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Ein Arzt im Lager

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Und so bleibt es. Mit Baumzweigen verjagen wir die Millionen Stubenfliegen, die noch<br />

flugfähig sind, dann kehren wir die halb erstarrten, die Wände und Decke als homogene,<br />

schwarze Kruste bedecken, ab. Darunter erscheint eine graue Wand. Wir hatten schon<br />

lange vergessen, daß die Wand eine Farbe hatte. Kalk gibt es <strong>im</strong> <strong>Lager</strong>. Wir fanden ganze<br />

Fässer voll mit scharf riechendem, blauweißem Chlorkalk. Wir lösen ihn und tünchen die<br />

Wände. “Ihr werdet schon sehen, Kinder, das wird ihnen nicht schmecken, darauf werden<br />

sie sich nicht setzen.” Wir hassen die Fliegen. Sie fallen in unsere Erbsenkübel in solchen<br />

Massen, daß wir, bis der Kübel ins Z<strong>im</strong>mer kommt, einige Minuten damit verlieren, bis<br />

wir die mehrere Zent<strong>im</strong>eter dicke Fliegenschicht abgeschöpft haben. Zum Glück sind sie<br />

leicht und schw<strong>im</strong>men obenauf. Sie kriechen uns während des Essens in den Mund, sie<br />

verfolgen uns in die Latrine. Das kitzelt und brennt. Fliegen sind nicht so eklig wie<br />

Würmer, Schaben u.a., aber einfach störend. Die Wände sind weißblau, die Fenster von<br />

Dreck gereinigt, richtig durchsichtig, die Pritschen gewaschen, der Boden abgekratzt und<br />

mit Wasser nachgespült. Der alte Moritz hat nicht nur Rat und Beispiel gegeben, sondern<br />

zugegriffen und mehr gearbeitet als wir alle anderen zusammen.Wir legen unsere Decken<br />

sorgfältig auf die reinen Bretter, Moritz seine dicke, graue Bauerndecke mit schwarzem<br />

Rand, die er schon zu Hause auf seinem Balkon als Schlafunterlage benutzt hatte. Er hat<br />

vorgearbeitet und schon Wochen vorher auf Betonunterlage geschlafen, “Ich denk nicht<br />

so viel wie ihr, aber ich bin ein praktischer Mensch und hab’ mir gedacht, man kann nicht<br />

wissen, was kommt.” Darum hat er geübt, hart geschlafen. Dann kommt Gustl’s Decke<br />

als Unterlage und ein Plaid zum Zudecken, dann Turri, Emanuel, ein schmaler freier<br />

Raum, Epstein, ein Bett, eine Strohunterlage, wie <strong>im</strong> Stall, und darauf Karmelin, das<br />

Pferd. Die Kunst des Zudeckens löst jeder für sich. Der kleine Aufleger liegt warm in<br />

Moritzs Bauchfalte und liegt auf seinem Mantel, ein Erbstück vom Großvater her. Mäntel<br />

mit Verstand zusammengeknöpft geben eine gute Decke, wenn man sich nur nicht zu<br />

stark bewegt und die Teile durcheinanderbringt. Vor zu starkem Bewegen bewahrt uns<br />

die Enge. Wir schlafen seitlich in Reih und Glied, und wenn dem Alten der Fuß<br />

einschläft und er nicht mehr kann, dann fragt er: “Kinder, ich kann mir nicht helfen, ich<br />

muß mich umdrehen,” und die ganze Reihe tut stumm das Gleiche. So tragen wir dann<br />

unsere Sachen hinein, hängen Papier an unsere Wandnägel und dann erst unsere Sachen,<br />

denn die Wand färbt ab. Wir schichten und ordnen und fühlen uns ungemein gehoben.<br />

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