12.11.2019 Aufrufe

Anja Matzker.DEKALOG HEUTE

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

DAS ZWEITE GEBOT<br />

KATHRIN SCHMIDT<br />

zogen worden, und sechs weitere Wochen darauf kam die Nachricht,<br />

dass er infolge eines Unfalls ums Leben gekommen sei. Im<br />

Lehrlingswohnheim kursierte alsbald die Version, ein Panzer habe<br />

ihm den Schädel zermalmt. Als Birgit Klempenow diese Nachricht<br />

hörte, war sie auf der Stelle in eine tiefe Ohnmacht gerutscht, aus<br />

der ihr erst eine Riechampulle aus dem Erste-Hilfe-Kasten der<br />

Verwaltung wieder aufhelfen konnte. Dass man sie anschließend<br />

ins Ambulatorium gebracht hatte, führte nach einigen Fragen<br />

und Antworten und einer daran anschließenden gynäkologischen<br />

Untersuchung zur Feststellung aller äußeren Anzeichen einer<br />

Schwangerschaft. Man ließ ihre Mutter benachrichtigen, die sie<br />

aus der Kreisstadt abholen sollte. Schweigend waren sie mit dem<br />

Bus nach Hause gefahren, hatten dann schweigend am Tisch gesessen,<br />

mit Großmutter und Vater, als schließlich der Aufschrei<br />

der Mutter, ihre Tochter sei eine Strafe Gottes, über ihnen am<br />

Küchentisch hing und sie alle in ein noch lauteres Schweigen hinein<br />

drückte, aus dem es kein Davonkommen gab. Durch Gott hatte<br />

sich die Mutter schon in vielem gestraft gefühlt. Im Bohnern der<br />

Linoleumböden. Im Jäten der Erdbeerbeete. Im Ertragen der<br />

Kollegin Kobes, die in der Großküche der Kreisstadt für Agitation<br />

und Propaganda zuständig und im Abfragen von Meldungen der<br />

Vorabendnachrichten eine Meisterin war. (Eine Zuträgerin, wie die<br />

Mutter meinte.) Birgit hatte das stets als scherzhaftes Dreinschicken<br />

ins Schicksal verstanden. Die Art aber, in der die Strafe Gottes<br />

an jenem Abend freigesetzt und ihr einverleibt wurde, war von anderer<br />

Qualität gewesen. Birgit Klempenow hatte gespürt, wie die<br />

Bänder, die das Herz im Körper der Mutter hielten, sich dehnten<br />

und wieder zusammenzogen beim Schreien. Es war schmerzhaft<br />

gewesen, wie die Strafe sich anschließend in ihrem eigenen Körper<br />

einnistete. Vor allem aber hatten sich die vormals vollen Lippen der<br />

Mutter mit diesem Aufschrei verändert. Birgit Klempenow hatte<br />

mit ansehen müssen, wie sie schmaler und schmaler wurden und<br />

die Worte, die die Mutter fortan sprach, nicht mehr frei, sondern<br />

stets wie der Zensurschlaufe entkommen in den Raum traten. Das<br />

hatte Birgit Klempenow, für immer, wie sie damals meinte, den<br />

eigenen Mund verschlossen, wenn es um den Vater des Kindes<br />

ging. An Bernhard Scheidemann wollte sie ganz alleine denken<br />

können, er sollte frei bleiben vom Verdikt der Mutter, denn daran,<br />

dass sie nun eine Strafe war, hatte er ja einen nicht zu leugnenden<br />

Anteil. Sie dachte mit einer Leichtigkeit an ihn, die sie immer wieder<br />

verstörte, schließlich war er nicht mehr am Leben und hätte<br />

Trauer verdient, aber trauern konnte sie nicht um ihn. Ihre kurze<br />

Begegnung war von Neugier und Wohlbehagen geprägt gewesen,<br />

danach waren sie einander nicht mehr begegnet, und er wäre als<br />

erste Erfahrung abgehakt worden, hätte sich nicht seine Tochter<br />

aufgemacht, ihn mit seinem achtzehnjährigem Gesicht in Birgit<br />

Klempenows Gedächtnis zu verankern …<br />

Sie ächzte, während sie die Weißwäsche des letzten Vierteljahres<br />

aus dem Kessel hob, um sie in der Zinkwanne zu spülen,<br />

ließ Wasser ein und stukte die Wäsche mit dem alten, hölzernen<br />

Persil-Waschlöffel durch. Ihr Kopf machte sich, ohne von den<br />

Schultern zu rollen, gleich wieder auf, in ganz anderen Zeiten<br />

unterwegs zu sein. Sie dachte an die letzten Monate ihrer Lehre,<br />

die sie vornehmlich im Wohnheim verbrachte, um ihrer Mutter<br />

den Anblick der Strafe Gottes zu ersparen. Manchmal schlich sie<br />

verstohlen zum Friedhof und legte ein Mitbringsel auf Bernhard<br />

Scheidemanns Grab. Je schwerer sie wurde, umso näher kam sie<br />

ihm noch einmal, ehe sie sich zwei Tage vor der Niederkunft im<br />

Guten von ihm verabschiedete.<br />

Ihre Lehre hatte sie erfolgreich beendet und fand sich zur Geburt<br />

ihrer Tochter in der kreisstädtischen Frauenklinik ein. Am<br />

Entlassungstag standen ihre Eltern mit einem großen Rosenstrauß<br />

vor ihrem Zimmer, um sie nach Hause mitzunehmen. Die<br />

Großmutter fragte, ob sich das Obervormundschaftsgericht schon<br />

gemeldet habe. Sie musste sich eine lange Litanei darüber anhören,<br />

dass ein solches Gericht längst aus der Mode gekommen sei<br />

76 77

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!