31.01.2020 Aufrufe

hinnerk Februar / März 2020

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

GESUNDHEIT<br />

und die Entwicklung von Zukunftsängsten<br />

können folgen: Wie soll es weitergehen<br />

mit dem Geld und dem Job? Behalte ich<br />

meine Stelle? Kann ich mich noch so um<br />

die Kinder kümmern, wie ich das gern<br />

möchte? Deshalb sprechen wir von einem<br />

psychosomatischen Krankheitsbild. Ausgehend<br />

vom Körper macht der Schmerz<br />

etwas mit der Psyche und das<br />

hat zusätzlich eine soziale<br />

Dimension. Wir versuchen,<br />

unseren Patient*innen ein biopsychosoziales<br />

Krankheitsmodell<br />

nahezubringen.<br />

Also ist der Spruch<br />

„Schatz ich hab<br />

Migräne” doch ein<br />

psychisches Problem?<br />

Nein. Wie gesagt: Es liegt<br />

eine körperliche Ursache vor.<br />

Aber die Psyche hat darauf<br />

Einfluss, wie der Körper damit<br />

umgeht. Ein Beispiel: Jeder<br />

von uns kennt das: Wenn<br />

man wenig geschlafen hat,<br />

sich ärgert und sich dann<br />

den Fuß vertritt – das tut<br />

viel mehr weh, als wenn man<br />

gerade dabei ist, den Gipfel zu stürmen,<br />

an einem sonnigen Tag und zusammen<br />

mit den besten Freunden. Da merkt man<br />

es kaum. Die Schmerzwahrnehmung ist<br />

durch Stimmungen sehr beeinflussbar und<br />

bei chronischen Schmerzen ist das sehr<br />

komplex. Es sind viel mehr Menschen von<br />

chronischen Schmerzen betroffen, als man<br />

denkt. Diese kommen also nicht wegen der<br />

Migräne hierher, sondern weil die Belastung<br />

durch diese körperliche Erkrankung größer<br />

ist, als bei anderen. Die daraus entstehende<br />

Frage ist: Warum verselbstständigt sich der<br />

Schmerz bei dem einen und bei dem anderen<br />

nicht? Warum entsteht bei dem einen<br />

aus Rheuma eine chronische Schmerzstörung<br />

und der andere hat „nur“ mit Rheuma<br />

zu kämpfen?<br />

Welche Erklärungsansätze<br />

haben Sie denn zum Beispiel?<br />

Ein wichtiger Punkt ist die Kindheit, in<br />

der der Mensch lernt, wie er mit Krankheiten<br />

und körperlichen Empfindungen<br />

und Bedürfnissen umgeht. Jeder wird in<br />

seiner Familie und in seiner Zeit groß. Jeder<br />

macht also individuelle Erfahrungen und<br />

entwickelt Verhaltensmuster, nach denen<br />

er mit körperlichen Störungen umgeht.<br />

Mit diesen erlernten Mustern kommen<br />

die meisten gut zurecht. Allerdings gibt es<br />

auch Situationen, in denen neuartige Einflüsse<br />

oder auch einfach zu viel gleichzeitig<br />

zusammentrifft, sodass diese Muster<br />

versagen. Dann schafft man es nicht mehr<br />

und greift zum Beispiel zur vermeintlich<br />

schnellen, medikamentösen Lösung nach<br />

dem Prinzip ‚ist nicht so schlimm. Ich nehme<br />

einfach noch eine Tablette und gut ist.‘<br />

„Unser Ziel ist die Ermöglichung<br />

von Entstressung<br />

– durch Informationen,<br />

Gespräche, gemeinsame<br />

Erlebnisse, Entspannungs-<br />

und Achtsamkeitsund<br />

Bewegungsübungen,<br />

Ernährungsumstellung<br />

und ein besseres Verständnis<br />

von sich selbst.“<br />

Und was wäre besser?<br />

Wir stellen uns mit unseren Patient*innen<br />

die Frage, wie wir einen Paradigmenwechsel<br />

erreichen können, wie die erlernten<br />

Muster infrage gestellt und erweitert<br />

werden können. Welche Verhaltens- und<br />

Behandlungsmöglichkeiten gibt es noch?<br />

Wir versuchen mit den Patient*innen hier in<br />

der tagesklinischen Therapie einen neuen<br />

Ressourcen-Rucksack zu packen. Keinen<br />

Notfall-Koffer im Sinne von: Es ist zu spät,<br />

das muss ich jetzt tun (die Schmerztablette<br />

nehmen zum Beispiel), sondern ein Paket<br />

von Maßnahmen, die ich einsetzen kann,<br />

wenn erste Anzeichen dafür eintreten, dass<br />

es schwierig werden kann. Ein Inhalt dieses<br />

Rucksackes kann die Ernährung sein. Wie<br />

könnte ich mich so ernähren, dass mein<br />

Gewicht im Rahmen ist und mein Skelett<br />

es tragen kann? Warum ist es sinnvoll, Obst<br />

und Gemüse zu essen? Warum sollte ich<br />

auf Koffein verzichten?<br />

Sie kochen hier vegetarisch<br />

sehe ich. Ist das medizinisch<br />

besser?<br />

Nein. Wir dürfen in diesem Bürogebäude<br />

keine Fleischabfälle produzieren.<br />

Bei der Ernährung ist uns wichtig, dass<br />

die Patient*innen die Grundzüge einer<br />

schmerzmodifizierenden Ernährungsweise<br />

verstehen. Es ist sinnvoll, bei chronischen<br />

Schmerzen regelmäßig zu essen – viel Obst,<br />

viel Gemüse, Nüsse und sich den Kaffee<br />

aufzusparen, wenn man Migräne hat. Koffein<br />

ist ja ein gutes Therapeutikum und sollte<br />

nicht genutzt werden, um sich vermeintlich<br />

belastbarer zu machen.<br />

Ich soll auf meinen Kaffee<br />

verzichten?<br />

Viele trinken viel Kaffee. Wir haben immer<br />

wieder Patient*innen, die trinken morgens<br />

einen Kaffee direkt nach dem Aufstehen,<br />

und noch einen, wenn sie im Büro ankommen.<br />

Im Laufe des Vormittags trinken sie<br />

noch einen Kaffee und dann noch einen<br />

im Laufe des Nachmittags<br />

und einen<br />

letzten Kaffee, wenn<br />

sie dann nach Hause<br />

kommen. Im Endeffekt<br />

können sie aber<br />

nicht oder schlecht<br />

einschlafen, weil sie<br />

zu dem Drittel der<br />

Bevölkerung gehören,<br />

die sehr koffeinsensibel<br />

sind und bei denen<br />

es bis zu 72 Stunden<br />

dauern kann, bis das<br />

Koffein abgebaut ist.<br />

Was macht man dann?<br />

Entweder man nimmt<br />

eine Schlaftablette<br />

oder trinke noch ein<br />

Bier. Dadurch ist die<br />

Schlafarchitektur<br />

gestört. Und was hilft, wenn man am<br />

nächsten Morgen zeitig aufstehen muss –<br />

ein Kaffee. Wie oft putscht man sich also<br />

mit Kaffee, obwohl der Körper eigentlich<br />

sagt: „Es ist genug!“ Das heißt, wir<br />

sprechen darüber, mal eine Woche keinen<br />

Kaffee zu trinken. Oft bekommt man als<br />

„Entzugserscheinung“ Kopfschmerzen,<br />

aber dann hat man es meistens auch<br />

schon überstanden. Die Idee ist, dass die<br />

Patient*innen merken, wie oft sie Essen<br />

und /Trinken als Stimmungsmodifikation<br />

einsetzen.<br />

FOTO: REGINA SABLOTNY<br />

Neben Kaffee ist auch die<br />

Schmerztablette selbstverständlicher<br />

Alltagsbegleiter<br />

vieler Menschen. Wie gehen<br />

Sie damit um?<br />

Wir sprechen darüber, wie mit Medikamenten<br />

umgegangen wird und welche<br />

Erwartungen der Einzelne diesen gegenüber<br />

hat. ‚Wenn ich eine Paracetamol<br />

nehme, bin ich den ganzen Tag schmerzfrei‘<br />

– das ist unrealistisch. Viele nehmen<br />

auch viel zu viele Schmerzmittel. Aus<br />

Angst vor Schmerzen wird zum Beispiel<br />

rein prophylaktisch zur Schmerztablette<br />

gegriffen. Andere dagegen nehmen keine<br />

Medikamente, obwohl es für sie hilfreich<br />

wäre. Der Schlüssel ist das richtige Medikament,<br />

in der richtigen Dosierung, zum<br />

richtigen Zeitpunkt und mit den richtigen<br />

Indikationen. Genauso kann aber auch<br />

eine äußere Anwendung

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!