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Anja Matzker.DEKALOG HEUTE

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ERIC UND ANDERE<br />

STIMMEN, SZENEN, BILDER<br />

WALTER THÜMLER<br />

3. März<br />

Das Dorf auf meiner Käseverpackung gibt es nicht. Kein Weg führt<br />

zur Kirche und keiner zum Haus. Die Blumen im Feld sind übergroß.<br />

Niemand ist zu sehen. Es wirkt wie eine Kinderzeichnung:<br />

Das Großempfundene ist groß, das Kleinempfundene klein. Aber<br />

die Zeichnung ist von seltener Perfektion. Es fehlt das Gestrichelte,<br />

die Abwesenheit von rationaler Raumteilung. Die Dinge bleiben<br />

trotz ihrer Gefühlsmaßstäbe im geometrischen Gitter. Stell mir<br />

das Leben dort zuerst wonnig, dann grausam vor.<br />

Ich habe meine Bücher auf den Boden gelegt und aufs Gesicht<br />

gestapelt. So muß ich nicht ihre marktschreierischen Cover sehn.<br />

Aber hinter dem Cover gibt’s vielleicht ein wirkliches Buch. Angst<br />

vor dem Buch? Wer gibt zu, daß er sie hat? Wenn ich so ein wirkliches<br />

Buch jetzt lesen würde, müßte ich mein Leben ändern. Das<br />

Buch würde mich isolieren, mich nicht weiter meiner Gewohnheit<br />

folgen lassen. Stell mir vor, ich nähme das Buch eines Dichters.<br />

Nicht irgendeines Staats- oder Armani-Dichters, sondern eines<br />

Menschen, der in der Sprache sieht und mit der Sprache sehend<br />

macht. Aber solch Text hat es unendlich schwer, in Erscheinung<br />

zu treten. Wie aber, wenn ich trotzdem an das Buch gelangte,<br />

zu jener befreienden Partikularität der Sprache und Leben bezeugenden<br />

Leidenschaft, dem dramatischen Vertauschungsspiel des<br />

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