Inspiration Nr. 1/2020
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HAUSBERG NIESEN<br />
H A U S B E R G<br />
Man tut dem Niesen nicht unrecht, wenn man ihn<br />
als einen klassischen Ausflugsberg bezeichnet.<br />
Knapp 30 Minuten braucht die Standseilbahn<br />
hinauf zur Niesen Kulm. Von dort sind es dann nur wenige<br />
Schritte bis zur eigentlichen Gipfelplattform auf 2362<br />
Metern. Doch wenn die Ausflügler, Wanderer und die vielen<br />
Familien mit Kind und Kegel, die den Niesen Kulm bevölkern,<br />
sitze ich schon wieder bei einem gemütlichen<br />
Kaffee zu Hause in Spiez.<br />
«Ich war sicher schon 400 Mal auf dem<br />
Niesen. Leider bisher noch nie mit Ski. Das<br />
steht ganz oben auf meiner Liste.»<br />
VOM VIRUS<br />
INFIZIERT<br />
PROTOKOLL THOMAS WERZ<br />
Kraftort, Trainingsgelände,<br />
guter Freund: Ein Hausberg<br />
kann viele Eigenschaften haben.<br />
Der Niesen vereint für Rita<br />
Jaggi aus der Bächli Berg sport<br />
Filiale Thun all das. So oft wie<br />
nur möglich zieht es die stellvertretende<br />
Filialleiterin auf den Gipfel<br />
der imposanten Pyramide auf der<br />
Südseite des Thunersees. Am<br />
liebsten ganz früh morgens, um<br />
vor der Arbeit Energie zu tanken.<br />
N I E S E N<br />
Am liebsten nähere ich mich der wunderschönen Pyramide<br />
von der Ostseite. Von der Talstation in Mülenen<br />
führt der Weg entlang der Standseilbahn ziemlich direkt<br />
nach oben. 1650 Höhenmeter, am liebsten gehe ich<br />
sie noch vor der Arbeit. Wenn andere sich noch einmal<br />
im Bett umdrehen, bin ich meist schon unterwegs. Je<br />
nachdem wie die Verhältnisse sind, benötige ich für die<br />
Strecke um die zwei Stunden, manchmal auch etwas<br />
länger. Ich gehe zügig, aber es geht mir nicht um die<br />
Rekorde. Vor etwa zehn Jahren hat mich der Niesen-Virus<br />
befallen. Hört sich komisch an, aber ich bin überzeugt<br />
davon, dass dieser hochansteckend ist. Zumindest haben<br />
sich auch in meinem Umfeld etliche infiziert. Früher<br />
sind wir mit der Familie nur gewandert, aber nachdem<br />
die Kinder grösser waren, habe ich bei der SAC Sektion<br />
Niesen mit dem Bergsteigen begonnen. Dafür brauchte<br />
ich eine dementsprechend gute Grundkondition. Obwohl<br />
nicht einmal 2500 Meter hoch, hat mir mein Hausberg<br />
die richtigen Gipfel überhaupt erst ermöglicht. Im Jahr<br />
2017 konnte ich mit einem Kollegen auf der Punta<br />
Giordani (4046 Meter) meine Sammlung aller 82 Viertausender<br />
komplettieren.<br />
Perfekte Pyramide: Der Niesen wirft seinen<br />
symmetrischen Schatten über den Thunersee.<br />
FOTO LINKS: ARCHIV RITA JAGGI, FOTO RECHTS: GABI MÜLLER<br />
BIS ZU 50 MAL IM JAHR ZUM GIPFEL<br />
Wie oft ich mittlerweile auf der Gipfelplattform der<br />
eindrucksvollen Schiefer-Pyramide stand und den Blick<br />
über den See und das 360-Grad-Panorama schweifen<br />
liess? Ganz genau weiss ich es nicht, es sind sicher über<br />
400 Mal. Von Mitte April bis in den November steige<br />
ich zwischen 30 und 50 Mal über den «Top Walk»-Weg<br />
hinauf zur Niesen Kulm. Bereits 1856 wurde dort oben<br />
ein Gasthaus erbaut. Manchmal nehme ich auch den Weg<br />
von Wimmis am Ausgang des Simmentals. Gerade im<br />
Hochsommer ist es auf der Westseite morgens noch angenehm<br />
kühl. Diese Strecke hat zudem einen kleinen<br />
alpinistischen Reiz, verläuft sie doch auf den letzten 450<br />
Höhenmetern ohne richtigen Weg am Grat entlang.<br />
Oft werde ich gefragt, warum ich eigentlich nicht beim<br />
legendären Niesen-Treppenlauf starte. Dieser führt<br />
entlang der Bahnstrecke über die mit 11ʼ674 Stufen<br />
längste Treppe der Welt nach oben. Aber ich bin nicht so<br />
der Wettkampftyp. Ich mach‘ das für mich. Der Niesen<br />
macht den Kopf frei und gibt mir Energie. Egal, ob mich<br />
im Hochsommer die ersten Sonnenstrahlen wärmen<br />
oder ob ich im Herbst bei Nieselregen gehe und mich<br />
im Schein der Stirnlampe frage, warum ich eigentlich<br />
aufgestanden bin. Der Niesen hat mich bisher jedes<br />
Mal belohnt. Besonders schön war es, den Weg zum ersten<br />
Mal mit meinem achtjährigen Grosskind zu gehen. Das<br />
Kinderbuch «Die Geschichte vom Niesenfuchs» hat ihn<br />
völlig fasziniert und er war ganz schön stolz, dass er es<br />
bis zum Gipfel geschafft hat und schauen konnte, wo<br />
Fuchs, Murmeltier und Dohle wohnen. Generell ist der<br />
Berg ein lohnendes Ziel für Familien mit Kindern.<br />
Am schönsten ist der Berg im Herbst, wenn die Nebelschwanden<br />
durch den Wald streifen und langsam die<br />
Sonne durchbricht. Zudem wachsen dann am Wegesrand<br />
Steinpilze – da kann ich nicht widerstehen. Dieses<br />
Jahr lag Anfang November im oberen Drittel sogar schon<br />
Allein im Schnee: Die Spiezerin Rita Jaggi unterwegs<br />
an ihrem Hausberg. Selbst der erste Schneefall<br />
im November hält sie nicht vor einer Niesen-Tour ab.<br />
Schnee, und ich habe am frühen Morgen die ersten<br />
Spuren in den Gipfelhang gestapft. Das ist ein sicheres<br />
Zeichen, dass die Saison ihrem Ende entgegengeht.<br />
Normalerweise versuche ich immer, am letzten Tag noch<br />
einmal oben zu sein und mit einem ausgiebigen Brunch<br />
die Saison zu beschliessen. Nur der Winter fehlt bisher in<br />
meinem persönlichen Niesen-Gipfelbuch. Aber der Berg<br />
ist oben steil und oft heikel, der Niesen ist alles andere<br />
als ein leichter Skitourenberg. Dennoch: Eine Skitour<br />
auf meinen Hausberg steht ganz oben auf der To-do-Liste.<br />
Vielleicht klappt es ja diesen Winter?<br />
INSPIRATION 01 / <strong>2020</strong><br />
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