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Ein Arzt im Lager

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Noten schreiben, Lieder einstudieren, nur nicht müßig herumsitzen. Wie wichtig das ist,<br />

weiß wohl keiner, der nicht einmal einer hilflosen und hoffnungslosen Masse angehört<br />

hat. Gib jedem das Bewußtsein, daß er etwas tut, sogar etwas Nützliches tut, spende<br />

seinem Tun Anerkennung, und die Moral festigt sich und steigt, Dieses psychologische<br />

Faktum kennen Führer und Demagogen. Seine planvolle Ausnützung <strong>im</strong> Sinne der<br />

Betäubung einer ganzen, großen Bevölkerung erlebten und erleben wir in allen<br />

Diktaturstaaten. Schwere und schlecht bezahlte Arbeit verbrämt durch Blechplättchen<br />

und Titel, Versammlungen nach der Arbeit, Vorträge und Lektionen von bis zum<br />

Überdruß gehörten Themen, Ausfüllung der Freizeit durch Übungen, Führungen,<br />

Vergnügungen bis zum Äußersten! Nur nicht denken! Nur nicht denken! Hier gab es zu<br />

wenig Arbeit, praktisch gar keine, hier galt es, dem Leben einen Inhalt zu geben, dem<br />

<strong>Ein</strong>zelnen einen kleinen Halt, eine Cäsur <strong>im</strong> Ablauf der Tage. Denken ja, doch nicht<br />

verzweifeln. Es gelang. Semmel, der nicht das Klosett reinigen wollte, wurde ein<br />

ausgezeichneter Klosettaufseher, Segall, der halbverrückte Apothekergehilfe, der<br />

stundenlang gegen alles reden konnte, ging Kräuter suchen in den Wald, je einem <strong>Arzt</strong><br />

obliegt die Läusejagd in einer Hundertschaft und dazu bekommt er noch Gehilfen, und<br />

Farkany, der seinen Laden mit medizinischen Apparaten in Arad verlassen mußte,<br />

schrieb aus dem Kopf die Noten zum Lied zur Freude, übte es mehrst<strong>im</strong>mig mit 20<br />

Mädchen ein und beschäftigte so auch diese.<br />

Frauen bekamen die Küche, die Wäschereparatur und auch die Dichtung und den<br />

Gesang. <strong>Ein</strong> Damenstrumpf gab aufgetrennt einen ganzen Knäuel von Zwirn, und ob die<br />

Flecke in der Unterwäsche mit schwarzem oder rotem Zwirn eingesetzt waren, das störte<br />

doch niemanden. Vapniarka war kein leerer Name. Die Erde hatte Kalk, Chlorkalk in<br />

ihren <strong>Ein</strong>geweiden. Das Wasser war wohl chlorhaltig und zerfraß die Wäsche<br />

unglaublich rasch. Doch vielleicht war der Grund der, daß wir so wenig mit hatten.<br />

Neue Lieder schossen auf, traurige mit ermutigendem Unterton: “In Vapniarka, in<br />

der Ferne, ist das Leben uns schwer, unser Denken flüchtet weithin, an unsere Lieben<br />

denken wir.” Die Melodien wurden frei entlehnt, ein großer Teil hatte Tradition vom<br />

jahrelangen Aufenthalt in <strong>Lager</strong>n und Gefängnissen. Sie kannten die Lieder, mit denen<br />

sie brutale Gefängniswärter bis zur Verzweiflung gequält hatten, mit denen sie die<br />

Schreie der Geprügelten zu übertönen pflegten und die sie sangen, um sich Mut und das<br />

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