hinnerk Februar / März 2020
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GESUNDHEIT<br />
und die Entwicklung von Zukunftsängsten<br />
können folgen: Wie soll es weitergehen<br />
mit dem Geld und dem Job? Behalte ich<br />
meine Stelle? Kann ich mich noch so um<br />
die Kinder kümmern, wie ich das gern<br />
möchte? Deshalb sprechen wir von einem<br />
psychosomatischen Krankheitsbild. Ausgehend<br />
vom Körper macht der Schmerz<br />
etwas mit der Psyche und das<br />
hat zusätzlich eine soziale<br />
Dimension. Wir versuchen,<br />
unseren Patient*innen ein biopsychosoziales<br />
Krankheitsmodell<br />
nahezubringen.<br />
Also ist der Spruch<br />
„Schatz ich hab<br />
Migräne” doch ein<br />
psychisches Problem?<br />
Nein. Wie gesagt: Es liegt<br />
eine körperliche Ursache vor.<br />
Aber die Psyche hat darauf<br />
Einfluss, wie der Körper damit<br />
umgeht. Ein Beispiel: Jeder<br />
von uns kennt das: Wenn<br />
man wenig geschlafen hat,<br />
sich ärgert und sich dann<br />
den Fuß vertritt – das tut<br />
viel mehr weh, als wenn man<br />
gerade dabei ist, den Gipfel zu stürmen,<br />
an einem sonnigen Tag und zusammen<br />
mit den besten Freunden. Da merkt man<br />
es kaum. Die Schmerzwahrnehmung ist<br />
durch Stimmungen sehr beeinflussbar und<br />
bei chronischen Schmerzen ist das sehr<br />
komplex. Es sind viel mehr Menschen von<br />
chronischen Schmerzen betroffen, als man<br />
denkt. Diese kommen also nicht wegen der<br />
Migräne hierher, sondern weil die Belastung<br />
durch diese körperliche Erkrankung größer<br />
ist, als bei anderen. Die daraus entstehende<br />
Frage ist: Warum verselbstständigt sich der<br />
Schmerz bei dem einen und bei dem anderen<br />
nicht? Warum entsteht bei dem einen<br />
aus Rheuma eine chronische Schmerzstörung<br />
und der andere hat „nur“ mit Rheuma<br />
zu kämpfen?<br />
Welche Erklärungsansätze<br />
haben Sie denn zum Beispiel?<br />
Ein wichtiger Punkt ist die Kindheit, in<br />
der der Mensch lernt, wie er mit Krankheiten<br />
und körperlichen Empfindungen<br />
und Bedürfnissen umgeht. Jeder wird in<br />
seiner Familie und in seiner Zeit groß. Jeder<br />
macht also individuelle Erfahrungen und<br />
entwickelt Verhaltensmuster, nach denen<br />
er mit körperlichen Störungen umgeht.<br />
Mit diesen erlernten Mustern kommen<br />
die meisten gut zurecht. Allerdings gibt es<br />
auch Situationen, in denen neuartige Einflüsse<br />
oder auch einfach zu viel gleichzeitig<br />
zusammentrifft, sodass diese Muster<br />
versagen. Dann schafft man es nicht mehr<br />
und greift zum Beispiel zur vermeintlich<br />
schnellen, medikamentösen Lösung nach<br />
dem Prinzip ‚ist nicht so schlimm. Ich nehme<br />
einfach noch eine Tablette und gut ist.‘<br />
„Unser Ziel ist die Ermöglichung<br />
von Entstressung<br />
– durch Informationen,<br />
Gespräche, gemeinsame<br />
Erlebnisse, Entspannungs-<br />
und Achtsamkeitsund<br />
Bewegungsübungen,<br />
Ernährungsumstellung<br />
und ein besseres Verständnis<br />
von sich selbst.“<br />
Und was wäre besser?<br />
Wir stellen uns mit unseren Patient*innen<br />
die Frage, wie wir einen Paradigmenwechsel<br />
erreichen können, wie die erlernten<br />
Muster infrage gestellt und erweitert<br />
werden können. Welche Verhaltens- und<br />
Behandlungsmöglichkeiten gibt es noch?<br />
Wir versuchen mit den Patient*innen hier in<br />
der tagesklinischen Therapie einen neuen<br />
Ressourcen-Rucksack zu packen. Keinen<br />
Notfall-Koffer im Sinne von: Es ist zu spät,<br />
das muss ich jetzt tun (die Schmerztablette<br />
nehmen zum Beispiel), sondern ein Paket<br />
von Maßnahmen, die ich einsetzen kann,<br />
wenn erste Anzeichen dafür eintreten, dass<br />
es schwierig werden kann. Ein Inhalt dieses<br />
Rucksackes kann die Ernährung sein. Wie<br />
könnte ich mich so ernähren, dass mein<br />
Gewicht im Rahmen ist und mein Skelett<br />
es tragen kann? Warum ist es sinnvoll, Obst<br />
und Gemüse zu essen? Warum sollte ich<br />
auf Koffein verzichten?<br />
Sie kochen hier vegetarisch<br />
sehe ich. Ist das medizinisch<br />
besser?<br />
Nein. Wir dürfen in diesem Bürogebäude<br />
keine Fleischabfälle produzieren.<br />
Bei der Ernährung ist uns wichtig, dass<br />
die Patient*innen die Grundzüge einer<br />
schmerzmodifizierenden Ernährungsweise<br />
verstehen. Es ist sinnvoll, bei chronischen<br />
Schmerzen regelmäßig zu essen – viel Obst,<br />
viel Gemüse, Nüsse und sich den Kaffee<br />
aufzusparen, wenn man Migräne hat. Koffein<br />
ist ja ein gutes Therapeutikum und sollte<br />
nicht genutzt werden, um sich vermeintlich<br />
belastbarer zu machen.<br />
Ich soll auf meinen Kaffee<br />
verzichten?<br />
Viele trinken viel Kaffee. Wir haben immer<br />
wieder Patient*innen, die trinken morgens<br />
einen Kaffee direkt nach dem Aufstehen,<br />
und noch einen, wenn sie im Büro ankommen.<br />
Im Laufe des Vormittags trinken sie<br />
noch einen Kaffee und dann noch einen<br />
im Laufe des Nachmittags<br />
und einen<br />
letzten Kaffee, wenn<br />
sie dann nach Hause<br />
kommen. Im Endeffekt<br />
können sie aber<br />
nicht oder schlecht<br />
einschlafen, weil sie<br />
zu dem Drittel der<br />
Bevölkerung gehören,<br />
die sehr koffeinsensibel<br />
sind und bei denen<br />
es bis zu 72 Stunden<br />
dauern kann, bis das<br />
Koffein abgebaut ist.<br />
Was macht man dann?<br />
Entweder man nimmt<br />
eine Schlaftablette<br />
oder trinke noch ein<br />
Bier. Dadurch ist die<br />
Schlafarchitektur<br />
gestört. Und was hilft, wenn man am<br />
nächsten Morgen zeitig aufstehen muss –<br />
ein Kaffee. Wie oft putscht man sich also<br />
mit Kaffee, obwohl der Körper eigentlich<br />
sagt: „Es ist genug!“ Das heißt, wir<br />
sprechen darüber, mal eine Woche keinen<br />
Kaffee zu trinken. Oft bekommt man als<br />
„Entzugserscheinung“ Kopfschmerzen,<br />
aber dann hat man es meistens auch<br />
schon überstanden. Die Idee ist, dass die<br />
Patient*innen merken, wie oft sie Essen<br />
und /Trinken als Stimmungsmodifikation<br />
einsetzen.<br />
FOTO: REGINA SABLOTNY<br />
Neben Kaffee ist auch die<br />
Schmerztablette selbstverständlicher<br />
Alltagsbegleiter<br />
vieler Menschen. Wie gehen<br />
Sie damit um?<br />
Wir sprechen darüber, wie mit Medikamenten<br />
umgegangen wird und welche<br />
Erwartungen der Einzelne diesen gegenüber<br />
hat. ‚Wenn ich eine Paracetamol<br />
nehme, bin ich den ganzen Tag schmerzfrei‘<br />
– das ist unrealistisch. Viele nehmen<br />
auch viel zu viele Schmerzmittel. Aus<br />
Angst vor Schmerzen wird zum Beispiel<br />
rein prophylaktisch zur Schmerztablette<br />
gegriffen. Andere dagegen nehmen keine<br />
Medikamente, obwohl es für sie hilfreich<br />
wäre. Der Schlüssel ist das richtige Medikament,<br />
in der richtigen Dosierung, zum<br />
richtigen Zeitpunkt und mit den richtigen<br />
Indikationen. Genauso kann aber auch<br />
eine äußere Anwendung