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POLITIK<br />
Die Sehnsucht<br />
nachVerboten<br />
MEINE<br />
MEINUNG<br />
Von<br />
Matthias<br />
Koch<br />
Schon im Sommer dieses<br />
Jahres verkündete der<br />
Philosoph RichardDavid<br />
Precht: „Die Menschen lieben<br />
Verbote.“ Eine Umfrage aus<br />
den letzten Tagen gibt ihm<br />
recht. 57 Prozent der Bundesbürger<br />
fordern laut YouGov<br />
eingenerelles Verbot derSilvesterknallerei,auch<br />
in<br />
Zonen, in denenweder<br />
Feuerwehr nochPolizei besondere<br />
Gefahren fürchten.<br />
Aber soll manden Menschen<br />
wirklichalles Unvernünftige<br />
per Verbot austreiben? Wer<br />
so denkt, lässt die 1949 im<br />
Grundgesetz festgeschriebenen<br />
Freiheitsrechte fallenwie<br />
eine kleine Münze.<br />
Nach Artikel 2hat jederdas<br />
Rechtauf freieEntfaltungder<br />
Persönlichkeit, „soweit er<br />
nichtdie Rechte anderer verletzt“.<br />
Dürfte der Staat auch<br />
ohneBlick auf Dritte gegen<br />
den Einzelnendurchgreifen,<br />
um mehrVernunftzuerzwingen,<br />
wäre es vorbei mit der<br />
Freiheit. Dann könnte der<br />
Staat, etwa mitBlick auf die<br />
Kosten des Gesundheitswesens,<br />
auchdas Rauchenim<br />
eigenenZimmer untersagen,<br />
das Reiten,das Skifahrenoder<br />
denGenuss schwerer Sahnetorten.<br />
Das Grundgesetzhat<br />
den Nanny-Staat verhindert.<br />
Es wird auch denWeg in die<br />
Ökodiktaturbremsen.<br />
FRAU DESTAGES<br />
Angela Merkel<br />
Kurz vor dem Jahreswechsel<br />
steht Kanzlerin Angela Merkel<br />
(CDU, 65)ganz vorn auf<br />
der Beliebtheitsskala der<br />
Politiker. In<br />
der Emnid-<br />
Erhebung<br />
für die „Bild<br />
am Sonntag“<br />
führt siemit<br />
40 Prozent.<br />
Direkt hinter<br />
ihr landet<br />
Friedrich<br />
Merz,<br />
gefolgt von<br />
Bayerns Ministerpräsident<br />
Markus Söder. Fast ganz hinten<br />
landen dieneuen SPD-<br />
Chefs, Norbert Walter-Borjans<br />
und Saskia Esken, vor<br />
dem Letztplatzierten, AfD-<br />
Chef Jörg Meuthen.<br />
Foto: Roland Witschel/Kay Nietfeld/dpa<br />
Böller,Tempo, SUV:Revolte<br />
Die Ministerpräsidenten Kretschmer(Sachsen) und Kretschmann (Baden-Württemberg)werben für mehr Freiräume<br />
Berlin –Sachsens Ministerpräsident<br />
Michael Kretschmer<br />
(CDU) wirbt für einen<br />
neuen und kollegialeren<br />
Politikstil in Deutschland.<br />
„Wir brauchen einen Geist,<br />
etwas zu ermöglichen und<br />
nicht zu verhindern. Wir<br />
brauchen Freiräumestatt Bevormundung“,<br />
sagte der Regierungschef.<br />
Und spielte damit<br />
auf die Klimapolitik, geforderte<br />
Höchstgeschwindigkeiten,<br />
Böllerverbote zu<br />
Silvester oder Ähnliches an.<br />
„Alles, was dem Menschen<br />
Angst macht, ist kein guter<br />
Ratgeber.“ Man habe in den<br />
vergangenen 30 Jahren riesige<br />
Herausforderungen gemeistert,<br />
ohne Angst zu<br />
schüren.<br />
Ähnlich äußerte sich<br />
Kretschmers baden-württembergischer<br />
Kollege Winfried<br />
Kretschmann (Grüne):<br />
„Der Versuch, Menschen zu<br />
belehren, bringt nicht wirklich<br />
was“, sagte Kretschmann<br />
dem „Tagesspiegel<br />
am Sonntag“. „Und<br />
wenn die Flugscham offenbar<br />
nicht so ausgeprägt ist,<br />
dass weniger Kilometer geflogen<br />
werden, muss man<br />
die Flugreisenden dazu<br />
15 JahreHartzreform:<br />
„Hab michgeschämt“<br />
Anfang 2005 wurdeder deutsche Arbeitsmarkt radikalumgebaut.Das sagen Betroffeneheute<br />
Berlin – Es war die größte<br />
Arbeitsmarktreform, die es<br />
in Deutschland jegab –zugleich<br />
die umstrittenste:<br />
Vor 15 Jahren wurde<br />
Hartz IV eingeführt. Die<br />
einen sehendarin ein kaltes<br />
Zwangssystem. Andere<br />
sprechen von einer Erfolgsgeschichte.<br />
Was sagen die<br />
Betroffenen?<br />
▶ Der Jobcenter-Leiter<br />
Ingo Zielonkowsky (56) beschäftigt<br />
sich seit rund<br />
30 Jahren mitArbeitsvermittlung.<br />
Er leitet das Jobcenter<br />
in Düsseldorf, in dem<br />
800 Menschen für insgesamt<br />
60 000 Hartz-IV-Empfänger<br />
zuständigsind. Sieleben in etwa<br />
30 000 Bedarfsgemeinschaften<br />
oder –etwas weniger<br />
bürokratisch –Familien.<br />
„Zwei Drittel unserer Kunden<br />
haben keinen Berufsabschluss“,<br />
so Zielonkowsky.<br />
„Das Allererste, was wir ihnen<br />
anbieten, ist also, wenn<br />
immer es möglich und gewünscht<br />
ist, einen solchen<br />
Abschluss nachzuholen.“<br />
Der Jobcenter-Leiter sagt,<br />
eine gute Hilfesei das Teilhabechancengesetz,<br />
mitdem die<br />
Bundesregierung einen so genannten<br />
„sozialen Arbeitsmarkt“<br />
mitfinanziert. Mithilfe<br />
derLohnzuschüsse und der<br />
zusätzlichen Mittel für die<br />
Betreuung. Zielonkowsky<br />
lobt, viele Unternehmer hätten<br />
mit viel Engagement und<br />
Geduld Flüchtlingen eine<br />
Chanceauf demArbeitsmarkt<br />
gegeben, obwohl das –auch,<br />
aber nicht nurwegen sprachlicher<br />
Schwierigkeiten –<br />
nicht immer einfach gewesen<br />
sei. „Diese Geduld wünsche<br />
ich mir generell auch für<br />
Langzeitarbeitslose. Auch sie<br />
haben imLeben oft Dinge erlebt,<br />
die andere von uns nicht<br />
wirklichnachempfinden können.“<br />
▶ Die Alleinerziehende „Ich<br />
habe mich geschämt“, sagt<br />
Roxana Bulus. „Ich wollte<br />
nicht auf das Geld vom Jobcenter<br />
angewiesen sein.“<br />
Zwei Jahre ist es nun her, dass<br />
sie sich dann doch arbeitslos<br />
meldete. Und in Hartz IV<br />
rutschte. Weil der Vater ihres<br />
kleinen Sohns keinen Unterhalt<br />
zahlte undihr Minijobals<br />
Kosmetikerin nicht reichte<br />
für das Leben in einer teuren<br />
Stadtwie München. Heuteist<br />
Bulus 33 Jahre alt. Eine<br />
selbstbewusste Frau,geboren<br />
in Rumänien, 2006 nach<br />
München gekommen. Inzwi-<br />
Peter Hartz, damals VW-<br />
Personalvorstand. Seinem Entwurf<br />
verdankt die Reform ihren Namen.<br />
„Was jetzt aus Hartz IV<br />
gemacht wird ist die<br />
bedingungslose<br />
Grundsicherung“<br />
Heinrich Alt,damals Vorstand der<br />
Bundesagentur für Arbeit<br />
Foto: Becker&Bredel/dpa<br />
schen hat sie den deutschen<br />
Pass, ihr Junge geht in die<br />
Kita –und sie bekommt ein<br />
Vorstellungsgespräch beiden<br />
Münchener Verkehrsbetrieben<br />
vermittelt, die händeringend<br />
nach Personal suchen<br />
und als familienfreundlicher<br />
Arbeitgeber gelten. Plötzlich<br />
scheint ein Leben ohne<br />
Hartz IV greifbarnah. Es gibt<br />
die Zusage für eine Ausbildung<br />
zur Busfahrerin. Im<br />
Frühjahr geht es los. Erst<br />
muss Bulus aber noch<br />
Deutsch büffeln. Vor allem<br />
Grammatik, Rechtschreibung<br />
und Fachbegriffe, das alles.<br />
„Ich mag große Autos“, freut<br />
sie sich auf dieneue Aufgabe.<br />
Und noch viel mehr wahrscheinlich<br />
darauf, finanziell<br />
baldunabhängig zu sein.<br />
▶ Der Hartz-Überwinder<br />
Morgens umacht geht esfür<br />
Siegfried Rücker los.Seitdem<br />
1. Septemberhat der63-Jährige<br />
jetzt diesen Job in der<br />
Evangelischen Kirchengemeinde<br />
in Berlin-Köpenick.<br />
Er macht Kirchsäle, Kapellen<br />
und Gemeinderäume sauber,<br />
fegt Laub auf dem Friedhof –<br />
fast 40 Stunden in der Woche.<br />
„Wir sind sehr zufrieden mit<br />
ihm”, so Pfarrer Ralf Musold.<br />
Montags sitzen sie immer