Anja Matzker.DEKALOG HEUTE
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DAS NEUNTE GEBOT<br />
JENS SPARSCHUH<br />
man gerne ging. Die in den letzten Jahren entstandenen Häuser,<br />
die nahezu sämtliche grünen Lücken unterdessen aufgefüllt haben,<br />
weisen zwei ganz unterschiedliche, fast gegensätzliche Merkmale<br />
auf, die aber dennoch einen identischen Effekt haben.<br />
Bei den einen bildet der private Anspruch auf Sonne und Südseite<br />
absolutistisch das Zentrum, sie sind aufgereiht wie Badetücher<br />
am Strand von Ibiza. Das Individuelle zeigt der Öffentlichkeit,<br />
wenn die Straßenseite nun zufällig gerade nach Norden liegt, einfach<br />
nur die kalte Schulter, beziehungsweise den Hintern: Klofensterluken<br />
wie Schießscharten. Gäbe es nicht die Glasaugen der Überwachungskameras,<br />
würde uns hier gar keiner mehr anschauen. Der<br />
Passant geht schnell weiter, und das soll er wahrscheinlich auch.<br />
Bei den anderen haben wir es mit dem Kontrastprogramm zu<br />
dieser Abschottungsstrategie zu tun: Häuser, die ihr Innenleben<br />
geradezu exhibitionistisch ausstellen. Bis zum Fußboden reichende<br />
Fensterfronten lassen den Blick ungehindert in private Wohnund<br />
Lebenswelten eindringen, allenfalls wird er mal von einem<br />
effektvoll plazierten Designermöbelstück aufgehalten. Auch das ist<br />
wenig einladend, verwandelt es doch den zufälligen Passanten in<br />
einen unfreiwilligen Voyeur. Schnell geht er weiter.<br />
Bei beiden Haustypen stimmt das Verhältnis von innen und<br />
außen nicht mehr, der urbane Zusammenhang fehlt. An so etwas<br />
Elementares wie an verbindungsstiftende Sichtachsen, die es früher<br />
gab, denkt heute niemand mehr. Diese unsichtbaren Achsen<br />
machten vieles überhaupt erst sichtbar: Sie verbanden über Distanzen<br />
hinweg Auseinanderliegendes, scheinbar Nichtzusammengehörendes<br />
miteinander. Über den Tellerrand des jeweils Privaten<br />
hoben sie den Blick und gaben ihn frei, indem sie ihn auf etwas<br />
jenseits des unmittelbar diesseitigen »Hier und Jetzt« richteten: auf<br />
einen realen oder imaginären Fluchtpunkt, sie boten eine Perspektive,<br />
vielleicht sogar einen Ausweg, es war, man kann es nicht<br />
anders sagen – eine reine Augenweide. Solche Straßenzeilen<br />
konnte man, Zeile für Zeile, lesen und ihren Sinn verstehen.<br />
Da wir es uns angewöhnt haben, aus dem Antik-Markt der<br />
Geschichte jeweils das herauszuklauben, was uns gerade in den<br />
Kram passt, wird das Diktum vom kleinen Großen Friedrich in unserer<br />
säkularen Zeit oft zu der Formel verkürzt: »Jeder nach seiner<br />
Fasson«; von »Selich« ist da längst keine Rede mehr, und von hier<br />
bis zum unchristlichen »Hauptsache Ich!« ist es dann auch nicht<br />
mehr weit. Dieser despotische Privatglücksanspruch verwechselt<br />
das Toleranzprinzip des Alten Fritzen mit allgemeiner Gleichgültigkeit.<br />
Beneidens- oder gar begehrenswert ist das nicht.<br />
Letzten Sommer, als ich mit dem Rad zum See fuhr, kam ich in<br />
unserem Dorf an einem neuen Haus vorbei. Es ist komplett aus<br />
Holz, blau angestrichen, von der Architektur her sehr einfach, geradezu<br />
minimalistisch, auf den ersten Blick machte es sofort einen<br />
wohnlichen Eindruck. Sein Inhaber ist vielleicht sechs oder sieben.<br />
Ich weiß gar nicht, wie er heißt. Er hält sich gern etwas bedeckt.<br />
Stolz schaut er von oben, durch die quadratische, unverglaste<br />
Fensterluke seines Baumhauses, auf die wenigen Vorübergehenden<br />
herab. Man muß ihn nur in dem festen Glauben lassen, unbeobachtet<br />
zu sein, schon wirft er einem einen Kienappel vor die<br />
Füße oder eben: vor das Rad. Es ist eine Art Kontaktaufnahme, viel<br />
ist in unserm märkischen Dorf im Sommer nicht los.<br />
Um sein luftiges Zuhause da oben, zwischen Himmel und<br />
Erde, könnte ich ihn schon beneiden, allerdings, es ist leider völlig<br />
unerreichbar: viel zu hoch in den Ästen der Kiefer. Ganz abgesehen<br />
vom neunten Gebot, das mir Zurückhaltung auferlegt, ist es<br />
für mich – sehe ich nur die wackelig baumelnde Strickleiter, an der<br />
ich mich so kregel wie sein momentaner Bewohner hinaufschwingen<br />
müßte, und denke ich dabei an meine lädierten Bandscheiben<br />
– absolut und in jeder Hinsicht unerschwinglich.<br />
1 Nur damit du Bescheid weißt von William Carlos Williams<br />
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