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Ein Arzt im Lager

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Der Hunger meldet sich bei einigen. Meine Sachen und mein Essen kamen noch<br />

<strong>im</strong>mer nicht. Die Arme bemüht sich wohl um wichtigere Dinge. Für etwas Geld bringt<br />

mir einer der Gendarmen eine Wurst und eine Schachtel guter Bisquitte aus dem<br />

Bahnhofsrestaurant. Im Waggon wird schon fleißig gegessen. <strong>Ein</strong>er öffnet den Brotsack<br />

und reicht Brot und Wurst an mehrere. Gruppen entstehen, und diese Gruppen bleiben<br />

und halten auch viel später zusammen. Die St<strong>im</strong>mung wird besser. Man ist untereinander<br />

und sozusagen unter einem Dach. Essen verbessert auch die St<strong>im</strong>mung. Holdi füttert<br />

mich. Er hat es mir als erster angeboten. Man spricht zueinander, leise, aber <strong>im</strong>merhin,<br />

bisher hatte man geschwiegen. Nun kommt das Problem Schlafen. Die Wagentüren sind<br />

inzwischen geschlossen worden, die Gendarmen, müde des stundenlangen Wartens,<br />

haben sich in das Bahnhofslokal begeben. Die beste Lösung ist 9 rechts, 9 links, Decken<br />

unterlegen, Rucksack als Kopfstütze, Köpfe an den Wagenrand, Beine zur Wagenmitte,<br />

gemeinsame Decken zum Zudecken. Vorschläge, Frauen und Männer zu isolieren,<br />

werden abgelehnt. Turri ist schon auf die Frauenseite übergegangen, liegt rechts von Ray<br />

und flüstert mit Eifer, anscheinend eine medizinische Lektion, Frau Adele hat den kleinen<br />

Wassermann zum Partner. Die halbe Kerze ist fast niedergebrannt, flackert unruhig. Wir<br />

liegen in Reihen. Die Beine berühren einander, streifen einander, die Körperwärme geht<br />

aufeinander über. Die dünnen Seidenstrümpfe der Frauen sind auch durch den Strumpf<br />

am Männerfuß deutlich zu unterscheiden. Die Kerze ist gelöscht. <strong>Ein</strong>e schwüle<br />

Atmosphäre entsteht <strong>im</strong> Raum. Das Flüstern ist erstorben. Das kritische Gehirn arbeitet.<br />

Ist das möglich, der kalte Viehwaggon in der Septembernacht, der herzzerreißende<br />

Abschied vor einigen Stunden, die Gehe<strong>im</strong>polizei, die Gendarmerie?<br />

Gegen 4 Uhr morgens gibt es einen Ruck, dann noch einen, und wir fahren. Die<br />

kleinen Luken des Viehwagens sind hoch und geschlossen. Wir sehen und hören nichts<br />

anderes als das Rollen des Zuges und merken, wenn er wieder einmal steht.<br />

Im Zuge hat jeder noch eine Hoffnung. Noch sind wir <strong>im</strong> Sprengel unserer<br />

Regierung, dem unserer Eisenbahndirektion. <strong>Ein</strong> telefonischer Anruf kann nachkommen,<br />

ein Auto den Pendelzug überholen. An einer Station wird sich die Wagentüre öffnen für<br />

den Weg zurück. Hoffnung hört nie auf. Hoffnungslos ist das Urteil eines Dritten, der<br />

Betroffene kennt es nicht. Die Stunden verrinnen, der Zug hält mehr als er fährt. Da und<br />

dort ein leises Schnarchen. <strong>Ein</strong> unruhiger Schlaf mit wüsten Träumen. Das Licht scheint<br />

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