Berliner Kurier 24.11.2019
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
14 JOURNAL BERLINER KURIER, Sonntag, 24.November 2019<br />
sprechen, weil sie von der Politik<br />
alleingelassen werden und<br />
den Löwenanteil in der Pflege<br />
selbst schultern, oft auf eigene<br />
Kosten. Die pflegenden Angehörigen<br />
sind der größte Pflegedienst<br />
der Nation. Würde man<br />
sie besser unterstützen, hätten<br />
wir keinen Pflegenotstand.“<br />
Es war im November 2007.<br />
Ruth Schneeberger kam von einer<br />
Party und sah, dass ihre<br />
Mutter angerufen hatte. Die<br />
Tochter solle sich bitte melden.<br />
Als Ruth Schneeberger sie danach<br />
nicht erreichte, nahm sie<br />
den nächsten Flieger an den<br />
Niederrhein. Dort lebte ihre<br />
Mutter, die sich in der politisch<br />
tiefschwarzen Region für die<br />
Grünen im Stadtrat engagierte,<br />
sich um Obdachlose, Bedürftige,<br />
Tiere und die Umwelt kümmerte.<br />
Die rigoros die Grünen<br />
verließ und eine eigene Öko-<br />
Partei gründete, als Joschka Fischer<br />
2003 Ja zum Irak-Krieg<br />
sagte.<br />
Die Tochter: „Ihr Lebensmotto<br />
war von Erich Kästner: ,Es<br />
gibt nichts Gutes, außer man<br />
tut es’.“ Sie lächelt.<br />
Sie und ihr Bruder seien bei<br />
einer kämpferischen, mutigen<br />
und von starkem Gerechtigkeitssinn<br />
geprägten Löwen-<br />
Mama aufgewachsen, die sehr<br />
liebevoll und lustig gewesen<br />
sei: „Sie war ein echtes kölsches<br />
Mädchen: gesellig und<br />
mit viel Humor.“<br />
Es brauchte damals, in jenem<br />
November, viel Geduld, ihre<br />
Mutter zu überreden, sich in<br />
ein Krankenhaus fahren zu lassen.<br />
Die damals 61-Jährige<br />
wehrte sich.<br />
Irgendwann landeten Tochter<br />
und Mutter in einem Krankenhaus,<br />
das in der Region einen<br />
schlechten Ruf genoss,<br />
schildert die Autorin in ihrem<br />
Buch.<br />
Und Ruth Schneeberger<br />
stand wenig später fassungslos<br />
vor den Ärzten, die ihre Mutter,<br />
die unübersehbar einen<br />
Schlaganfall erlitten hatte, wieder<br />
wegschicken wollten und<br />
sich beschwerten, dass diese<br />
nicht reden konnte.<br />
Sie schüttelt empört den<br />
Kopf: „Sie behandelten uns, als<br />
wären wir dort eingedrungen<br />
und hätten unter vorgehaltener<br />
Schusswaffe Absurditäten<br />
eingefordert.“<br />
Das war nicht das einzige<br />
Mal.<br />
Außerdem habe es immer<br />
wieder Fehldiagnosen gegeben.<br />
Ihre Mutter sei falsch oder<br />
gar nicht behandelt worden.<br />
Als Ruth Schneeberger nach<br />
dem Tod ihrer Mutter in der<br />
Einäscherungshalle stand,<br />
dachte sie: „Mit der Leiche<br />
meiner Mutter haben sie sich<br />
Mühe gegeben, mehr als mit ihrem<br />
kranken Körper, als sie<br />
noch lebte.“<br />
Im Juni 2018 schrieb Ruth<br />
Schneeberger das erste Mal einen<br />
Artikel über ihre Pflegezeit.<br />
Darüber, wie die Pflege zu<br />
Hause das Leben ihrer Mutter<br />
zehn Jahre verlängert hatte,<br />
obwohl die Ärzte ihr anfangs<br />
nur ein halbes Jahr gegeben<br />
hatten.<br />
Und darüber, wie sich die<br />
Pflege in Deutschland<br />
Angaben in Millionen<br />
4,0<br />
3,5<br />
3,0<br />
2,5<br />
2,0<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
0<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
0<br />
Pflegebedürftige *<br />
2,0 Mio.<br />
2007<br />
Beschäftigte in Pflegeeinrichtungen/bei Pflegediensten<br />
0,8 Mio.<br />
0,6<br />
0,2<br />
1,4<br />
0,7<br />
09<br />
*Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung<br />
11<br />
Ruth Schneebergers Mutter liebte<br />
es, wenn ihreTochter sie durch<br />
Münchens Einkaufsstraßen fuhr.<br />
Rollen verteilten: „Ich wurde<br />
die Mutter, sie die Tochter.“<br />
Und sie habe in der Zeit ihre<br />
Angst vor dem Tod verloren,<br />
sei inzwischen davon überzeugt,<br />
dass es falsch sei, Krankheit<br />
und Sterben zu tabuisieren.<br />
„Ohne diese Angst lebt<br />
man viel gelassener.“<br />
Das Echo, das sie auf den Artikel<br />
bekam, überraschte sie.<br />
Zahlreiche pflegende Angehörige<br />
schrieben ihr, bedankten<br />
sich für die offenen Worte. Und<br />
fast alle beklagten ebenso die<br />
Pflegereform<br />
Datennoch<br />
nicht verfügbar<br />
Stand jeweils am Jahresende<br />
rundungsb.Differenzen<br />
30934 Quelle: Bundesgesundheitsministerium<br />
„Mit der<br />
Leiche meiner<br />
Mutter haben<br />
sie sich Mühe<br />
gegeben,<br />
mehr als mit<br />
ihrem kranken<br />
Körper, als sie<br />
noch lebte.“<br />
insgesamt ambulant stationär<br />
13<br />
15<br />
1,1<br />
2,7<br />
2,0<br />
16<br />
3,3<br />
2,5<br />
17<br />
1,2<br />
0,7 0,8<br />
0,4<br />
0,8 0,8<br />
0,4<br />
3,7<br />
2,9<br />
18<br />
Zustände, die Überforderung<br />
und dass die Pflege sie arm gemacht<br />
habe. Darunter waren<br />
auch Männer.<br />
Ruth Schneeberger nickt. „Ja,<br />
das ist das nächste Problem.<br />
Pflege kann auch arm machen.“<br />
Auch sie erhielt unentwegt<br />
Mahnungen von nicht bezahlten<br />
Pflegediensten. Oft bearbeitete<br />
die Kasse die Anträge<br />
nicht zeitnah, überwies das<br />
Geld nicht. „Irgendwas war immer“,<br />
sagt sie. Ruhe sei anders.<br />
Sie lacht.<br />
Nach dem Artikel lud man sie<br />
in die TV-Talk-Runde „Hart<br />
aber fair“ ein. Sie freute sich, an<br />
die Politik appellieren zu können.<br />
Doch sie konnte lediglich<br />
schildern, wie glücklich sie mit<br />
der Pflege und wie überfordert<br />
sie gleichzeitig von der Bürokratie<br />
gewesen sei.<br />
Und dass sie das Glück hatte,<br />
dass ihr Bruder Anwalt war.<br />
„Der hat sich durch dieses Behördendickicht<br />
gekämpft, ansonsten<br />
hätten wir das nicht geschafft.<br />
Es ist ein Unding, dass<br />
man keinen Angehörigen pflegen<br />
kann, ohne einen Rechtsanwalt<br />
an seiner Seite zu<br />
haben“, beklagte sie in der Sendung.<br />
Es blieb gerade noch die Zeit,<br />
sich direkt an Bundesgesundheitsminister<br />
Jens Spahn zu<br />
wenden, der ebenso in der<br />
Runde saß. Warum nie über die<br />
pflegenden Angehörigen geredet<br />
werde? „Was tun Sie für<br />
die?“, fragte sie den CDU-Politiker.<br />
Der Minister blickte betroffen<br />
zu ihr rüber. Eine wirkliche<br />
Antwort habe sie nicht erhalten,<br />
sagt sie. „Ich wundere<br />
mich, dass es keinen Aufstand<br />
der Angehörigen gibt. Denn so<br />
geht es in unserem Pflegesystem<br />
nicht weiter. Vor allem organisatorischer<br />
und finanzieller<br />
Art.“<br />
Demnächst ist sie bei Markus<br />
Lanz eingeladen. Sie freut sich<br />
darauf. Anne-Kattrin Palmer<br />
Fotos: Sibylle Fendt/OSTKREUZ, dpa (Grafik)