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Berliner Kurier 30.12.2019

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POLITIK<br />

Die Sehnsucht<br />

nachVerboten<br />

MEINE<br />

MEINUNG<br />

Von<br />

Matthias<br />

Koch<br />

Schon im Sommer dieses<br />

Jahres verkündete der<br />

Philosoph RichardDavid<br />

Precht: „Die Menschen lieben<br />

Verbote.“ Eine Umfrage aus<br />

den letzten Tagen gibt ihm<br />

recht. 57 Prozent der Bundesbürger<br />

fordern laut YouGov<br />

eingenerelles Verbot derSilvesterknallerei,auch<br />

in<br />

Zonen, in denenweder<br />

Feuerwehr nochPolizei besondere<br />

Gefahren fürchten.<br />

Aber soll manden Menschen<br />

wirklichalles Unvernünftige<br />

per Verbot austreiben? Wer<br />

so denkt, lässt die 1949 im<br />

Grundgesetz festgeschriebenen<br />

Freiheitsrechte fallenwie<br />

eine kleine Münze.<br />

Nach Artikel 2hat jederdas<br />

Rechtauf freieEntfaltungder<br />

Persönlichkeit, „soweit er<br />

nichtdie Rechte anderer verletzt“.<br />

Dürfte der Staat auch<br />

ohneBlick auf Dritte gegen<br />

den Einzelnendurchgreifen,<br />

um mehrVernunftzuerzwingen,<br />

wäre es vorbei mit der<br />

Freiheit. Dann könnte der<br />

Staat, etwa mitBlick auf die<br />

Kosten des Gesundheitswesens,<br />

auchdas Rauchenim<br />

eigenenZimmer untersagen,<br />

das Reiten,das Skifahrenoder<br />

denGenuss schwerer Sahnetorten.<br />

Das Grundgesetzhat<br />

den Nanny-Staat verhindert.<br />

Es wird auch denWeg in die<br />

Ökodiktaturbremsen.<br />

FRAU DESTAGES<br />

Angela Merkel<br />

Kurz vor dem Jahreswechsel<br />

steht Kanzlerin Angela Merkel<br />

(CDU, 65)ganz vorn auf<br />

der Beliebtheitsskala der<br />

Politiker. In<br />

der Emnid-<br />

Erhebung<br />

für die „Bild<br />

am Sonntag“<br />

führt siemit<br />

40 Prozent.<br />

Direkt hinter<br />

ihr landet<br />

Friedrich<br />

Merz,<br />

gefolgt von<br />

Bayerns Ministerpräsident<br />

Markus Söder. Fast ganz hinten<br />

landen dieneuen SPD-<br />

Chefs, Norbert Walter-Borjans<br />

und Saskia Esken, vor<br />

dem Letztplatzierten, AfD-<br />

Chef Jörg Meuthen.<br />

Foto: Roland Witschel/Kay Nietfeld/dpa<br />

Böller,Tempo, SUV:Revolte<br />

Die Ministerpräsidenten Kretschmer(Sachsen) und Kretschmann (Baden-Württemberg)werben für mehr Freiräume<br />

Berlin –Sachsens Ministerpräsident<br />

Michael Kretschmer<br />

(CDU) wirbt für einen<br />

neuen und kollegialeren<br />

Politikstil in Deutschland.<br />

„Wir brauchen einen Geist,<br />

etwas zu ermöglichen und<br />

nicht zu verhindern. Wir<br />

brauchen Freiräumestatt Bevormundung“,<br />

sagte der Regierungschef.<br />

Und spielte damit<br />

auf die Klimapolitik, geforderte<br />

Höchstgeschwindigkeiten,<br />

Böllerverbote zu<br />

Silvester oder Ähnliches an.<br />

„Alles, was dem Menschen<br />

Angst macht, ist kein guter<br />

Ratgeber.“ Man habe in den<br />

vergangenen 30 Jahren riesige<br />

Herausforderungen gemeistert,<br />

ohne Angst zu<br />

schüren.<br />

Ähnlich äußerte sich<br />

Kretschmers baden-württembergischer<br />

Kollege Winfried<br />

Kretschmann (Grüne):<br />

„Der Versuch, Menschen zu<br />

belehren, bringt nicht wirklich<br />

was“, sagte Kretschmann<br />

dem „Tagesspiegel<br />

am Sonntag“. „Und<br />

wenn die Flugscham offenbar<br />

nicht so ausgeprägt ist,<br />

dass weniger Kilometer geflogen<br />

werden, muss man<br />

die Flugreisenden dazu<br />

15 JahreHartzreform:<br />

„Hab michgeschämt“<br />

Anfang 2005 wurdeder deutsche Arbeitsmarkt radikalumgebaut.Das sagen Betroffeneheute<br />

Berlin – Es war die größte<br />

Arbeitsmarktreform, die es<br />

in Deutschland jegab –zugleich<br />

die umstrittenste:<br />

Vor 15 Jahren wurde<br />

Hartz IV eingeführt. Die<br />

einen sehendarin ein kaltes<br />

Zwangssystem. Andere<br />

sprechen von einer Erfolgsgeschichte.<br />

Was sagen die<br />

Betroffenen?<br />

▶ Der Jobcenter-Leiter<br />

Ingo Zielonkowsky (56) beschäftigt<br />

sich seit rund<br />

30 Jahren mitArbeitsvermittlung.<br />

Er leitet das Jobcenter<br />

in Düsseldorf, in dem<br />

800 Menschen für insgesamt<br />

60 000 Hartz-IV-Empfänger<br />

zuständigsind. Sieleben in etwa<br />

30 000 Bedarfsgemeinschaften<br />

oder –etwas weniger<br />

bürokratisch –Familien.<br />

„Zwei Drittel unserer Kunden<br />

haben keinen Berufsabschluss“,<br />

so Zielonkowsky.<br />

„Das Allererste, was wir ihnen<br />

anbieten, ist also, wenn<br />

immer es möglich und gewünscht<br />

ist, einen solchen<br />

Abschluss nachzuholen.“<br />

Der Jobcenter-Leiter sagt,<br />

eine gute Hilfesei das Teilhabechancengesetz,<br />

mitdem die<br />

Bundesregierung einen so genannten<br />

„sozialen Arbeitsmarkt“<br />

mitfinanziert. Mithilfe<br />

derLohnzuschüsse und der<br />

zusätzlichen Mittel für die<br />

Betreuung. Zielonkowsky<br />

lobt, viele Unternehmer hätten<br />

mit viel Engagement und<br />

Geduld Flüchtlingen eine<br />

Chanceauf demArbeitsmarkt<br />

gegeben, obwohl das –auch,<br />

aber nicht nurwegen sprachlicher<br />

Schwierigkeiten –<br />

nicht immer einfach gewesen<br />

sei. „Diese Geduld wünsche<br />

ich mir generell auch für<br />

Langzeitarbeitslose. Auch sie<br />

haben imLeben oft Dinge erlebt,<br />

die andere von uns nicht<br />

wirklichnachempfinden können.“<br />

▶ Die Alleinerziehende „Ich<br />

habe mich geschämt“, sagt<br />

Roxana Bulus. „Ich wollte<br />

nicht auf das Geld vom Jobcenter<br />

angewiesen sein.“<br />

Zwei Jahre ist es nun her, dass<br />

sie sich dann doch arbeitslos<br />

meldete. Und in Hartz IV<br />

rutschte. Weil der Vater ihres<br />

kleinen Sohns keinen Unterhalt<br />

zahlte undihr Minijobals<br />

Kosmetikerin nicht reichte<br />

für das Leben in einer teuren<br />

Stadtwie München. Heuteist<br />

Bulus 33 Jahre alt. Eine<br />

selbstbewusste Frau,geboren<br />

in Rumänien, 2006 nach<br />

München gekommen. Inzwi-<br />

Peter Hartz, damals VW-<br />

Personalvorstand. Seinem Entwurf<br />

verdankt die Reform ihren Namen.<br />

„Was jetzt aus Hartz IV<br />

gemacht wird ist die<br />

bedingungslose<br />

Grundsicherung“<br />

Heinrich Alt,damals Vorstand der<br />

Bundesagentur für Arbeit<br />

Foto: Becker&Bredel/dpa<br />

schen hat sie den deutschen<br />

Pass, ihr Junge geht in die<br />

Kita –und sie bekommt ein<br />

Vorstellungsgespräch beiden<br />

Münchener Verkehrsbetrieben<br />

vermittelt, die händeringend<br />

nach Personal suchen<br />

und als familienfreundlicher<br />

Arbeitgeber gelten. Plötzlich<br />

scheint ein Leben ohne<br />

Hartz IV greifbarnah. Es gibt<br />

die Zusage für eine Ausbildung<br />

zur Busfahrerin. Im<br />

Frühjahr geht es los. Erst<br />

muss Bulus aber noch<br />

Deutsch büffeln. Vor allem<br />

Grammatik, Rechtschreibung<br />

und Fachbegriffe, das alles.<br />

„Ich mag große Autos“, freut<br />

sie sich auf dieneue Aufgabe.<br />

Und noch viel mehr wahrscheinlich<br />

darauf, finanziell<br />

baldunabhängig zu sein.<br />

▶ Der Hartz-Überwinder<br />

Morgens umacht geht esfür<br />

Siegfried Rücker los.Seitdem<br />

1. Septemberhat der63-Jährige<br />

jetzt diesen Job in der<br />

Evangelischen Kirchengemeinde<br />

in Berlin-Köpenick.<br />

Er macht Kirchsäle, Kapellen<br />

und Gemeinderäume sauber,<br />

fegt Laub auf dem Friedhof –<br />

fast 40 Stunden in der Woche.<br />

„Wir sind sehr zufrieden mit<br />

ihm”, so Pfarrer Ralf Musold.<br />

Montags sitzen sie immer

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