, wenn auch<br />
die uns im Stich läßt, weiß sicher die Lyrik eine Antwort.<br />
Nur damit du Bescheid weißt 1<br />
Ich habe die Pflaumen<br />
gegessen<br />
die im Eisschrank<br />
waren<br />
du wolltest<br />
sie sicher<br />
fürs Frühstück<br />
aufheben<br />
Verzeih mir<br />
sie waren herrlich<br />
so süß<br />
und so kalt<br />
Es wird, nehme ich an, sicher kein Verbotsschild am Kühlschrank<br />
geklebt haben mit der Aufschrift: »Es ist streng verboten die Pflaumen<br />
aufzuessen. Zuwiderhandlungen werden bestraft mit ...«<br />
Stattdessen handelt dieser Text von einem moralischen Zwiespalt.<br />
Einerseits: Du hättest die Pflaumen nicht aufessen sollen, denn<br />
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