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Berliner Kurier 02.02.2020

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31. Januar 1959: Sinaida Kolmogorowa<br />

(vorne) und Freunde stehen am Fluss<br />

Auspija. IhreLeiche wird vier Wochen<br />

später gefunden, ihreSchuhe fehlen.<br />

cher Test misslungen und habe<br />

zum Tod der neun Wanderer geführt.<br />

Die jüngste und in ihrer Beweisführung<br />

durchaus schlüssige Version<br />

stammt von einem unbekannten<br />

Autor, der sich das Pseudonym<br />

Alexej Rakitin gegeben hat. In seinem<br />

inzwischen auf Deutsch erschienenen<br />

Buch „Die Toten vom<br />

Djatlow-Pass“ beruft sich Rakitin<br />

unter anderem auf die Untersuchungsakten<br />

einer Expertenkommission,<br />

auf amerikanische Geheimdienstpapiere<br />

und Erkenntnisse<br />

des sowjetischen KGB. Anhand<br />

vieler von ihm präzise<br />

geschilderter Indizien entwirft der<br />

Autor ein Szenario, nach dem die<br />

neun Wanderer Opfer einer fehlgeschlagenen<br />

Geheimdienstoperation<br />

des KGB geworden seien.<br />

Ist damit –sowie Rakitin es im<br />

Untertitel seines Buches verspricht<br />

–tatsächlich<br />

eines der letzten<br />

Geheimnisse<br />

des<br />

1. Februar 1959:<br />

Die Gruppe ist auf<br />

dem Wegzum „Berg<br />

des Todes“. Einen Tag<br />

zuvor entsteht das<br />

Foto des in den Schnee<br />

gefallenen Nikolai<br />

Thibeaux-Brignolle.<br />

Kalten Krieges gelöst? Von der<br />

Tragödie am „Berg des Todes“ hatte<br />

im Februar 1959 zunächst niemand<br />

etwas mitbekommen, war<br />

doch die Ankunft der aus fünf Studenten<br />

aus Jekaterinburg, zwei<br />

Bauleitern, einem Ingenieur und<br />

einem professionellen Wanderführer<br />

bestehende Gruppe in der<br />

Siedlung Wischai erst für den 14.<br />

Februar eingeplant. Als die Gruppe<br />

aber eine Woche überfällig war,<br />

entschlossen sich die Behörden zu<br />

einer Suchexpedition.<br />

Am 26. Februar stieß man auf eine<br />

erste Spur –auf einem Pass zum<br />

Cholat Sjachl fand ein Suchtrupp<br />

das Zelt der Gruppe, dessen Plane<br />

an mehreren Stellen von innen aufgeschlitzt<br />

war. Im Inneren lagen<br />

Kleidung und Ausrüstungsgegenstände,<br />

auch das Expeditionstagebuch.<br />

Der letzte Eintrag darin<br />

stammte vom 31. Januar, demnach<br />

waren alle neun Teilnehmer zu<br />

diesem Zeitpunkt gesund und bester<br />

Stimmung.<br />

Und doch muss sie irgendetwas<br />

aufgeschreckt und aus dem<br />

Zelt gejagt haben.<br />

Auf dem Tisch lag noch ein<br />

ausgepacktes Stück Speck,<br />

als sei gerade das Essen vorbereitet<br />

worden. Im Schnee<br />

vor dem Zelt steckten die<br />

Skier der Wanderer, die sich<br />

offenbar zu Fuß auf den Weg<br />

gemacht hatten. Aber wohin?<br />

Eine erste Antwort auf die<br />

Frage ergab sich am 27. Februar.<br />

Etwa anderthalb Kilometer<br />

vom Zelt entfernt, unter<br />

einer Zeder am Steilufer eines Baches,<br />

wurden zwei Leichen gefunden.<br />

Wenige Stunden später entdeckte<br />

ein Suchtrupp am Berghang<br />

zwei weitere Tote –eswaren<br />

der Expeditionsleiter Igor Djatlow<br />

und eine der beiden Frauen, die 22-<br />

jährige Sinaida Kolmogorowa. Die<br />

Leichen wiesen Abschürfungen<br />

und Blutergüsse auf, keine trug<br />

Schuhe, zwei waren nur mit Unterhosen<br />

bekleidet.<br />

Erst eine Woche später, am 5.<br />

März, wurde unter einer 15 Zentimeter<br />

dicken Schneeschicht das<br />

fünfte Opfer gefunden: der 23-jährige<br />

Rustem Slobodin. Seine Leiche<br />

wies starke Kopfverletzungen<br />

auf –offenbar war der Mann mehrmals<br />

geschlagen worden, bevor er<br />

das Bewusstsein verlor und erfror.<br />

Anfang Mai schließlich gruben<br />

die Suchtrupps die restlichen vier<br />

Leichen aus dem Schnee aus. Sie<br />

fanden sie in einer Schlucht, keine<br />

100 Meter von der Zeder entfernt,<br />

wo die ersten beiden Toten gefunden<br />

worden waren. Die drei Männer<br />

und eine Frau wiesen die rätselhaftesten<br />

Verletzungen auf: Der<br />

20-jährigen Ljudmila Dubinina,<br />

die man in knieender Position<br />

fand, waren mehrere Rippen gebrochen<br />

sowie das Gesicht zerschlagen<br />

worden; auch fehlten ihr<br />

die Augäpfel –und die Zunge.<br />

Ähnliche Verletzungen –bis auf<br />

die entfernte Zunge –wies auch<br />

der 38-jährige Semjon Solotarew<br />

auf, der von den Studenten hinzugezogene<br />

Wanderfüher, ein ortskundiger<br />

Profi, der die Tour zuvor<br />

etliche Male unversehrt absolviert<br />

hatte.<br />

DieAugäpfel<br />

und die Zunge<br />

fehlen.<br />

Die anderen beiden Toten hatten<br />

schwere Schädelverletzungen<br />

durch einen stumpfen Gegenstand<br />

erlitten.<br />

Mindestens ebenso mysteriös<br />

war, dass einige der am Djatlow-<br />

Pass sichergestellten Kleidungsstücke<br />

radioaktiv verseucht waren.<br />

Sie gehörten Georgi Kriwonischtschenko,<br />

dem Mann, der auch das<br />

mysteriöse Lichtkugel-Foto machte,<br />

und der als Ingenieur in der geheimen<br />

„Atomstadt“ Tscheljabinsk-40<br />

arbeitete, in der unter anderem<br />

waffenfähiges Plutonium<br />

gewonnen wurde. Dieser Umstand<br />

erklärt wohl auch, warum sich der<br />

KGB seinerzeit einschaltete und<br />

die Ermittlungen um die Toten<br />

vom Djatlow-Pass bremste.<br />

Auch wurde Kriwonischtschenko<br />

als Einziger aus der Gruppe in<br />

einem verlöteten Zinksarg begraben,<br />

und zwar auf einem zu diesem<br />

Zeitpunkt bereits geschlossenen<br />

Friedhof in Swerdlowsk. Anders<br />

als bei den anderen Toten wurde<br />

zudem ein Öffnen des Sargs zum<br />

Abschiednehmen durch die Familie<br />

ausdrücklich untersagt.<br />

Warum? Welches Geheimnis<br />

sollte das Opfer mit ins Grab nehmen?<br />

Buchautor Rakitin vermutet,<br />

dass der tote Ingenieur aus der<br />

„Atomstadt“ vom KGB als Doppelagent<br />

geführt wurde. Er sollte<br />

demnach den Amerikanern die<br />

vermeintliche Probe eines U-Boot-<br />

Anstrichs auf Basis des radioaktiven<br />

Strontium-90 unterjubeln, den<br />

die Sowjets in Wahrheit gar nicht<br />

verwendeten. Man versprach sich<br />

davon, dass der Gegner Forschungs-<br />

und Entwicklungskapazitäten<br />

in eine nutzlose Operation<br />

stecken werde.<br />

Laut Rakitin habe der Ingenieur<br />

dazu vor Beginn der Wanderung<br />

vom KGB drei Kleidungsstücke erhalten,<br />

die mit Isotopenspuren des<br />

angeblichen Strontium-Anstrichs<br />

kontaminiert waren. Während der<br />

Skiwanderung durch den Ural sollte<br />

dann ein als Wanderergruppe<br />

getarntes CIA-Kommando „zufällig“<br />

den Weg der Djatlow-Gruppe<br />

kreuzen und bei diese Gelegenheit<br />

die Kleidungsstücke in Empfang<br />

nehmen. Außer dem Ingenieur waren<br />

nur noch zwei weitere Angehörige<br />

der Gruppe als KGB-Agenten<br />

in die Operation eingeweiht:<br />

der Wanderführer Solotarew und<br />

der 24-jährige Alexander Kolewatow,<br />

die die Aktion absichern und<br />

dokumentieren sollten.<br />

Doch die Übergabeaktion am<br />

Berg Cholat Sjachl, so vermutet es<br />

Rakitin, sei gescheitert. Möglicherweise<br />

hatten die CIA-Agenten<br />

Verdacht geschöpft. Sie zwangen<br />

die russischen Skiwanderer zunächst<br />

mit vorgehaltener Waffe<br />

dazu, in Schlafkleidung in die eiskalte<br />

Nacht davonzulaufen –die<br />

Temperaturen betrugen um minus<br />

30 Grad. Weil die Angreifer sichergehen<br />

wollten, dass keiner der jungen<br />

Leute überlebt, seien sie ihnen<br />

nach einiger Zeit gefolgt und hätten<br />

die durch die Kälte geschwächten<br />

Wanderer bis zur Bewusstlosigkeit<br />

zusammengeschlagen und<br />

sogar gefoltert –die schrecklichen<br />

Verletzungen der beiden zuletzt<br />

gefundenen Opfer weisen darauf<br />

hin.<br />

Ist damit das Rätsel um die Toten<br />

vom Djatlow-Pass geklärt? Die<br />

Staatsanwaltschaft der Ural-Region<br />

Swerdlowsk hat im vergangenen<br />

Jahr überraschend neue Ermittlungen<br />

in dem ungelösten Fall<br />

angekündigt. Allerdings würden<br />

nur natürliche Szenarien wie eine<br />

Lawine oder ein Wirbelsturm als<br />

Ursache der Tragödie geprüft,<br />

heißt es. Für viele Beobachter<br />

steht damit fest, dass die Behörden<br />

die wahren Hintergründe der rätselhaften<br />

Vorgänge am Cholat<br />

Sjachl weiter vertuschen wollen.<br />

Andreas Förster<br />

Fotos: dyatlovpass.com

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