ASIEN | Japan Spürbare Vergangenheit: Dort, wo einst die Atombombe in Hiroshima auf den Boden traf, ist heute ein gigantischer Park. Auch im Peace Memorial Museum wird der Opfer gedacht. 48 <strong>reisen</strong> <strong>EXCLUSIV</strong>
NOCH IMMER BASTELN KINDER AUS ALLER WELT FÜR DEN FRIEDEN KRANICHE – UND SCHICKEN SIE NACH HIROSHIMA. In der prunkvollen Kaiserstadt endet jeder Weg vor einem geschichtsträchtigen, goldüberzogenen Tempel, den jährlich Millionen Touristen bestaunen. Geishas trippeln in kleinen Schritten, von ihren engen Kimonos eingeschränkt, vorbei an den holzverkleideten Eingangstüren, bis sie an ihrem Teehaus angelangt sind. Das Klackern ihrer traditionellen Holzschuhe hallt noch lange in den Gassen der Altstadt nach. Nicht so in Hiroshima. Hier gibt es keine Altstadt mehr, kaum eine Geisha-Kultur. Als am Morgen des 6. August 1945 etwa 600 Meter über der Innenstadt die erste Atombombe explodierte, nahm die Geschichte der Stadt schlagartig und für immer einen anderen Lauf. Auch ich bin nun dort angekommen, was früher das Herz der Industrie- und Militärmetropole war. Dort, wo der Fluss mit seinen Verästelungen ins Meer fließt, dort, wo sich das Land ebnet und die umliegenden Berge das Zentrum einkesseln. Genau diese Topografie wurde der Stadt zum Verhängnis, denn die feindlichen Amerikaner wollten mit ihrem ersten Atombombeneinsatz maximale Zerstörung anrichten. Alles war genau berechnet: Wenn sich morgens die meisten Menschen in der Stadt aufhielten, sollte die Druckwelle der Explosion die Innenstadt zerstören, deren Häuser zumeist aus Holz errichtet waren. Das anschließende Feuer sollte auch auf die umliegenden Industrieanlagen übergreifen, und zu guter Letzt sollte die austretende Strahlung noch so viele Menschen wie möglich nachhaltig schädigen. Die Rechnung ging auf. Das Ausmaß der Brutalität lässt sich im Hiroshima Peace Memorial Museum erahnen, wo man sich in einer bedrückten Menschenmasse an verbogenen Stahlträgern, Abschiedsbriefen und den Kranichen der krebskranken Sadako Sasaki schiebt. Sie ist eine der unzähligen Hibakusha, eine Überlebende des Atombombenabwurfs. Damals war sie noch ein Kleinkind, doch als das athletische Mädchen später an Leukämie erkrankte, zeigten sich auch bei ihr die langwierigen Folgen des Abwurfs. In der Hoffnung auf Heilung bastelte sie im Krankenhaus Papierkraniche, nach einer Legende brächten 1.000 dieser Origami-Figuren Gesundheit. Nicht so bei Sadako, sie starb im Alter von gerade einmal zwölf Jahren und hinterließ Tausende der aufwendig gefalteten Papiertiere – das heutige Symbol der Stadt. Noch immer basteln Kinder aus aller Welt für den Frieden Kraniche – und schicken sie nach Hiroshima. In einer Glasvitrine, ganz nah der Statue von Sadako Sasaki, sind sie ausgestellt. Denn: Heute ist Hiroshima wieder eine prächtige Industrie- und Hafenstadt, mehr als eine Million Menschen wohnen hier. Auch einer der schönsten Schreine des Landes prangt vor der Bucht rot im Wasser, die alte Burg wurde aufwendig restauriert. Nach nur wenigen Tagen war die Strahlung verebbt, Jahrzehnte sind vergangen. Doch man nutzt die weltweite Berühmtheit für einen wichtigen Appell. Man lädt die Menschen aus aller Welt in die Stadt ein, im Namen des Friedens. Das ehemalige Stadtzentrum, eben genau dort, wo die Bombe explodierte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem gigantischen Park, der Besuchern zur Besinnung und Erinnerung dienen soll. Die Blumenkränze, Kerzen, Statuen und Gedenktafeln dienen einem Zweck: Sie fordern eine atomwaffenfreie Welt. Nach meinem Museumsbesuch schlendere ich durch die symmetrisch konstruierte Anlage und lasse mich an einem der vielen Flussläufe nieder, den Blick direkt auf den A-Bomb-Dome gerichtet. Die ehemalige Industrie- und Handelskammer ragt als letzte Ruine mahnend am anderen Ufer empor. Zwischen den modernen Hochhäusern wirkt das Gebäude wie aus der Zeit gefallen, und das ist es auch. Während die gesamte Stadt neu aufgebaut wurde, erklärte man dieses einst prächtige Haus zum Unesco-Welterbe, und die Überreste sollen der Menschheit stets das verheerende Ausmaß von atomaren Kriegen vor Augen führen. Sehr gelungen, wie ich finde. Das Lachen von Kindern, die im Park spielen, holt mich zurück in die Gegenwart. Der Duft von frischem Barbecue zieht von einem Izakaya, einem traditionellen Speiselokal, herüber. Eine Tradition aus dem nahen Kōbe, wo man sich bestes Rindfleisch eigens am Tisch auf einem kleinen Grill brutzelt. Doch mir steht heute der Sinn nach Sushi. Google Maps hilft mir, schnell ein passendes Restaurant ein paar Straßen weiter ausfindig zu machen. Sowieso, das Smartphone hilft in Japan ungemein, fast überall gibt es offenes WLAN, Bus- und Zugverbindungen beim großen Maps-Anbieter stimmen auf die Minute, Gleisnummer und Buslinien werden auf Englisch angezeigt – ein Segen, wie ich schnell lerne. Eine hell leuchtende Papierlaterne zeigt an, dass der Laden geöffnet hat. Ich schiebe die hölzernen Shoji-Türen auseinander und betrete den Vorraum. Während ich meine Schuhe ausziehe, so wie ich es bereits kennengelernt habe, kommt auch schon eine Kellnerin und verbeugt sich tief vor mir. Über Tatami-Matten folge ich ihr auf Socken ins Restaurant. Von draußen bekommt man nichts von der Welt hinter der Fassade mit: Ein langer Raum zieht sich weit nach hinten, auf winter sommer <strong><strong>20</strong>19</strong>/frühjahr <strong>20</strong><strong>20</strong> 49