Anja Matzker.DEKALOG HEUTE
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DAS ZWEITE GEBOT<br />
UWE KOLBE<br />
Herrschers mit dem Gestus der Erlösung war nicht nur sündiger<br />
Ursache, sondern in der Zuwendung zur körperlichen<br />
Präsenz des Sohnes, der selbst Gott ist, sündig obendrein, nicht<br />
wahr? Eines Bürschleins Gebet vor der Jungfrau im Ährenkleid<br />
oder vor der Madonna, der großen, verstehenden Mutter mit dem<br />
Baby auf dem Schoß, oder gar vor der Pieta, sagen wir, in Michelangelos<br />
Version im Petersdom, wo Mutter und Sohn gleichen Alters<br />
erscheinen und damit Romeo und Julia in der Kapelle ihres Todes<br />
ziemlich ähnlich sehen, dieses Bürschleins Gebet könnte ziemlich<br />
erregend gewesen sein. Auf die Sinnlichkeit der Heerscharen von<br />
abgebildeten, sprich erfundenen, von Künstlern der letzten zweitausend<br />
Jahre herbeiphantasierten Verkündigungsengeln sei hier<br />
nur nebenbei verwiesen und, wie sich die Jungfrau zumeist an<br />
dem Büchlein festhält, darin sich gewiss auch schon der Dekalog<br />
findet, denn er gehört ja zum ältesten Katechismus, ist urtümliche<br />
Anleitung zur Frömmigkeit im Alltag.<br />
Eine Fußnote: das Bildnis Moses, wie er die Gesetzestafeln<br />
zertrümmert, von Rembrandt, das in Berlin hängt. Missverständnisse,<br />
Verwechslungen alles. Der Mensch, das schwache und wohl<br />
deshalb phantasiebegabte Geschöpf. Ganze Religionsgemeinschaften<br />
innerhalb der Gattung unübersehbar schwach, ganze Berufszweige,<br />
wie es ausschaut: Die Künstler, ihr Handwerk! Vollstrecker<br />
wie Verursacher der allzu menschlichen Bildersucht, wider das<br />
Bilderverbot aufgestanden von alters, zwischen Dienstbarkeit und<br />
Hybris. Hat nicht das Alte Testament mit seinem Figurenkanon,<br />
mit seinen Geschichten, mit seiner mythologisch angebundenen<br />
Bilderwelt – wenn wir allein an das Paradies und die Vertreibung<br />
daraus denken und an die Bildtradition, die herkommt von den<br />
Nachfahren Adams und Evas und ihren Familiengeschichten:<br />
Abraham und Sara, Jakob und Rachel, Isaak und Rebekka –, hat<br />
nicht die Thora mit ihrer dynamischen Historiographie, mit ihren<br />
Vorväter- und Urmütter-, mit ihren Königs- und Sklaven- und<br />
Traumdeuter-Schicksalen der Kunst einen Schatz an die Hand<br />
gegeben, der seit Generationen gehoben wird? Liegt nicht in den<br />
Büchern der Bibel selbst, von der Erschaffung der Welt im Buch<br />
Genesis bis zu den unerschöpflichen Bildern der Apokalypse des<br />
Johannes, dauernder Quell schönster schöpferischer Sinnlichkeit,<br />
sprich des Übels, gegen das sich das zweite Gebot richtet? Andernorts,<br />
Deuteronomium 27,15, findet sich, so betrachtet, eine Paradoxie,<br />
wenn die Kunstfeindlichkeit auf den Punkt kommt: »Verflucht<br />
ist, wer ein geschnitztes oder gegossenes Bild macht, das<br />
dem Herrn ein Greuel ist, ein Werk von Künstlerhänden, und es<br />
heimlich aufstellt.« Ist hier gemeint, was gesagt ist in dem letzten<br />
Dekalog, der genaugenommen ein Dodekalog ist und vor allem die<br />
Grenzen für den sexuellen Umgang der Menschen untereinander<br />
besonders genau reglementiert? Nur die Orthodoxie der einen oder<br />
anderen Konfession wird sich daran halten. Ist es in diesem Zusammenhang<br />
Zufall, dass das Kunstverbot neben sexuelle Tabus tritt?<br />
Das fragende Verwechseln geht so fort. Aber wenn ich mir ein<br />
Bild mache, habe ich auch eins. Ich tue es ja nicht für Gott. Der<br />
bedarf es nicht. Ich schnitze ein Bild für mich, nicht heimlich,<br />
sondern öffentlich. Wie der Mensch nur ein Gleichnis Gottes ist,<br />
so ist das Bildnis allerdings nur ein Abbild menschlichen Vorstellungsvermögens.<br />
Damit klein. Auch lächerlich. Und wann kommt<br />
die Religion zu mir, dieses Gerüst, das Mose und seine Leute<br />
nicht kannten und verachtet hätten? Die Frage bei den Alten hätte<br />
gelautet: Wann kommt Gott zu mir? Die stelle ich noch nicht,<br />
denn ich durchwandere noch am Stab meines schlichten Bildes<br />
die Welt. Ich grüble noch, während der Gedanke wächst.<br />
Der Altar, den Paulus vorfand und zu dem seines Gottes erklärte,<br />
zu dem des einzigen und umfassenden Gottes, ihn herauslöste<br />
aus dem Henotheismus, zu dem er noch gehörte, wo Zeus<br />
über den anderen Göttern saß, doch in der üblichen Duldung aller<br />
möglicher Konkurrenz, es war der Altar des unbekannten Gottes in<br />
Athen. Paulus hatte das Tor zum einigen Gott gesehen und erkannt,<br />
dasjenige, durch das er die Athener führen könnte. Der dahinter<br />
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