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31. Januar 1959: Sinaida Kolmogorowa<br />
(vorne) und Freunde stehen am Fluss<br />
Auspija. IhreLeiche wird vier Wochen<br />
später gefunden, ihreSchuhe fehlen.<br />
cher Test misslungen und habe<br />
zum Tod der neun Wanderer geführt.<br />
Die jüngste und in ihrer Beweisführung<br />
durchaus schlüssige Version<br />
stammt von einem unbekannten<br />
Autor, der sich das Pseudonym<br />
Alexej Rakitin gegeben hat. In seinem<br />
inzwischen auf Deutsch erschienenen<br />
Buch „Die Toten vom<br />
Djatlow-Pass“ beruft sich Rakitin<br />
unter anderem auf die Untersuchungsakten<br />
einer Expertenkommission,<br />
auf amerikanische Geheimdienstpapiere<br />
und Erkenntnisse<br />
des sowjetischen KGB. Anhand<br />
vieler von ihm präzise<br />
geschilderter Indizien entwirft der<br />
Autor ein Szenario, nach dem die<br />
neun Wanderer Opfer einer fehlgeschlagenen<br />
Geheimdienstoperation<br />
des KGB geworden seien.<br />
Ist damit –sowie Rakitin es im<br />
Untertitel seines Buches verspricht<br />
–tatsächlich<br />
eines der letzten<br />
Geheimnisse<br />
des<br />
1. Februar 1959:<br />
Die Gruppe ist auf<br />
dem Wegzum „Berg<br />
des Todes“. Einen Tag<br />
zuvor entsteht das<br />
Foto des in den Schnee<br />
gefallenen Nikolai<br />
Thibeaux-Brignolle.<br />
Kalten Krieges gelöst? Von der<br />
Tragödie am „Berg des Todes“ hatte<br />
im Februar 1959 zunächst niemand<br />
etwas mitbekommen, war<br />
doch die Ankunft der aus fünf Studenten<br />
aus Jekaterinburg, zwei<br />
Bauleitern, einem Ingenieur und<br />
einem professionellen Wanderführer<br />
bestehende Gruppe in der<br />
Siedlung Wischai erst für den 14.<br />
Februar eingeplant. Als die Gruppe<br />
aber eine Woche überfällig war,<br />
entschlossen sich die Behörden zu<br />
einer Suchexpedition.<br />
Am 26. Februar stieß man auf eine<br />
erste Spur –auf einem Pass zum<br />
Cholat Sjachl fand ein Suchtrupp<br />
das Zelt der Gruppe, dessen Plane<br />
an mehreren Stellen von innen aufgeschlitzt<br />
war. Im Inneren lagen<br />
Kleidung und Ausrüstungsgegenstände,<br />
auch das Expeditionstagebuch.<br />
Der letzte Eintrag darin<br />
stammte vom 31. Januar, demnach<br />
waren alle neun Teilnehmer zu<br />
diesem Zeitpunkt gesund und bester<br />
Stimmung.<br />
Und doch muss sie irgendetwas<br />
aufgeschreckt und aus dem<br />
Zelt gejagt haben.<br />
Auf dem Tisch lag noch ein<br />
ausgepacktes Stück Speck,<br />
als sei gerade das Essen vorbereitet<br />
worden. Im Schnee<br />
vor dem Zelt steckten die<br />
Skier der Wanderer, die sich<br />
offenbar zu Fuß auf den Weg<br />
gemacht hatten. Aber wohin?<br />
Eine erste Antwort auf die<br />
Frage ergab sich am 27. Februar.<br />
Etwa anderthalb Kilometer<br />
vom Zelt entfernt, unter<br />
einer Zeder am Steilufer eines Baches,<br />
wurden zwei Leichen gefunden.<br />
Wenige Stunden später entdeckte<br />
ein Suchtrupp am Berghang<br />
zwei weitere Tote –eswaren<br />
der Expeditionsleiter Igor Djatlow<br />
und eine der beiden Frauen, die 22-<br />
jährige Sinaida Kolmogorowa. Die<br />
Leichen wiesen Abschürfungen<br />
und Blutergüsse auf, keine trug<br />
Schuhe, zwei waren nur mit Unterhosen<br />
bekleidet.<br />
Erst eine Woche später, am 5.<br />
März, wurde unter einer 15 Zentimeter<br />
dicken Schneeschicht das<br />
fünfte Opfer gefunden: der 23-jährige<br />
Rustem Slobodin. Seine Leiche<br />
wies starke Kopfverletzungen<br />
auf –offenbar war der Mann mehrmals<br />
geschlagen worden, bevor er<br />
das Bewusstsein verlor und erfror.<br />
Anfang Mai schließlich gruben<br />
die Suchtrupps die restlichen vier<br />
Leichen aus dem Schnee aus. Sie<br />
fanden sie in einer Schlucht, keine<br />
100 Meter von der Zeder entfernt,<br />
wo die ersten beiden Toten gefunden<br />
worden waren. Die drei Männer<br />
und eine Frau wiesen die rätselhaftesten<br />
Verletzungen auf: Der<br />
20-jährigen Ljudmila Dubinina,<br />
die man in knieender Position<br />
fand, waren mehrere Rippen gebrochen<br />
sowie das Gesicht zerschlagen<br />
worden; auch fehlten ihr<br />
die Augäpfel –und die Zunge.<br />
Ähnliche Verletzungen –bis auf<br />
die entfernte Zunge –wies auch<br />
der 38-jährige Semjon Solotarew<br />
auf, der von den Studenten hinzugezogene<br />
Wanderfüher, ein ortskundiger<br />
Profi, der die Tour zuvor<br />
etliche Male unversehrt absolviert<br />
hatte.<br />
DieAugäpfel<br />
und die Zunge<br />
fehlen.<br />
Die anderen beiden Toten hatten<br />
schwere Schädelverletzungen<br />
durch einen stumpfen Gegenstand<br />
erlitten.<br />
Mindestens ebenso mysteriös<br />
war, dass einige der am Djatlow-<br />
Pass sichergestellten Kleidungsstücke<br />
radioaktiv verseucht waren.<br />
Sie gehörten Georgi Kriwonischtschenko,<br />
dem Mann, der auch das<br />
mysteriöse Lichtkugel-Foto machte,<br />
und der als Ingenieur in der geheimen<br />
„Atomstadt“ Tscheljabinsk-40<br />
arbeitete, in der unter anderem<br />
waffenfähiges Plutonium<br />
gewonnen wurde. Dieser Umstand<br />
erklärt wohl auch, warum sich der<br />
KGB seinerzeit einschaltete und<br />
die Ermittlungen um die Toten<br />
vom Djatlow-Pass bremste.<br />
Auch wurde Kriwonischtschenko<br />
als Einziger aus der Gruppe in<br />
einem verlöteten Zinksarg begraben,<br />
und zwar auf einem zu diesem<br />
Zeitpunkt bereits geschlossenen<br />
Friedhof in Swerdlowsk. Anders<br />
als bei den anderen Toten wurde<br />
zudem ein Öffnen des Sargs zum<br />
Abschiednehmen durch die Familie<br />
ausdrücklich untersagt.<br />
Warum? Welches Geheimnis<br />
sollte das Opfer mit ins Grab nehmen?<br />
Buchautor Rakitin vermutet,<br />
dass der tote Ingenieur aus der<br />
„Atomstadt“ vom KGB als Doppelagent<br />
geführt wurde. Er sollte<br />
demnach den Amerikanern die<br />
vermeintliche Probe eines U-Boot-<br />
Anstrichs auf Basis des radioaktiven<br />
Strontium-90 unterjubeln, den<br />
die Sowjets in Wahrheit gar nicht<br />
verwendeten. Man versprach sich<br />
davon, dass der Gegner Forschungs-<br />
und Entwicklungskapazitäten<br />
in eine nutzlose Operation<br />
stecken werde.<br />
Laut Rakitin habe der Ingenieur<br />
dazu vor Beginn der Wanderung<br />
vom KGB drei Kleidungsstücke erhalten,<br />
die mit Isotopenspuren des<br />
angeblichen Strontium-Anstrichs<br />
kontaminiert waren. Während der<br />
Skiwanderung durch den Ural sollte<br />
dann ein als Wanderergruppe<br />
getarntes CIA-Kommando „zufällig“<br />
den Weg der Djatlow-Gruppe<br />
kreuzen und bei diese Gelegenheit<br />
die Kleidungsstücke in Empfang<br />
nehmen. Außer dem Ingenieur waren<br />
nur noch zwei weitere Angehörige<br />
der Gruppe als KGB-Agenten<br />
in die Operation eingeweiht:<br />
der Wanderführer Solotarew und<br />
der 24-jährige Alexander Kolewatow,<br />
die die Aktion absichern und<br />
dokumentieren sollten.<br />
Doch die Übergabeaktion am<br />
Berg Cholat Sjachl, so vermutet es<br />
Rakitin, sei gescheitert. Möglicherweise<br />
hatten die CIA-Agenten<br />
Verdacht geschöpft. Sie zwangen<br />
die russischen Skiwanderer zunächst<br />
mit vorgehaltener Waffe<br />
dazu, in Schlafkleidung in die eiskalte<br />
Nacht davonzulaufen –die<br />
Temperaturen betrugen um minus<br />
30 Grad. Weil die Angreifer sichergehen<br />
wollten, dass keiner der jungen<br />
Leute überlebt, seien sie ihnen<br />
nach einiger Zeit gefolgt und hätten<br />
die durch die Kälte geschwächten<br />
Wanderer bis zur Bewusstlosigkeit<br />
zusammengeschlagen und<br />
sogar gefoltert –die schrecklichen<br />
Verletzungen der beiden zuletzt<br />
gefundenen Opfer weisen darauf<br />
hin.<br />
Ist damit das Rätsel um die Toten<br />
vom Djatlow-Pass geklärt? Die<br />
Staatsanwaltschaft der Ural-Region<br />
Swerdlowsk hat im vergangenen<br />
Jahr überraschend neue Ermittlungen<br />
in dem ungelösten Fall<br />
angekündigt. Allerdings würden<br />
nur natürliche Szenarien wie eine<br />
Lawine oder ein Wirbelsturm als<br />
Ursache der Tragödie geprüft,<br />
heißt es. Für viele Beobachter<br />
steht damit fest, dass die Behörden<br />
die wahren Hintergründe der rätselhaften<br />
Vorgänge am Cholat<br />
Sjachl weiter vertuschen wollen.<br />
Andreas Förster<br />
Fotos: dyatlovpass.com