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Anja Matzker.DEKALOG HEUTE

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DAS ZWEITE GEBOT<br />

KATHRIN SCHMIDT<br />

sich nichts staue unterwegs. Sie müsse jetzt einsteigen, es gäbe<br />

eine Schlange von Wartenden auf dem Rastplatz… Sprach´s und<br />

legte auf<br />

Birgit Klempenow kannte ihre Tochter und deren Spontaneität.<br />

Dass sie ihren Freund des Hauses verwiesen hatte, war nicht verwunderlich,<br />

er war verheiratet und konnte sich nicht entscheiden,<br />

welcher Frau er den Vorzug geben sollte. Es war ein warmer<br />

Septembertag, trotzdem würde sie die Matratzen nicht auf die Bretter<br />

in der Eibe legen, weil Melanie wohl kaum vor Einbruch der<br />

Dunkelheit eintreffen würde, und dann wäre es kühl und klamm<br />

draußen. Sie freute sich. Hätte Gott sie beobachten wollen, wäre<br />

ihm das Lächeln nicht entgangen, mit dem sie in den nächsten<br />

Stunden einen Quarkkuchen buk, Melanies Bett bezog, die Zimmer<br />

wischte und schließlich gegen Abend die Wäsche von der<br />

Leine nahm, sie drinnen faltete und die zu mangelnden Stücke<br />

beiseitelegte im großen Korb, in dem Melanie die ersten drei<br />

Lebensmonate verschlafen hatte. Sie strich über das Geflecht und<br />

sah ein Neugeborenes darin liegen, ehe sie mit einem Ruck auf sich<br />

zurückkam und ihre Hand nach Melanies letztem Buch angeln<br />

ließ. Die Beginen. Marguerite Porete. Gott durchströmte den Text,<br />

sein Name fiel auf jeder Seite. Melanie, die ihn doch nie gebraucht<br />

hatte!, gebrauchte ihn, um etwas zu sagen, das auf einmal in Birgit<br />

Klempenows Eingeweiden zu rumoren begann. Es zog ihren Kopf<br />

erst einmal noch tiefer in die Schultern und brachte ihre Gedanken<br />

zum Aufstieben, dass sie Mühe hatte, sie zu ordnen. Die Beginen<br />

bedurften Gottes ja auch, um sich unter seinem Namen zu sammeln<br />

wie unter einem Schild, das sie vor Anfeindungen schützen<br />

und in den engen Verhältnissen des Mittelalters zu freierem Leben<br />

verhelfen konnte! Sie alle sagten »Gott«, ohne ihn in jedem Falle<br />

zu meinen … Die eine hatte nach Möglichkeiten gesucht, lesen<br />

und schreiben zu lernen, die andere hatte ihre Weberei nicht anders<br />

zu verkaufen gewusst in der Handwerkswelt der Männer. Sie<br />

hatten sich in Gottes Namen versammelt, ein Stückchen näher<br />

zu sich selbst zu kommen, und sie hatten es womöglich in der Not<br />

getan, keinen anderen Namen zu kennen … Voller Aufregung, die<br />

sie deutlich nicht hätte benennen können, flüchtete sie in kurzen<br />

Schlaf, aus dem sie dreimaliges Hupen weckte: Melanie erreichte<br />

den kleinen Hof kurz vor acht und stellte ihr Auto, einen Kleinbus,<br />

mit dem sie im Sommer lange Touren durch Europa, aber<br />

auch Fahrten mit ihren Studenten in Klöster und Kirchen unternahm,<br />

im gemauerten Schuppen an der Einfahrt ab.<br />

Birgit Klempenow lief hinaus und konnte Freudentränen nicht<br />

verbergen. Über den rückwärtigen Eingang, der direkt in die Küche<br />

führte, trugen sie gemeinsam das Gepäck ins Haus. Melanie<br />

hatte ihrer Mutter eine Waschmaschine mitgebracht, dafür Sitze<br />

des Busses ausgebaut. Sie sagte, dass es ihr egal sei, ob Birgit sie<br />

benutzen würde, allein ihr Vorhandensein beruhige sie, wenn<br />

sie an sie denke. Sie würden sie morgen mit dem Nachbarn ins<br />

Haus tragen. Dass sie sich überrumpelt fühlte, konnte Birgit Klempenow<br />

nicht sagen, vielmehr wurde ihr auf der Stelle klar, dass<br />

so ein Mitbringsel zu erwarten gewesen und im Lauf der Dinge<br />

eine weitere Selbstverständlichkeit war, gegen die sie sich nicht zu<br />

wehren brauchte.<br />

Melanie zeigte keine Zeichen von Müdigkeit, verlangte stattdessen<br />

nach einem Kaffee, den ihr Birgit Klempenow in vertrauter<br />

Manier aufbrühte. Als sie sich in der Küche gegenübersaßen, fühlte<br />

Birgit deutlich, dass ihr das Blut in die Lippen fuhr. Melanie hatte<br />

sie oft und drängend nach ihrem Vater befragt, aber die Lippen<br />

hatten sich nicht öffnen wollen bislang. Birgit Klempenow spürte,<br />

dass sie es heute tun würden, und staunend hörte sie die eigene<br />

Stimme, wie sie begann, vom Hochstand zu erzählen und von der<br />

ersten, einmaligen Begegnung mit dem Jungen, der Wochen später<br />

sterben würde. Dass Melanie sein strohblondes, glattes Haar trüge.<br />

Heute wäre es sicher weiß oder nicht mehr vorhanden, musste sie<br />

denken, und auf der Stelle alterte auch das Bild, das sie im Kopf<br />

herumgetragen hatte wie eine vor allen und jedem verborgene<br />

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