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ABSTURZ UND AUFSTIEG

Von einem Tag auf den anderen stand Ingeborg Ankele auf der Straße. Drei Monate lang

kämpfte sie um Sicherheit und Einkommen, bis sie ihre nunmehrige Arbeit beim Unternehmen

Shades Tours fand. Heute wäre sie vorbereitet.

Text: David Hanny

Fotos: David Visnjic

Nach der Trennung von ihrem damaligen Freund zog Ingeborg Ankele (Mitte) aus der gemeinsamen

Wohnung aus – mit bösen Konsequenzen. „Als die Haustür ins Schloss fiel, wusste ich: Jetzt bin ich

obdachlos.“ Ähnlich wie Ingeborg erging es in Österreich weiteren rund 16.000 Obdachlosen.

Wenn Ingeborg Ankele von

ihrer Zeit als Obdachlose

erzählt, tut sie das mit einer

Sachlichkeit, die man von

einer Betroffenen nicht erwarten würde.

Ihre „Krise“ liegt eineinhalb Jahre zurück,

dennoch wirkt sie ruhig. Als wir sie treffen,

lehnt sie in grünem Trägershirt und

dunkler Stoffhose an einem Brunnen in

der Wiener Innenstadt.

Ankele ist Tourguide bei Shades

Tours. Das Unternehmen bietet Führungen

an, im Zuge derer Interessierten

erklärt wird, was es heißt, obdach- und

wohnungslos zu sein. An diesem Septembertag

hat sich eine Gruppe von insgesamt

15 Leuten um sie versammelt.

Ankele erzählt detailreich von Hintergründen,

Gefahren, Alltagsgeschichten

und dem österreichischen Sozialsystem.

Dass sie jemals obdachlos sein würde,

hätte sie selbst nie gedacht, sagt sie.

Bis Februar 2018 lebt Ankele mit

ihrem damaligen Freund zusammen – zu

diesem Zeitpunkt dauerte die Beziehung

bereits zwölf Jahre an. Eines Sonntagabends

ist sie dann aber plötzlich zu

Ende: Nach einem Streit emotional aufgeladen

zieht Ankele aus. Ersparnisse

hat sie keine – und ihr Einkommen als

Fußpflegerin hat sie in die Renovierung

der gemeinsamen Wohnung investiert.

„Als die Haustür ins Schloss fiel,

wusste ich: Jetzt bin ich obdachlos“,

erinnert sie sich. Zu Freunden oder der

Familie will sie nicht, sie schämt sich

zu sehr. Stattdessen macht sich Ankele

zur Gruft auf, einer Betreuungseinrichtung

für Obdach lose der Wiener Caritas.

Dort bekommt sie ein Bett für die Nacht

und Beratung von Sozialarbeitern. Was

passiert ist, realisiert sie jedoch erst am

zweiten Tag. Die folgenden drei Monate

verbringt sie in Notschlafstellen und

Tageszentren für Hilfsbedürftige. Sie erlebt

viele Tiefs und wenige Hochs. Trotz

der schwierigen Situation versucht sie,

sich zu engagieren, bringt sich bei der

Verwaltung der Kleiderspenden in der

Gruft sowie der dortigen Essensausgabe

ein. Nach drei Monaten ohne Dach über

dem Kopf bekommt Ankele ein Bett in

einem der 21 Übergangswohnheime in

Wien. Doch nun wartet die noch größere

He rausforderung auf sie: Sie muss eine

eigene Wohnung finden. Nur mit Sozialhilfe

und ohne Job sei das fast unmöglich,

so Ingeborg Ankele.

Über ihren Bekanntenkreis erfährt

sie vom Unternehmen Shades

Tours, das Gründerin Perrine Schober

2015 ins Leben gerufen hat. Shades Tours

bietet Stadtführungen zu den Themen

„Armut & Obdachlosigkeit“, „Flucht &

Integration“ sowie „Drogen & Sucht“.

Das Ziel: Aufklärung anhand persönlicher

Geschichten und Fakten. Nach

etwas Training und mehreren Anläufen

wird Ankele zum Tourguide. Seit einem

Jahr führt sie nun monatlich Gruppen

durch die Wiener Innenstadt und erklärt,

was sie in ihrer Zeit als Obdachlose

erlebt hat. Sie ist geringfügig angestellt,

verdient knapp über 400 € pro Monat –

zusätzlich bekommt sie Notstandshilfe.

Seit zwei Monaten lebt sie in Wien-

Simmering.

Geldmangel, Unwissenheit

Die Art und Weise, wie Ingeborg

Ankele obdachlos wurde, ist kein Einzelfall:

Von den 16.000 Obdachlosen, die es

laut Schätzungen von Shades Tours und

des Fonds Soziales Wien (FSW) in Österreich

gibt, sind laut einer repräsentativen

Befragung des FSW 32 % auf eine plötzliche

Trennung oder Scheidung zurückzuführen.

Einzig Arbeitslosigkeit und

Geldmangel sind mit 42 % noch weiter

verbreitete Gründe für Obdachlosigkeit.

26 % sind zu leichtsinnig mit Geld umgegangen,

und bei mehr als je einem Fünftel

war die physische oder psychische

Gesundheit mit ein Grund. Besonders

gefährdet seien dabei Menschen über 50,

die keinen neuen Job mehr finden, sowie

junge Menschen unter 30, die Schwierigkeiten

mit dem Elternhaus oder ihrer

Ausbildung haben. Auffallend ist auch

das Geschlechterverhältnis: Drei Viertel

der Obdachlosen sind laut den Daten von

Shades Tours Männer, nur ein Viertel

sind Frauen. Dies sei laut Ankele darauf

zurückzuführen, dass Frauen oft in sogenannter

„versteckter Obdachlosigkeit“

leben und damit nicht erfasst würden.

Versteckte Obdachlosigkeit heißt, dass

die Person zwar nicht gemeldet ist, aber

dennoch nicht auf der Straße lebt, sondern

in einer Wohnung – nicht selten in

Form einer Zweckbeziehung. Ankele sei

während ihrer Obdachlosigkeit selbst

mehrmals von unbekannten Männern

angesprochen worden, ob sie für ein Bett

in einer Wohnung nicht putzen und kochen

würde, erzählt sie.

Dass solche Tatsachen kaum

kommuniziert werden, stört Perrine

Schober, Gründerin von Shades Tours.

„In der Schule waren Armut und Obdachlosigkeit

nie ein Thema“, meint

sie. „Und dann ist man als erwachsener

Mensch plötzlich damit konfrontiert.“

Daher gründete sie im Jahr 2015 Shades

Tours – das Prinzip der Obdachlosentour

kannte sie dabei bereits aus anderen

europäischen Städten wie Barcelona

oder London. Trotz des klaren Bildungsauftrags

und der sozialen Komponente

ist Shades Tours ein ganz normales

Unternehmen, dessen Mitarbeiter und

Tourguides eine Dienstleistung erbringen.

Die Tätigkeit bei Shades Tours soll

in erster Linie dabei helfen, zusätzliches

Geld anzusparen, um wieder unter ein

Dach zu finden. Zu den elf Guides kommen

noch drei Büroangestellte in der

Administration, einer davon war einst

selbst Tourguide.

Fluch und Segen

Vor der Gründung von Shades

Tours war Schober bei der Französischen

Zentrale für Tourismus in Wien

angestellt – und obwohl sie wusste, dass

der Schritt in die Selbstständigkeit kein

einfacher sein würde, war der Umstieg

hart. Schober drehte jeden Cent zweimal

um, was so weit ging, dass sie vor jedem

Arztbesuch überlegte, ob er nun wirklich

notwendig war, denn schließlich kostet

er Zeit und Geld (Selbstbehalt).

„Im ersten Jahr stand wirklich

nur das Unternehmen im Vordergrund,

mich selbst habe ich dabei oft vernachlässigt“,

meint sie. Am Ende habe es sich

aber ausgezahlt. „Wir schreiben heuer

voraussichtlich schwarze Zahlen, und

mittlerweile nehme ich mir auch wieder

regelmäßig Urlaub.“ Wenn die Nachfrage

nach den Touren gleich bleibt, wird

Shades Tours dieses Jahr zwischen

100.000 und 150.000 € Umsatz machen –

das sei zwar nicht viel, decke aber die

Kosten, so Schober. Seit der Gründung

vor dreieinhalb Jahren nahmen 30.500

Personen an Shades-Tours-Führungen

teil. Ihren Guides bietet Shades Tours

vor allem eines: eine Perspektive. Genau

daran mangelt es vielen Obdachlosen

laut Schober nämlich. Und das bringt

sie in eine Abwärtsspirale, aus der sie

nur schwer wieder ausbrechen können.

„Man muss wirklich sagen: Es gibt Hoffnung,

es zahlt sich aus“, so Schober. Damit

es gar nicht erst zu einer prekären

Situation kommt, sei auch der soziale

Rückhalt wichtig: „Ein guter Kontakt zu

Familie und Freunden kann viel verhindern.

Und am allerwichtigsten ist, mit

Sozialarbeitern zu reden.“

Die Erfahrung, dass es ohne Hilfe

von außen nicht geht, hat auch Ingeborg

Ankele gemacht. Nur dank der Hilfe von

Sozialarbeitern bekam sie ihren Platz

im Übergangswohnheim. Und der gab

ihr wiederum ein Ziel: eine eigene Wohnung.

Ohne eine gewisse Sicherheit sei

Sparen in der Obdachlosigkeit unmöglich,

meint Ankele. Heute legt sie regelmäßig

etwas Geld beiseite; auf eine unerwartete

Trennung wäre sie vorbereitet.

In Zukunft möchte sie neue Tätigkeiten

übernehmen und nicht mehr nur Tourguide

sein. Was sie aus den vergangenen

zwei Jahren gelernt hat? „Man muss auf

das Unerwartete vorbereitet sein.“ Und:

„Man darf sich niemals selbst aufgeben –

ganz egal, wie schlimm die Situation erscheint.“

D A I L Y SHADES TOURS

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