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Anja Matzker.DEKALOG HEUTE

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DAS ERSTE GEBOT<br />

WALTER THÜMLER<br />

18. März<br />

Günther hat eine lange Autofahrt hinter sich. Er hatte Marlies,<br />

seiner Frau, schon per Handy seine Ankunft angekündigt. Darum<br />

ist das Essen fertig, als er zur Tür eintritt. Sie begrüßen und<br />

küssen einander. Marlies fragt, wie der Tag war und ob Günther<br />

müde sei. Ja, er sei müde, aber es ginge ihm gut. Unterwegs habe<br />

er sich sogar noch ein wenig Geld hinzuverdienen können. Er<br />

müsse nur nach dem Essen schnell an den Computer und eine Datei<br />

verschicken. Günther schaltet den Computer schon ein. Marlies<br />

ist neugierig geworden und fragt, was es denn so Dringendes<br />

sei. »Ich erzähl’s dir beim Essen«, antwortet Günther. Die beiden<br />

sitzen jetzt am Familientisch und speisen. Im Hintergrund läuft<br />

im Fernseher ein Musikvideo. Günther beginnt mit halbvollem<br />

Mund zu erzählen: »Auf der Autobahn, in der Nähe von Hannover,<br />

hat auf der Haltespur ein brennender Bus gestanden. Ja, einfach<br />

so dagestanden. Ich habe abgebremst wie all die anderen auch.<br />

Aber dann bin ich nicht an dem Bus vorbeigefahren, sondern<br />

habe hinter ihm gehalten und den Brand mit dem Handy gefilmt.<br />

Du weißt doch, wie gute Aufnahmen unser neues Handy macht. So<br />

bin ich schließlich mit laufender Kamera langsam an dem Bus vorbeigefahren.<br />

Vorne stand ein Mann und hat wild mit den Händen<br />

gestikuliert. Der müßte auch auf dem Film sein. Nach dem Essen<br />

schaue ich mir das Material kurz an und schicke es, sofern es etwas<br />

taugt, ans Fernsehen. So ein Film kostet schon was. Dafür kann<br />

man etwas verlangen.« »Und die Leute«, fragt Marlies, »waren<br />

noch Menschen in dem Bus?« »Das konnte ich nicht genau sehen.<br />

Hinten war alles verraucht. Aber als ich vorbeifuhr, sah ich, daß<br />

der Bus offenbar noch nicht ganz geräumt war. Einige Leute saßen<br />

oder standen auf dem Grünstreifen.« »Und – hast du nicht angehalten?«<br />

fragt Marlies. »Aber Schatz, was hätte ich denn tun<br />

können? In so einem Fall muß man das Helfen den Fachleuten<br />

überlassen. Habe den Unfall gleich übers Handy gemeldet. Was<br />

aber schon etliche vor mir getan hatten.« Marlies hakt noch ein-<br />

mal nach: »Und bist du sicher, daß du nicht helfen konntest?« »Ja,<br />

absolut. Ich hätte mich nur selbst in Gefahr gebracht. Keiner hat<br />

angehalten. Kein einziger Pkw stand bei dem Bus. Hier konnte nur<br />

die Feuerwehr helfen.« »Aber Günther, wir haben doch einen Feuerlöscher<br />

im Auto!« »Das ist mir später auch eingefallen. Aber was<br />

willst du mit so einem Ding gegen einen brennenden Bus ausrichten?<br />

Sei vernünftig, Marlies, und beruhige dich. Es ist alles in Ordnung.<br />

Du weißt doch, wie ich solche Situationen auf der Straße<br />

hasse. Immerhin habe ich den Film, und den schick ich gleich ab.<br />

Mal sehn, was sie zu zahlen bereit sind.« »Aber Günther, ich find’s<br />

irgendwie furchtbar.« »Man darf nicht so empfindlich sein, wenn<br />

man sich um jeden Cent prügeln muß«, versetzt Günther. »Ich<br />

weiß nicht, wie viele vor mir und nach mir Aufnahmen von dem<br />

Bus gemacht haben. Sah übrigens aus wie so ein typischer Oma-<br />

Bus, du weißt schon, Kaffeefahrten und so weiter. Wahrscheinlich<br />

hat eine von den Alten mit Feuer gespielt. Nun aber genug davon.<br />

Nachdem ich den Film abgeschickt habe, machen wir’s uns gemütlich.<br />

Du kannst schon den Wein hinstellen.« »Wenn du meinst«,<br />

lächelt Marlies ihm nachdenklich und zögerlich zu.<br />

16. April<br />

Beim Verlassen der Wohnung sehe ich im Treppenhaus einen<br />

Schmetterling. Er ist offensichtlich durchs kleine Klappfenster,<br />

das ins Hauptfenster eingelassen ist, hereingekommen. Nun sitzt<br />

er dort und kann nicht hinaus. Ich gehe eine Halbtreppe hoch. Da<br />

sich das große Fenster nicht öffnen läßt, lege ich meine Handfläche<br />

über den Schmetterling, ihn so in Richtung kleine Fensteröffnung<br />

zu treiben. Aber er flattert um meine Hand herum und setzt<br />

sich oberhalb ihrer wieder auf die Scheibe. Leicht wäre es, ihn mit<br />

zwei Fingern an den Flügeln zu packen. Aber danach wären seine<br />

Flügel zerstört. Jetzt treibe ich ihn mit zum Zelt geformten Händen<br />

in Richtung Fensteröffnung. Er wird Todesängste ausstehen. Aber<br />

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