02.12.2019 Aufrufe

reisen EXCLUSIV - Winter 2019/20

Fernweh 2020 Australien Manitoba Florida El Salvador Costa Rica Island Grönland Südkorea Japan Mosambik Hoteltipps Gewinnspiele

Fernweh 2020

Australien
Manitoba
Florida
El Salvador
Costa Rica
Island
Grönland
Südkorea
Japan
Mosambik
Hoteltipps
Gewinnspiele

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN
  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

ASIEN | Japan<br />

M<br />

Mit ihren filigranen Fingern fährt sie an der Kante der Box entlang,<br />

macht bei dem kleinen Metallhaken halt und klickt den Verschluss auf.<br />

Beide Hände heben den Deckel ab, das glatte Holz klappt so auf, dass<br />

es meine Sicht auf das Innere verdeckt. Aus einem seidenen Tuch, bestickt<br />

mit Blumenmuster, rollt sie vorsichtig zwei dünne Essstäbchen<br />

aus Bambusholz. Nun nimmt sie den Deckel vollständig ab und legt<br />

ihn, Oberseite zuerst, auf den leeren Sitz neben sich. Mir eröffnet sich<br />

der Blick auf die erste Ebene ihrer Bento-Box, fein säuberlich zusammengestellt<br />

und in einzelnen kleinen Kisten voneinander getrennt:<br />

marinierte Algen, hier eine Sushi-Rolle mit frischem Thunfisch, dort<br />

ein kleiner Happen Omelett, eingelegte Früchte, natürlich Reis, in<br />

der Etage darunter. Und sogar eine Art Miso-Suppe findet sich in einem<br />

Schraubglas wieder. Sie wählt mit Bedacht ihren ersten Gang,<br />

das Omelett. Rechteckig zugeschnitten, saftig und kalt, so wie ich es<br />

in Tokio nach meiner Ankunft zum ersten Mal aß. Seit dem fünften<br />

Jahrhundert speisen die Menschen in Japan unterwegs aus Bentō. Eine<br />

mannigfache Brotdose mit Tradition, wunderschön dazu.<br />

Während die junge Frau, die mir auf der Fahrt von Kyoto nach<br />

Hiroshima gegenübersitzt, pünktlich zur Mittagszeit ihre Suppe<br />

schlürft, wende ich meinen Blick zum Fenster. Geräuschlos sausen<br />

wir durch den brütend heißen Sommertag. Doch unser Shinkansen<br />

scheint räumlich und zeitlich von der Welt dort draußen, den unendlichen<br />

grünen Hügeln am Horizont, den letzten grauen Hochhäusern<br />

von Osaka, das wir nur kurz nach unserer Abfahrt in Kyoto als ersten<br />

Halt angesteuert haben, getrennt. Eine Zeitkapsel, die mit einer<br />

stetigen Raumtemperatur von <strong>20</strong> Grad und einer fast konstanten<br />

Geschwindigkeit von 300 Stundenkilometern Reisende in eineinhalb<br />

Stunden von der Kulturhauptstadt Kyoto in die Friedensstadt bringt,<br />

wie sich Hiroshima im Westen von Honshu symbolisch nennt. Mit<br />

dem Auto bräuchte man sechs Stunden für die Strecke. Aber in Japan<br />

fährt kaum jemand lange Strecken mit dem Auto. Denn die Fernver-<br />

kehrszüge verbinden fast stündlich alle großen Städte auf exklusiven<br />

Gleisen auf die Sekunde pünktlich – oft schneller als das Flugzeug.<br />

Der Fahrkartenkontrolleur betritt das Abteil. Eine kurze Verbeugung.<br />

Weiße Handschuhe greifen nach den Zetteln, die ihm wortlos<br />

entgegengereicht werden. Stets mit beiden Händen. Ich schäme mich<br />

für meinen Japan-Railpass, dem man seine letzte Woche in Hosentaschen<br />

ansieht. Er wirft einen Blick darauf, nickt und führt seine Runde<br />

fort. Mein Blick folgt ihm fasziniert, bis er sich am Ende des Wagens<br />

noch einmal umdreht, seine Mütze berührt und sich diesmal tief vor<br />

uns Passagieren verbeugt. Dann verschwindet er im nächsten Abteil.<br />

Ich sehe ihn erst eine Stunde später, als er mir beim Aussteigen, wie<br />

jedem Gast, hinterherwinkt. Auch die Frau, die ihr Mittagsmenü verspeist<br />

hat und später, als wir ganz dicht an der pompösen Himmelsburg<br />

von Himeji vorbeifuhren, mein Staunen mit einem lieben Blick<br />

würdigte, verlässt den Shinkansen an der Hiroshima Station.<br />

Menschen wuseln an mir vorbei, ohne mich zu berühren. Jeder<br />

und doch keiner scheint mich wahrzunehmen. Fast alle Damen tragen<br />

eine Pony-Frisur. Die Herren weiße Hemden. Es dauert keine Minute,<br />

und der 40 Grad heiße Hochsommer treibt mir Schweißperlen<br />

auf die Stirn. Ich bewege mich und werde Teil des Gewusels, hinter<br />

den Schranken und der Eingangshalle beginnt die Stadt, die mich mit<br />

hellem Sonnenschein empfängt, sodass ich meine Augen zu Schlitzen<br />

verengen muss. Die Friedensstadt Hiroshima, heute passend gehüllt<br />

in weißes Licht.<br />

Ich spaziere Richtung Südwesten, passiere die erste Brücke, die einen<br />

der Ausläufer des Ōta Rivers überspannt, der sich weiter nördlich<br />

unzählige Male teilt und so die Stadt in ihre Viertel zersplittert, bevor<br />

das Flussdelta in die Hiroshima-Bucht mündet. Geschichtsträchtige<br />

Straßen unter meinen Füßen, daneben Hochhäuser aus den Fünfzigern.<br />

Lauter Verkehr. Dazu die Hitze. Großstadtfeeling. Ein jäher Kontrast<br />

zu Kyoto, dessen Schönheit ich mich heute früh entzogen habe.<br />

46 <strong>reisen</strong> <strong>EXCLUSIV</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!