Anja Matzker.DEKALOG HEUTE
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DAS ERSTE GEBOT<br />
WALTER THÜMLER<br />
Tragischen? Dieses Buch wäre Sieger über mich, aber ein Sieger,<br />
der nicht triumphiert.<br />
Aus dem Bilderbuch<br />
Wie groß deine Augen sind. Die Kinnlinie zeichnet ein weites V und<br />
deine Brauen sind zwei Möwenschwingen. Dein Mund sagt nicht:<br />
»ich möchte oder ich könnte sprechen«, sondern: »es ist nicht<br />
notwendig zu sprechen, wenn aber sprechen, dann kurze und<br />
klare Worte«. Vor deiner Brust hältst du zwischen Daumen und<br />
Zeigefinger einen Kamelienzweig. Du willst etwas vom Duft und<br />
von Farbe erzählen. Stehst ockerfarben in grüngelbweißblauem<br />
Grund. Du weißt, das Leben zieht eine genaue Linie. Nur treffen<br />
wir sie nicht oder nur selten, und dann bloß mit den Kuppen von<br />
Daumen und Zeigefinger. Das Grün des Kamelienzweiges beißt,<br />
neckt, grüßt sich mit den Meer- und Himmelfarben des Grundes.<br />
Der Zweig zweifelt so wenig wie deine Augen oder dein Mund.<br />
Deine Hand ist fast nicht zu sehen. Du blickst keinen Mann an,<br />
kein Kind. Eher schaust du aus dem Fenster, auf Felder, läßt Erinnerungen<br />
vorübergleiten. Schaust bräutlich. Wenn wir nur in<br />
der Begegnung nicht sprechen müßten ... Unser Wort ein Kamelienzweig.<br />
Unsere Augen Erwartung ohne Unruhe.<br />
5. März<br />
Ich bin der Mann mit Pudelmütze und dicker Winterjacke im<br />
Hochsommer, mein Haar ist lang und verfilzt. Ich habe mich lange<br />
nicht gewaschen. Ich rieche schlecht. Ich habe nichts, was man<br />
Zuhause nennt, und will auch nichts so nennen. Ich bin auch der<br />
Mann, dessen Schicksal es ist, Präsident der Vereinigten Staaten<br />
zu werden. Irgendwie war ich von Anfang an dafür bestimmt. Ich<br />
bin der Mann, der viele Jahre im Gefängnis verbrachte und heute<br />
entlassen wird, aber keine Kraft mehr in der Seele hat und schon<br />
damals wenig hatte und darum sich’s mit Gewalt holen mußte und<br />
es jetzt noch mehr tun muß. Ich bin der Familienvater von fünf<br />
Kindern, der einmal die Woche zur Prostituierten geht, weil mir<br />
nichts anderes einfällt, das Leben zu fühlen. Ich bin der Popstar,<br />
der, von seinen Fans gelangweilt, sich in einer Hotelbar betrinkt,<br />
der nur Idol sein kann in einer Währung, deren Kurs er nicht bestimmt.<br />
Ich bin der Mönch auf dem Berg, der sich fragt, ob er nicht<br />
auch den Reichtum und die Ehe erlebt haben müsse. Ich bin der<br />
Schriftsteller, der müde wird an der Schrift und an der Harthörigkeit<br />
derer, für die er zu schreiben meint, der sich fragt, ob das viele<br />
Alleinsein mit den leeren Seiten das Leben ist. Ich bin der Swingerclub-Besitzer,<br />
der sich hinter einer als Spiegel getarnten Scheibe<br />
das Treiben seiner Besucher anschaut und sie verachtet, der<br />
nachts irgendwo eine Frau quält, die gequält werden will. Ich bin<br />
der Erotomane, der sich zwölf Frauen aufs Hotelzimmer bestellt,<br />
sich seinen Phantasien hingibt und Angst vor Aids hat. Ich bin<br />
der Mann, der an das Phantom »Volk« glaubt und dafür ein feindliches<br />
Volk umbringen will, sich mit einem Sprengstoffgürtel in<br />
einen Schulbus setzt. Ich bin der Freund eines Freundes, der gestorben<br />
ist und von dem sich herausstellt, daß er mich bespitzelt<br />
hat. Ich bin der Taxifahrer, der gegen eine Wand fährt, weil seine<br />
Frau ihn verlassen hat. Ich bin der Vater eines Sohnes, der mißbraucht<br />
und ermordet wurde. Immer steh ich an seinem Grab<br />
und muß begreifen, es gibt keine Rache und keine Wiedergutmachung.<br />
Ihr habt eure Art zu widersprechen, ihr Dinge. Wenn ich z.B. das<br />
Seilschloß vom Fahrradlenker nehmen will, hat es sich oft so irrwitzig<br />
in den Seilzügen von Bremse und Gangschaltung verknotet,<br />
daß ich lange brauche, es zu entwirren. Schlimmer noch der blaue<br />
Spannzug, mit dem ich meine Sachen auf dem Gepäckträger<br />
befestige. Fast nie gelingt es mir, beide Enden zu kontrollieren.<br />
Jedesmal neu bin ich verwundert, wie meine Kontrollfähigkeit<br />
von diesem Spannzug überfordert wird oder wie das Seilschloß<br />
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