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Anja Matzker.DEKALOG HEUTE

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DAS ERSTE GEBOT<br />

DAVID WAGNER<br />

Warum fällt es mir denn so schwer, eine Geschichte zum ersten<br />

Gebot zu erzählen? Müsste ich nicht bloß bekennen, wie<br />

viele Götter ich neben ihm hatte und habe? Müsste der Titel dieser<br />

Erzählung nicht lauten: Wie ich einmal andere Götter hatte? Welche<br />

gab es? Ich müsste auspacken. Will ich das?<br />

Ich erinnere mich an den Religionsunterricht in der Schule<br />

und an den Konfirmandenunterricht, die Unterrichtseinheiten,<br />

die sich mit den zehn Geboten befassten. Das erste Gebot, das<br />

verstand der Schüler, ist das Fundament des Monotheismus.<br />

Er behielt auch, dass in diesem ersten Gebot die Erinnerung an<br />

die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten steckt. Gott sagt:<br />

Ich bin für dich da gewesen, ich habe dich aus der Not befreit,<br />

aus Ägypten herausgeführt und vor der Streitmacht der Ägypter<br />

gerettet. Und da ich mich dir gezeigt habe, solltest du keine anderen<br />

Götter neben mir anbeten oder dich in neue Knechtschaft begeben.<br />

Damals, im Religionsunterricht, kam die Frage auf: Welche<br />

anderen Götter haben die Menschen? Welchen Götzen dienen sie<br />

sonst so? Welche anderen Götter habt ihr? Fordert das erste Gebot<br />

nicht noch immer zu dieser Selbstüberprüfung auf? Fordert<br />

es nicht heraus, den eigenen Verblendungszusammenhang zu<br />

durchschauen, all das, was einem wichtiger ist, als Gott zu sehen<br />

und zu benennen? Wenn das so einfach wäre. Abstrakt lässt sich<br />

so leicht sagen, wofür ein Mensch sich freiwillig verknechtet: Geld,<br />

Macht, Schönheit, Erfolg. Oder all das zusammen.<br />

Meine eigene Liste wäre lang. Auf der Liste meiner anderen<br />

Götter müssten stehen: meine Schwärmereien und Verliebtheiten,<br />

das Amüsement, das Ausgehen, das Tanzen, das Schlafen,<br />

mein Tagebuch, die Literatur, das Schreiben (der Text, an dem ich<br />

gerade arbeite oder so angestrengt nicht arbeite), die Kunst und<br />

mein Kind. Oder fällt ein Kind nicht unter die anderen Götter?<br />

Die Isaak-Prüfung, also ich weiß nicht, die würde ich wohl nicht<br />

bestehen. Ich würde mit meinem Kind nicht bis zum Opferaltar<br />

marschieren und es dort festbinden ...<br />

Kam daher meine Scheu, mein Zögern, mein Prokrastinieren,<br />

weil die Selbstüberprüfung, die Selbstbefragung doch ergibt, dass es<br />

einige andere Götter in meinem Leben gibt? Obwohl ich doch weiß,<br />

dass Gott, mein Gott, dieser Gott, an den ich irgendwo doch noch<br />

glaube, mein Kindergott mich aus meinem Ägypten befreit hat?<br />

Ja, muss ich nun einfügen, ich war mal in Ägypten. Mein Ägypten<br />

war das Krankenhaus, das Virchow-Klinikum hier in Berlin, in<br />

dem ich fast zwei Jahre verbracht habe, bald zwei Jahre war ich<br />

dort in Gefangenschaft und manchmal sehr verzweifelt und dann<br />

auch wieder nicht, weil ich immer wusste, jemand ist bei mir, weil<br />

ich immer wusste, einer hat mich nicht verlassen.<br />

Ja, so sehe ich das plötzlich, ich hatte und habe eigentlich immer<br />

einen naiven Kinderglauben. Zu dem gehört es, den lieben<br />

Gott vor dem Einschlafen anzusprechen, nicht jeden Abend, nicht<br />

jede Nacht – wenn aber, dann auch mit der Entschuldigung, dass<br />

ich mich ein paar Tage, manchmal auch Wochen nicht gemeldet<br />

habe. Dass ich ihn nicht angerufen habe (das klingt nach telefonieren),<br />

als es mir gut ging und ich einfach nur hätte Danke sagen<br />

können und ihn ausnahmsweise mal um nichts zu bitten hatte.<br />

Um Schutz, Demut, Kraft, Einsicht oder Beistand. Um Beistand<br />

zum Beispiel für einen kleinen oder größeren Text.<br />

Das Kuriose ist, dass ich heute Morgen aufwachte und eine<br />

kleine Eingebung hatte – göttlich will ich die nun nicht nennen,<br />

das wäre wohl eine Blasphemie. Mir fiel bloß ein, dass ich mich<br />

schon einmal länger mit den Inszenierungen und Selbst-Inszenierungen<br />

erfolgreicher Unternehmer beschäftigt hatte. Mit den<br />

Helden unserer Zeit also, deren Heldengeschichten auf den Wirtschaftsseiten<br />

unserer Tageszeitungen fast jeden Tag erzählt werden.<br />

Über einige Jahre hinweg habe ich biographische Splitter<br />

und Selbstaussagen diverser Wirtschaftsführer gesammelt und<br />

aus diesen kleine Texte geformt, Gedichte möchte ich sie eigentlich<br />

nicht nennen, Dokumentargedichte hat ein Kritiker sie einmal<br />

genannt, ich sage gern Umbruchsprosa dazu.<br />

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