Anja Matzker.DEKALOG HEUTE
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DAS ZWEITE GEBOT<br />
KATHRIN SCHMIDT<br />
Handtücher, die Unterwäsche oder die am Waschbrett gerubbelten<br />
Röcke und Blusen im Garten flattern sah, stets auf die hinter ihr<br />
liegende Arbeit zurück und konnte sich kaum vorstellen, sie ebenso<br />
zu empfinden, wenn eine Maschine ihr diese Arbeit abgenommen<br />
haben würde. Sie seufzte. Bat dann mit einem scheuen Blick<br />
nach oben, der nicht den Himmel traf, sondern die im letzten Jahr<br />
frisch geweißte Decke der Waschküche, um wenigstens noch ein<br />
paar Jahre am Waschkessel. Es roch so gut hier. Manchmal, wenn<br />
sie Kartoffelklöße herstellte, nach alter Art und Weise, ließ sie die<br />
beim Schleudern aufgefangene Flüssigkeit verdunsten. Kartoffelstärke<br />
blieb übrig, die sie in den letzten Spülgang von Bett- und<br />
Tischwäsche gab. Die steifen Laken wurden nach dem Trocknen<br />
gemangelt. Schon Mutter und Großmutter hatten diese Mangel<br />
benutzt, sie stand neben verschiedensten Gerätschaften im Anbau<br />
des Hauses. Vergangenheiten hatten sich auf Birgit Klempenows<br />
Anwesen versammelt, um hin und wieder fröhliche Urständ zu<br />
feiern. Es gab niemanden, der ihnen dabei hätte zusehen können.<br />
Selbst Gott war ihr nie in Erscheinung getreten, auch wenn sie<br />
ihn hin und wieder um etwas bat. Zwar hatte die Mutter, die<br />
allsonntäglich pünktlich den Gottesdienst aufgesucht hatte, ihr in<br />
der achten Klasse die Möglichkeit einer Konfirmation schmackhaft<br />
machen wollen, immerhin war sie ja auch getauft worden im Jahr<br />
ihrer Geburt, aber das hatte sie abzuwehren gewusst. Sie war mit<br />
großer Selbstverständlichkeit, deren Herkunft eher in den äußeren<br />
denn in den inneren Abläufen ihres Lebens zu suchen gewesen<br />
wäre, der Freien Deutschen Jugend beigetreten, und darin war<br />
kein Platz gewesen für Gott oder das, was ihre Mutter dafür gehalten<br />
hatte. Ihr Vater hatte die Kirchgänge der Mutter nie bekrittelt,<br />
sie aber auch nie begleitet, und Birgit Klempenow hatte das für<br />
ein Zeichen genommen, dass sie nicht verpflichtet war, sich einen<br />
Gott ins Herz zu pflanzen, den sie nicht kannte.<br />
Mit siebzehn aber war sie plötzlich seine Strafe geworden. Birgit<br />
Klempenow zuckte zusammen, wie immer, wenn sie daran dachte.<br />
Das erste Lehrjahr zum Chemiefacharbeiter hatte hinter ihr<br />
gelegen. (Dass sie eine Chemiefacharbeiterin werden würde, wäre<br />
ihr nicht eingefallen damals …) Im Sommerlager der Gesellschaft<br />
für Sport und Technik war ihr ein Mensch begegnet, klamm und<br />
heimlich wie sie selbst. Während eines Manövers hatte sie mit<br />
Bernhard Scheidemann, ein Jahrgang über ihr und somit gerade<br />
ausgelernt, auf einem Hochstand auf die Gruppe zu warten<br />
gehabt, die sich ihnen mit Karte und Kompass hätte nähern sollen.<br />
Sie kam nicht, die Lehrlinge hatten es vorgezogen, im nächstgelegenen<br />
Dorf bei Bier und Bockwurst den Sommer zu feiern, wie<br />
sich hinterher herausstellte. Den ganzen Tag hatte sie mit dem<br />
wortkargen Bernhard Scheidemann die Kanzel gehütet. Er wohnte<br />
nicht im Lehrlingswohnheim der Kreisstadt, weil er dort zu Hause<br />
war. Sie hatten ihren Proviant verspeist, einander vorgelesen,<br />
Radio gehört und plötzlich an der Haut des anderen Gefallen zu<br />
finden begonnen. So gut hatte ihr das getan, dass es ihr beinahe<br />
unwirklich vorgekommen war, was da mit ihr geschah. Die Augustsonne<br />
war am Untergehen gewesen, als sie sich auf den Weg<br />
zurück ins Lager machten. Die Verantwortlichen hatten genug zu<br />
tun gehabt mit den Bierseligen, die sie bei Ausbleiben zu den vereinbarten<br />
Zeitpunkten zu suchen begonnen und nach Hinweisen<br />
eines Mähdrescherfahrers beim Armen Schlucker in Wusseken<br />
gefunden hatten. Die Bestrafung der Delinquenten hatte nicht<br />
sofort vorgenommen werden können wegen deren umnebelten<br />
Bewusstseinszustandes, man hatte Mühe gehabt, sie in einem<br />
großen Gemeinschaftszelt beieinander zu halten. Zu oft mussten<br />
sie begleitet werden zur Toilette oder einfach ins Gebüsch, wenn<br />
der Weg zu weit schien. Deshalb hatte man darauf vertraut, dass<br />
die Außenposten des Manövers von selbst zurückfinden würden<br />
ins Lager. Birgit und Bernhard waren spät gekommen, hatten sich<br />
scheu voneinander verabschiedet und es in der nächsten Zeit nicht<br />
gewagt, auf die Begegnung in der Kanzel zurückzukommen. Drei<br />
Wochen später war Bernhard Scheidemann zum Militär einge-<br />
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