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Anja Matzker.DEKALOG HEUTE

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DAS NEUNTE GEBOT<br />

JENS SPARSCHUH<br />

deine Freundin wollte sie doch fürs Frühstück aufheben, es wäre<br />

also geboten gewesen, die Pflaumen nicht aufzuessen; andererseits:<br />

Sie waren so süß und (sic!) so kalt.<br />

Du sollst nicht ... das scheint zwar auf den ersten Blick schwächer<br />

als ein Verbot zu sein, das von Amts wegen (oder von deiner<br />

Freundin) erlassen wurde und bei Nichtbefolgung mit entsprechenden<br />

Sanktionen belegt ist (zum Beispiel: »Ich rede nie wieder<br />

mit dir!«); auf den zweiten Blick aber ist es stärker, weil es direkt<br />

an ein »Du« adressiert ist (egal, wer sich im Einzelfall hinter dieser<br />

Variablen verbirgt), vor allem aber, weil es mit der rätselhaften Instanz<br />

des Gewissens, eines inneren Richters, verknüpft ist.<br />

In der deontischen Logik waren Gebot und Verbot, ausgehend<br />

vom zentralen Begriff des »Erlaubens«, als gleichrangige Begriffe<br />

auf einer Ebene behandelt worden; es gibt bei von Wright also eine<br />

gewisse Symmetrie: Verbot auf der einen Seite, Verpflichtung oder<br />

Gebot auf der anderen. Hier wird deutlich, daß das Verbot eher das<br />

Außen betrifft, während das Gebot sich an ein Innen wendet; eine<br />

Deutung, die auch mein alter Brockhaus von 1887 nahelegt, wenn<br />

er, Bd. 6, das Gebot als »eine allgemeine Bestimmung dessen, was<br />

ein mit Vernunft und freiem Willen begabtes Wesen thun soll«<br />

bezeichnet. Ein Verbot hingegen gilt für jeden, ob der nun mit Vernunft<br />

ausgestattet ist oder nicht und ob er überhaupt eine Vorstellung<br />

davon hat, was man unter »freiem Willen« verstehen soll.<br />

Nach diesem zielvollen Umweg, der uns über Rußland bis ins Reich<br />

der Logik und schließlich in das der Lyrik geführt hat – in meines<br />

Vaters Hause gibt es eben viele Wohnungen! –, sind wir nun,<br />

glücklich oder auch nicht, dort angelangt, wo wir schon längst hätten<br />

sein sollen, beim Haus, dem eigentlichen Objekt der Begierde<br />

im neunten Gebot. Noch stehen wir etwas unentschlossen davor ...<br />

»Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus«.<br />

Mach ich doch gar nicht!<br />

So wahnsinnig begehrenswert ist, was sich dem staunend durch<br />

die Jetzt-Welt Flanierenden links und rechts der Straße an Häusern<br />

darbietet, nun wirklich nicht. Große Fertighausanbieter werben für<br />

die fragwürdigen Produkte ihres Schaffens übrigens gern damit,<br />

daß sie ihrer Kundschaft ganz individuelle Zuschnitte anbieten – ich<br />

frage mich: Sehen die Dinger deswegen alle so gleich aus?<br />

Am kleinen Backsteinbahnhof unseres märkischen Sommerdorfes<br />

ist der Werbespruch einer Security-Firma angeschraubt, die<br />

sich auf die Bewachung dieser über unserem schönen Landstrich<br />

abgeworfenen Pappkisten spezialisiert hat: »Wir schützen, was Ihnen<br />

heilig ist.« Meines Erachtens ist das etwas übertrieben. Außerdem,<br />

soweit ich das einschätzen kann, ein bißchen blasphemisch.<br />

Und ganz sicher wohl auch ein klarer Verstoß gegen das zweite<br />

sowie gegen das erste Gebot.<br />

Aber gut, betrachten wir jetzt nicht die Katalogfertighäuser von<br />

der Stange, sondern die Maßanfertigungen der Architektenhäuser.<br />

Eine Probe aufs Exempel? Statt zu spekulieren, gehe ich lieber<br />

spazieren. In einigen Gehminuten bin ich am Schloß Niederschönhausen.<br />

In dem hatte Friedrich der Große einst seine Gattin<br />

Elisabeth Christine, mit der er zwangsverheiratet worden war, stationiert;<br />

besucht hat er sie dort nie. Getreu seiner Maxime, die er<br />

1740 an den Rand eines Briefes gesetzt hatte, »... hier mus ein jeder<br />

nach seiner Fasson Selich werden«, wurde er es lieber in Sanssouci.<br />

Im Dunstkreis des Schlosses Niederschönhausen war Anfang<br />

letzten Jahrhunderts ein Villenviertel entstanden – elegant eingefaßt<br />

in ein Straßenoval. Selbst die DDR-Zeit, als ein Teil der Nomenklatura<br />

hier gut bewacht hinter Zäunen und hohen Mauern<br />

wohnte, überstand dieses Ensemble unter dem Tarnnamen »Majakowskiring«<br />

relativ unbeschadet.<br />

Wenn ich heute als Alt-Pankower und, mit Blick aufs nahe<br />

Schloß, als Hofberichterstatter dort entlanglaufe, ringe ich um<br />

Fassung, oder soll ich sagen: um Façon? Früher war es eine Selbstverständlichkeit,<br />

daß die Häuser mit ihrer Paradeseite zur Straße<br />

hin ausgerichtet waren, so entstand ein Straßenbild, durch das<br />

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