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Anja Matzker.DEKALOG HEUTE

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DAS NEUNTE GEBOT<br />

LUTZ SEILER<br />

irgendeinen ätherischen Balsam, der auf der verkrampften Brust<br />

verrieben wurde. Da ich unbedingt schlafen wollte, um am nächsten<br />

Tag etwas zu schaffen – höchstwahrscheinlich drückte ich mich<br />

auf diese Weise aus, beständig fürchtete ich, nicht ausreichend voranzukommen<br />

– schlief ich im sogenannten Spielzimmer, es lag<br />

der Küche schräg gegenüber. Ich schob das Spielzeug beiseite, mit<br />

dem der Teppichboden vollständig bedeckt war, und kroch in ein<br />

von den Kindern aus Decken und Tüchern errichtetes Tipi.<br />

Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber es muss an einem<br />

dieser Abende gewesen sein, als C. beschloss, der Mütteretage zu<br />

entfliehen, und mich bat, ihr dabei zu helfen.<br />

Sie wollte nach Berlin. Meine Wohnung in der Rykestraße war zu<br />

klein, aber C. wollte ohnehin etwas Eigenes, eine eigene Wohnung<br />

war ihr Traum. Sehr zurückhaltend fragte sie mich, ob ich ihr dabei<br />

behilflich sein könne, ob ich wüsste, »wie man das macht«. Zugleich<br />

war von einer bestimmten Gegend die Rede, von einer von<br />

C. offensichtlich bevorzugten Straße, in der zwei ihrer Künstler-<br />

Freundinnen lebten. Es handelte sich um die Sorgestraße im<br />

Stadtteil Friedrichshain, fünf, sechs Stationen die Dimitroff hinunter<br />

mit der Straßenbahn, nur wenige Minuten entfernt von der<br />

Rykestraße.<br />

Mit einem Sack voller Werkzeug auf dem Rücken und ein paar<br />

einfachen Türschlössern, die ich beim Eisenwarenhändler Castorf<br />

in der Pappelallee erworben hatte (Castorf galt als Spezialist für den<br />

Wohnungs- und Hausbesetzerbedarf), bog ich in die Sorgestraße<br />

ein. Die Gegend war heruntergekommen und erschien mir auf besondere<br />

Weise fremd und darin streng, ich kann es nicht anders<br />

beschreiben. Schon der Weg nach Friedrichshain war trist gewesen.<br />

Doch überall hier in den Hinterhäusern gab es die Höhlen, in die<br />

man sich verkriechen konnte, um von dort aus, gut verborgen, der<br />

neuen Welt den eigenen Anteil abzutrotzen: graue, backsteinerne<br />

Höhlen voller Verheißung, die darauf warteten, in Besitz genom-<br />

men zu werden, die genau dafür bestimmt waren – man musste<br />

sie nur erkennen, auf die richtige Auswahl kam es an. Fensterrahmen<br />

ohne Farbe waren gut, möglichst verdreckte Scheiben waren<br />

gut, aber noch keine Garantie. Man durfte nicht voreilig handeln<br />

und nicht nur auf Verdacht. Erste Bedingung: Die Höhle musste<br />

(mit Sicherheit) unbewohnt sein. Es machte keinen Sinn, eine<br />

dieser heruntergekommenen, scheinbar verlassenen Wohnungen<br />

aufzubrechen, wenn dort gerade jemand schlief. Oder wenn sie<br />

von Leuten behaust wurde, die zwischenzeitlich nur einkaufen<br />

waren. Zweite Bedingung: die Mindestausstattung. Wohnungen<br />

ohne Wasseranschluss zum Beispiel waren unbrauchbar. Ein Ofen<br />

musste sein, ein Herd war willkommen.<br />

Behutsam stieg ich die geräumigen, halbdunklen Treppenflure<br />

der Vorderhäuser nach oben und suchte die Fassaden der Hinterhäuser<br />

nach vernachlässigten Fenstern ab. Das bröckelnde Linoleum,<br />

der Geruch nach Bohnerwachs. Zuerst tat es gut, den eigenen<br />

Schritten zu lauschen, ihrem leisen Hall im Treppenhaus.<br />

Dann tat es gut, für eine Weile auf einem Treppenabsatz stehen zu<br />

bleiben, ruhig zu werden, still und abwesend. Es tat gut, die Welt<br />

draußen rauschen zu lassen und im Innersten vollkommen klar<br />

zu sein, ohne einen einzigen Gedanken, nur Flur, Treppe, Licht.<br />

Nur kleines blitzendes Leuchten in einer der winzigen, rund um<br />

die großen Fenster angeordneten Bleiglasscheiben. Traumtief das<br />

kobaltblaue Fensterchen mit dem eingeschliffenen Stern.<br />

Es war schön, von dort durch den oft engen, eher schachtähnlichen<br />

Hof in eine mutmaßlich unbemannte Wohnung zu blicken –<br />

der Umriss einer offenen Tür, der Fetzen eines zurückgelassenen<br />

Vorhangs. Dort sah ich C.s Leben, und ich sah auch mein Leben,<br />

ich sah uns in einem Zimmer bei der Arbeit, ich sah den Tisch, wo<br />

die Zigaretten lagen, wo der Wein stand, wo man sich in Abständen<br />

ein Glas eingoss, nur so, wie jeder wollte, wie es einem gerade<br />

zumute war, der Tisch, an dem man sich zufällig traf, berührte,<br />

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