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<strong>Ein</strong> <strong>Arzt</strong> <strong>im</strong> <strong>Lager</strong><br />
Die Fahrt ins Ungewisse: Tagebuch und Aufzeichnungen eines Verschickten<br />
Aufzeichnungen und Erinnerungen sind Mosaiksteine, die gesammelt und<br />
zusammengefügt späteren Generationen einen Ausschnitt und <strong>Ein</strong>blick in diese trübe<br />
Zeitperiode übermitteln können. Viele haben Schwereres erlebt und gesehen und viele<br />
haben die Gabe, es treuer oder spannender mitzuteilen, doch die meisten kehrten nicht<br />
zurück oder kamen in einem Seelenzustand, in dem sie das Erlebte nicht mehr<br />
wiedergeben konnten, denn Erniedrigung, Angst, Verzweiflung, Spannung und Apathie<br />
sind <strong>im</strong>stande, auch eine wertvolle Gesamtpersönlichkeit zu erdrücken.<br />
Gedacht sei der guten und wertvollen Menschen, die dort verscharrt blieben, und<br />
der anständigen, denen durch böse Nachrede Unrecht geschah.<br />
Kleine Teile der erhaltenen Aufzeichnungen wurden ausgeschaltet, solche die noch<br />
Lebende verletzen, Verdrängtes aufrühren und deren Eigenleben zerstören könnten. Es<br />
waren eben trübe Zeiten.<br />
Thirty five years have passed since the Holocaust ended.<br />
Soon there will no longer be a generation which remembers:<br />
There will be only those who have been told. Every<br />
survivor’s voice is precious, provides a memorial, a<br />
reminder and warning of the thin veneer of what we call<br />
“civilization.”<br />
Geoffrey Wigodor, in a book critique,<br />
Jerusalem Post, Friday, July 15, 1980, p. 16
I. Im <strong>Lager</strong><br />
II. Im Ghetto<br />
III, Der Weg zurück<br />
Die Fahrt<br />
<strong>Lager</strong>leben<br />
Die große Krankheit<br />
<strong>Ein</strong>ordnung<br />
Durchzug der Sklaven<br />
<strong>Arzt</strong> <strong>im</strong> Ghetto<br />
Ghettobilder<br />
Besuch in Obodovka<br />
Die Repatriierung der Kinder<br />
In Händen der Partisanen<br />
Die Kampffront nähert sich<br />
Die Flucht<br />
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Wir hatten schon von der Liste der Verdächtigen gehört, daß dieser oder jener<br />
darauf sei und Geld gegeben hätte, um gestrichen zu werden. Schließlich war uns doch<br />
manchmal die beruhigende Versicherung abgegeben worden, daß nach den zwei großen<br />
Deportierungswellen nicht mehr verschickt werde, höchstens vielleicht noch die<br />
Verdächtigen. Menschen machen gerne Rangunterschiede, in jedem Zustand, auch <strong>im</strong><br />
größten Elend. Wir sind alle in der gleichen Gefahr der Verschickung in ein für die<br />
Vernichtung der Ankommenden vorbereitetes Land, und da gibt es Kategorien der<br />
Getauften, der falsch Getauften, der Söhne von Helden des letzten Krieges und so fort bis<br />
zu solchen mit Bleibe-Autorisationen erster Güte durch den General und letzter Güte<br />
durch den Bürgermeister. Das geht so weiter bis hintunter zu den Verdächtigen.<br />
Am 4. September 1942 wird uns klar, daß etwas geschehen ist. Vorbereitungen<br />
werden in der Polizei getroffen, wir sind in Gefahr. Es beginnt das übliche Herumlaufen<br />
zu diesem und jenem Gönner, die Brücken zu dem Leiter der Polizei werden in<br />
Bewegung gesetzt, halbe Zusicherungen, ebensolche Andeutungen sind das Resultat. Bis<br />
zum Abend ergibt sich als Situation: es besteht weiter große Gefahr, aber, man wird ja<br />
bescheiden, diese Nacht können wir ruhig schlafen. Im gleichen Augenblick, in dem<br />
unser Freund und Anwalt diese Worte in unserem geräumigen Wohnz<strong>im</strong>mer ausspricht<br />
und wir uns aufatmend zu Tisch setzen, öffnet sich die Türe, und es erscheint der<br />
Kommissar der Gehe<strong>im</strong>polizei, Millie, derselbe bucklige Sadist, der schon einmal die<br />
Verhaftung vollzogen hat, begleitet von einem zweiten Kommissar und zwei Polizisten.<br />
<strong>Ein</strong>e einladende Handbewegung mit einem anscheinend bedauernden Achselzucken und<br />
die Kette des Elends kann beginnen, hinein in die Menschenmühle. Im Nebenz<strong>im</strong>mer ein<br />
Wort des Trostes und der Ermunterung an die bleiche Gattin und die hilflosen alten<br />
Eltern. “Lasset euch nicht gehen, zeigt ihnen nicht, was ihr fühlet.” <strong>Ein</strong> Kuß auf die<br />
rosige Wange des schlafenden Kindes, und unter Bewachung der beiden Polizisten geht<br />
es zum Polizeigefängnis. Die Kommissare gehen ihre Amtshandlung fortsetzen, zum<br />
nächsten Fall.<br />
Im Tor der Polizeidirektion gibt es die ersten Begrüßungen, die üblichen<br />
Besch<strong>im</strong>pfungen und Verspottungen durch Polizisten. Diese ursprünglichen Bauernsöhne<br />
haben vom Bauerntum nur ihre Pr<strong>im</strong>itivität und Unbildung behalten, durch die Stadt den<br />
Mißbrauch von Suff, Karten und Tabak gelernt und <strong>im</strong> Beruf Prügeln, Bestechungen<br />
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nehmen, Erpressung dazugelernt. Am Ende des Torganges steht zufällig, breit und<br />
elegant, der Kommissar B., Leiter des Meldeamtes. “Ah! Wie ist der Name? Ja, natürlich,<br />
die ganze Stadt weiß ja, wer du bist, ein Agitator, ein gefährliches Individuum.” Er läßt<br />
es sich nicht nehmen, eine kleine Ansprache voll von Besch<strong>im</strong>pfungen und Drohungen<br />
loszuwerden. Ich sah ihn an. Er kennt wohl kaum meinen Namen, aber die Deutschen<br />
stehen vor Moskau, wir Rumänen müssen zeigen, daß wir den neuen Geist begreifen und<br />
es laut heraussagen. Der Weg führt durch einen langen Gang zum Z<strong>im</strong>mer des<br />
diensthabenden Kommissars <strong>im</strong> Vorraum des Gefängnisses. Ich kenne die<br />
Räumlichkeiten, die Prozeduren, nehme Krawatte und Hosenträger rasch ab, lege sie mit<br />
dem Inhalt aller Taschen in den Hut, verstecke Bleistift <strong>im</strong> Schuh und etwas Geld in der<br />
Uhrentasche, hebe die Hände zur Körpervisite und werde schließlich einem der Schließer<br />
übergeben, der mich in die Zelle bringt. Dieser Raum ist mir unbekannt. Er ist <strong>im</strong> Parterre<br />
gelegen. Bisher logierte ich <strong>im</strong> ersten Stockwerk. In der Zelle steht und liegt nichts als<br />
eine kurze Bank. Mit dem Gefühl —endlich allein— breite ich meinen Mantel auf dem<br />
etwas feuchten Steinboden aus und lege mich nicht einmal schlafen. Ich sitze auf der<br />
Bank und erwäge. Vielleicht haben sie mich doch aus anderer Ursache genommen, nicht<br />
zur Verschickung, denn sonst müßten ja auch andere da sein. Das Gehirn arbeitet, ersinnt<br />
andere Möglichkeiten. Nach einer halben Stunde erscheint mit verstörtem Blick der<br />
Berufskollege, Dr. E. Nun ist es klar. Er war auf der Liste Nr. 1 und verschwand durch<br />
Geld und gute Beziehungen, aber wohl erst, nachdem diese Liste schon an die Zentrale<br />
nach Bukarest abgegangen war. Noch ein dritter und vierter erscheint, und dann staut sich<br />
schon der Weg ins Gefängnis be<strong>im</strong> amtierenden Kommissar, denn dauernd erscheinen<br />
neue Leidensgenossen, aus dem Bette gerissen, jeder in seiner Art auf den psychischen<br />
Schock reagierend. Die meisten sind ruhig, der Abschiedsschmerz zittert in ihnen nach.<br />
Erst gegen 5 Uhr früh erscheint <strong>im</strong> Sportdress mit meisterhaft gepacktem Rucksack unser<br />
alter Freund Bronfisch (derselbe, der am 28. Juni den Offizieren seine<br />
Familiengeschichte als ein Muster der Gerechtigkeit zum besten gab). Nach einem<br />
freundlichen “guten Morgen” verteilt er verbotene Zigaretten und bringt mit lauter<br />
St<strong>im</strong>me eine der Örtlichkeit gar nicht angepaßte Unterhaltung in Gang. Er weiß natürlich<br />
alles, hat es vorher schon gewußt, und schließlich läßt sich jeder gerne aus seinem sturen<br />
Dahindösen und <strong>im</strong> Kreise Denken herausreißen, hört zu, lacht sogar. Die Gruppe<br />
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eginnt zusammenzugehören. Aber noch gibt es Unterschiede. Der Zahnarzt, der mit uns<br />
in der Zelle sitzt, behandelt den deutschen Konsul—der eine hat diese und der andere<br />
jene Verbindung in hohen Kreisen.<br />
Um 6 Uhr wird die Zelle geöffnet, der Aufseher erscheint, läßt uns der Reihe nach<br />
zum Waschraum gehen. Wir erfahren, daß einige Frauen ausgehoben wurden und in<br />
welcher Zelle sie sind, blicken durch den Spion, bis auch sie den Morgengang gehen<br />
dürfen. Wir sehen eine kleine, blonde mit Stechschrittgang, eine magere mit damenhafter<br />
Frisur und dann eine alte Frau in schmutzigem Kleid mit zerrauftem Haar den Weg zum<br />
Waschraum nehmen. Das werden, durch die süßlich in vielen Sprachen sprechende,<br />
hysterische, auf Gefühlskonflikte reagierende Frau R. vermehrt, unsere Genossinnen für<br />
die Reise ins Elend sein.<br />
Doch das ist noch nicht das Ende. Schon in den ersten Vormittagsstunden kommen<br />
die Thermosflaschen mit heißem Tee und Eßpaketen und damit die ersten<br />
eingeschmuggelten Nachrichten mit ermutigenden Zusicherungen wohl für jeden. Dieser<br />
General hat versprochen, und dieser kleine Agent hat versichert, das Geld wurde<br />
deponiert, und der Advokat hat zugesagt. Die konkrete Versicherung, daß sich der<br />
deutsche Konsul für mich und den Zahnarzt interessiert, erreicht mich mittags. Ich<br />
bespreche mit ihm unauffällig diese Nachricht, ohne zuviel Erwartung in sie zu setzen.<br />
Der Konsul ist ein musikliebender, hochgebildeter Mann, der, wo er kann, den unruhigen<br />
Nachbarn und Nachahmer der <strong>im</strong>portierten neuen Weltanschauung zügelt und Unglück in<br />
seinem kleinen Kreise abzumindern versucht. Dem hat er auch den Übergang von einer<br />
großen Metropole in eine Provinzstadt zu verdanken. Er handelt auch wirklich. Am<br />
späten Nachmittag erscheint einer seiner Beamten in der Polizeidirektion, kurz darauf<br />
werden wir zum Polizeidirektor gerufen. Den Vizekonsul treffen wir noch auf der Stiege.<br />
Der Direktor spricht ein paar belanglose Worte über irgendwelche Interventionen, n<strong>im</strong>mt<br />
uns das Versprechen ab, die Stadt nicht zu verlassen, auch überflüssig, denn es ist uns<br />
ohnehin verboten und unmöglich, und wir sind entlassen. Unser Weg führt in die Zelle,<br />
wir übernehmen Briefe und Nachrichten, zur Kleiderabgabe, wo wir Hut, Krawatte und<br />
Hosenträger bekommen und gleich zu den Angehörigen unserer Zellengenossen. Nach<br />
Erledigung der Aufträge geht es nach Hause, unauffällig ins Arbeitsz<strong>im</strong>mer, an den<br />
Schreibtisch. Die Überraschung bei zufälligem Öffnen der Türe ist groß und echt. Am<br />
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Abend melden sich trotz des Ausgehverbotes Freunde, die Freude ist groß. Jeder der<br />
vielen Gönner reklamiert das Verdienst für sich, jeder hat den Maßgebenden gesprochen<br />
und die Sache aufgeklärt. Wir versuchen, das Intermezzo zu vergessen. Man darf sein<br />
Gehirn nicht zuviel belasten, denn man weiß nicht, was alles noch kommt. Wir dachten<br />
ja, das Repertoire sei zu Ende. Nach Absolvierung von SS, Siguranza, Kriegsgericht<br />
müßte eigentlich eine Läuterung vollzogen sein und der Mensch rein dastehen. Es gibt<br />
aber wohl kein Ende in der Kette, Glied fügt sich an Glied.<br />
Der nächste Tag wird ein normaler Arbeitstag. Am Nachmittag erscheint noch eine<br />
dringende Bestellung zu einem schweren Ruhrfall. Der Weg ist weit, führt an Kasernen<br />
vorbei. <strong>Ein</strong> Fahrzeug gibt es nicht. Der Schein vom Ärzteverein berechtigt zwar zu<br />
beruflichen Gängen in den verbotenen Stunden, aber es kann <strong>im</strong>mer etwas passieren. Die<br />
Frau hatte heute über 20 Stühle, ist sicher entwässert, hat Blut verloren. Der Weg bergab<br />
und bergauf dauert lange, Serum, Kochsalz-Injektionen und Kochen der Instrumente<br />
verschlingt Zeit, es wird Abend, bis ich den He<strong>im</strong>weg antrete. In der Nähe des<br />
Stadtzentrums treffe ich meine Frau. Sie hat sich, besorgt über mein Fortbleiben, auf die<br />
Straße getraut. Wir gehen einige Schritte zusammen, auf der anderen Straßenseite gehen<br />
zwei junge Zivilisten, sie kommen zu uns hinüber und fordern mich auf, mitzukommen.<br />
“Du fährst mit den anderen.” Die Frau rennt, ungeachtet des Verbotes, die üblichen<br />
Wege, Rettungsversuche.<br />
Ich komme in die nahe Polizeidirektion, bleibe <strong>im</strong> Vorraum des Gefängnistraktes.<br />
Nach einer Stunde erhalte ich einen Rucksack mit Wollwäsche, warmer Kleidung und<br />
festen Schuhen und tausche sie gegen die sommerliche Stadtkleidung, Halbschuhe und<br />
das Ärzteköfferchen ein. Das geschieht nur zur Vorsicht, denn die Interventionen laufen<br />
weiter, und <strong>im</strong> Bedarfsfalle bekomme ich Ausrüstung und Lebensmittel. Wir<br />
verabschieden uns, auch nur zur Vorsicht. Jeder muß versuchen, gesund zu bleiben und,<br />
sobald er kann, hinauszukommen. Gelingt es, dann treffen wir uns wieder, wenn auch<br />
nach Jahren. Das Kind hätte ich gerne noch einmal gesehen.<br />
Inzwischen beginnen <strong>im</strong> Gefängnis die Vorbereitungen. Es sickert auch schon<br />
durch, daß wir nicht in ein <strong>Lager</strong>, sondern irgendwohin in ein Gefängnis, vielleicht sogar<br />
nach Transnistrien kommen. Die Freunde erscheinen aus der Zelle, erhalten ihre Sachen<br />
zurück, ich warte auf Essen und Kleidung. Es ist Zuwachs gekommen. <strong>Ein</strong>e zweite Serie<br />
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wurde am nächsen Tag ausgehoben. <strong>Ein</strong>er, der sich versteckt gehalten hat, ist, als man<br />
seine Frau als Ersatz zurückhielt, erschienen, der rote, bebrillte Emanuel. Dagegen hat<br />
der Zahnarzt Wind bekommen und ist verschwunden. Verstecken hat sich in der Regel<br />
bei allen Deportationen bewährt. Ist einmal der Transport fort, dann gibt es Mittel und<br />
Wege.<br />
Nun werden wir aus dem Gefängnis in den zweiten Stock, dem Sitz der Siguranza,<br />
der Gehe<strong>im</strong>polizei, geführt. Wir stehen in einem langen, breiten Gang, von dem aus die<br />
Türen in die einzelnen Büroz<strong>im</strong>mer führen, die Fenster gegenüber gehen zum Hof. Die<br />
Rucksäcke, Decken, Brotsäcke, und die aufspringenden, mit Stricken notdürftig<br />
usammengehaltenen Koffer unseres roten Emanuel stehen am Boden. Ich warte noch auf<br />
meine Ausrüstung, und die alte Frau hat gar keine Bündel. Sie hat niemanden in der<br />
Stadt, der ihr etwas schicken kann. Noch bewachen uns städtische Polizisten, die<br />
Übergabe an die Gendarmerie ist noch nicht erfolgt. Der Amtsvorgang beginnt. <strong>Ein</strong>e<br />
breite Tür wird geöffnet. An einem großen Tisch sitzt am Kopfende der Chef der<br />
Gehe<strong>im</strong>polizei, Cojocariu, der gefürchtete Mann der Stadt. Seine Qualitäten sind nicht<br />
mit Worten zu beschreiben. Nach seinen Taten verdient er einen mittelalterlichen,<br />
grausamen Tod mit Verschickung der Gliedmaßen nach Vierteilung in alle<br />
H<strong>im</strong>melsrichtungen. Noch vier Beamte sitzen am Tisch, je zwei an den beiden<br />
Breitseiten. Wir werden einzeln vorgerufen, nach unserem Namen und Personaldaten<br />
gefragt, Identitätszeugnisse mit Bild werden verlangt. Die Beamten beugen sich über ihre<br />
Bücher. Wir werden da gestrichen, dort eingetragen. Cojocariu sitzt obenauf, das graue<br />
Haupt zurückgeworfen mit der Miene eines satten Löwen. Hie und da fällt ein rauhes<br />
Wort, eine Anzüglichkeit. Jeder reagiert auf seine Art. Der alte Moritz hält den Kopf<br />
hoch, tritt laut auf, schreit ihnen Namen und Titel ins Gesicht. <strong>Ein</strong> anderer stöhnt und<br />
stottert mit wackelnden Knien, ich sehe sie mir sehr ernst, aber ruhig an. Der letzte war<br />
angetreten, die Listen sind getippt, mit verschiedenen Rubriken, die letzte mit<br />
Jahresangaben. Ohne Richter und ohne (juridisches) Verfahren werden uns hier die Jahre<br />
verordnet.<br />
Nun erscheint eine Abteilung Gendarmerie, ein forscher, ganz junger Unteroffizier<br />
führt das Kommando und übern<strong>im</strong>mt uns aus der Hand der Polizei. Die Zahl, die ihn bloß<br />
interessiert, st<strong>im</strong>mt, seine Leute nehmen den Platz der Polizisten ein, alles kann glatt<br />
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gehen. Doch nun kommt Frau Adele zu ihrer großen Szene. Ihre Tochter, die an einem<br />
der nächsten Tage auf einer abenteuerlichen Bootfahrt ins Ausland gehen soll, ist<br />
erschienen. Sie will ihr Kind noch einmal umarmen, und als ihr das durch die Gendarmen<br />
verwehrt wird, beginnt sie mit Weinen, es folgt Zittern, Heulen, Zähneklappern, der<br />
große Bogen nach rückwärts, und schließlich Kniefall mit pathetischem Anruf von Gott<br />
und allen Heiligen, dazwischen <strong>im</strong>mer wieder Versuche, durch die Kette der Gendarmen<br />
zu ihrer Tochter durchzudringen. Der Unteroffizier, der keine psychologischen<br />
Kenntnisse hatte und auch keinen guten Willen, denn er hatte noch keine Bestechung<br />
erhalten, ließ sich mit seinem Kommando verbinden und forderte Ketten an, da<br />
Ausbruchsgefahr bestand. Die Ketten wurden nach einer halben Stunde gebracht, und bei<br />
Drohung der Anlegung wurde alles still, auch Frau Adele. Er war also doch ein<br />
Psychologe auf seine Art. Außerdem wußte er wohl aus Erfahrung, daß große anfängliche<br />
Strenge die späteren Bestechungssummen vervielfacht. <strong>Ein</strong> Freund des alten Moritz, der<br />
Polizeikommandant des Sektors, in dem er jahrzehntelang Bezirksarzt war, hatte sich<br />
eingefunden, bewegte sich unauffällig in unserer Nähe und trug wohl dazu bei, die ganz<br />
unnütze Fesselung abzuwehren. Der Unteroffizier hat unsere Begleitpapiere aus der Hand<br />
der gehe<strong>im</strong>en Staatspolizei übernommen. Jetzt is er der Herr. Es heißt nun: Hände hoch!<br />
Höchstpersönlich tastet er uns ab, kontrolliert den Tascheninhalt, konfisziert<br />
Taschenmesser, Scheren und andere Waffen. Dann läßt er jeden zu seinem Gepäck treten<br />
und befiehlt den Abmarsch.<br />
Es geht durch den langen Gang, dann die Treppe hinunter und den Gang zum<br />
Haupttor. Neugierige Beamten der Polizei beobachten das Schauspiel, Polizisten machen<br />
ihre Bemerkungen, Emanuels Koffer machen von Anfang an Schwierigkeiten, die<br />
anderen tragen schwere Rucksäcke, Brotsäcke, Flaschen. Vor dem Tor wartet ein<br />
Polizeiauto, eine Art Lastwagen, bei dem die Karosserie statt der Seitenwände einige<br />
Reihen von Bänken mit Lehnen trägt. Wir sind 18, und es ist ziemlich eng. Die<br />
Wachmannschaften klammern sich an den Wagenrand. Wir sind sehr still, helfen uns<br />
gegenseitig in den Wagen und be<strong>im</strong> Verstauen der Gepäckstücke, streiten nicht um Platz.<br />
Der Wagen fährt durch eine kurze Straße, biegt um die Ecke und erreicht nach einigen<br />
Minuten die Hauptwache der Gendarmerie <strong>im</strong> Stadtzentrum. Hier erhält unser<br />
Unteroffizier die genauen Instruktionen. <strong>Ein</strong> junger, dicker Leutnant mit rundem<br />
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Balbobart erscheint trotz der vorgerückten Nachtstunde und des kühlen<br />
Septemberwetters, um uns zu besichtigen und uns eine Probe über unsere neue Situation<br />
zu geben. Nach den üblichen Besch<strong>im</strong>pfungen, die in die Genitalregion der Großmutter<br />
des Teufels gehen, wendet er sich an die Begleitgendarmen. “Was werdet ihr tun, wenn<br />
einer entfliehen will?” Er läßt sie absteigen, den Wagen umgeben, das Gewehr anlegen<br />
und instruiert sie mit bösen Worten zur Härte und Roheit. Auch diese Szene n<strong>im</strong>mt ihr<br />
Ende, der dicke Leutnant hat seinen Spaß gehabt, begibt sich in sein Dienstz<strong>im</strong>mer.<br />
Unser Unteroffizier erscheint, die Gendarmen sitzen auf, wir fahren durch die<br />
menschenleeren Sraßen der Stadt hinunter zum Bahnhof. Am Lastbahnhof steht der<br />
reservierte Waggon. Es ist Nacht, finster, unsere Gendarmen stehen in Gruppen und<br />
rauchen Zigaretten. Der Zaun, der diesen Teil des Bahnhofes von der Straße trennt, ist<br />
nur wenige Schritte weit. <strong>Ein</strong> paar Sprünge, und wenn es gelingt! Wir wissen jetzt schon,<br />
daß es nicht in ein nahes <strong>Lager</strong>, sondern über den Dniester nach Transnistrien geht, und<br />
daß das für uns Auslöschung bedeuten kann. Aber gerade wenn es gelingt, was dann? Die<br />
Familie kommt sicher in Gefahr. Verstecken ist gut für Tage, Wochen, aber für <strong>im</strong>mer?<br />
<strong>Ein</strong> höherer Offizier in Gendarmerie-Uniform erscheint. Die Rucksäcke<br />
ausschütten! Der Reihe nach legt jeder seine Decke auf den Boden und schüttet den<br />
Inhalt seiner Säcke hinein. Die Soldaten entfalten jedes Wäsche- und Kleidungsstück,<br />
öffnen Schachteln und Dosen. Er sieht zu, greift nur ein, wenn ihm eine Sache gefällt.<br />
Brunos Briefmarkensammlung interessiert ihn. Er will wissen, wozu er sie mitgenommen<br />
hat. Bruno hat für alles eine Antwort. Er n<strong>im</strong>mt nur einige der besseren Stücke. Nachher<br />
tut es ihm dennoch leid, und er läßt nachts, während wir noch <strong>im</strong> Bahnhof stehen, den<br />
Rest durch einen Soldaten holen. Er n<strong>im</strong>mt sonst noch einige kleine Dinge. Er erklärt uns<br />
wohlwollend, daß wir die Dinge sowieso kaum noch brauchen werden.<br />
Wir sind revidiert, stopfen die Sachen in unsere Rucksäcke. Es geht schwer, da<br />
durch Unordnung <strong>im</strong>mer mehr wird, aber schließlich sind wir ja bald in unserem<br />
Waggon, unserem ersten provisorischen He<strong>im</strong>. So rasch denkt man um. Der Waggon, der<br />
uns aufn<strong>im</strong>mt, ist ein normaler geschlossener Lastwagen. Die Soldaten postieren sich an<br />
die <strong>Ein</strong>gänge, der Unteroffizier in das Verschieberhäuschen, und wir suchen uns Platz für<br />
ein Nachtlager.<br />
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Der Hunger meldet sich bei einigen. Meine Sachen und mein Essen kamen noch<br />
<strong>im</strong>mer nicht. Die Arme bemüht sich wohl um wichtigere Dinge. Für etwas Geld bringt<br />
mir einer der Gendarmen eine Wurst und eine Schachtel guter Bisquitte aus dem<br />
Bahnhofsrestaurant. Im Waggon wird schon fleißig gegessen. <strong>Ein</strong>er öffnet den Brotsack<br />
und reicht Brot und Wurst an mehrere. Gruppen entstehen, und diese Gruppen bleiben<br />
und halten auch viel später zusammen. Die St<strong>im</strong>mung wird besser. Man ist untereinander<br />
und sozusagen unter einem Dach. Essen verbessert auch die St<strong>im</strong>mung. Holdi füttert<br />
mich. Er hat es mir als erster angeboten. Man spricht zueinander, leise, aber <strong>im</strong>merhin,<br />
bisher hatte man geschwiegen. Nun kommt das Problem Schlafen. Die Wagentüren sind<br />
inzwischen geschlossen worden, die Gendarmen, müde des stundenlangen Wartens,<br />
haben sich in das Bahnhofslokal begeben. Die beste Lösung ist 9 rechts, 9 links, Decken<br />
unterlegen, Rucksack als Kopfstütze, Köpfe an den Wagenrand, Beine zur Wagenmitte,<br />
gemeinsame Decken zum Zudecken. Vorschläge, Frauen und Männer zu isolieren,<br />
werden abgelehnt. Turri ist schon auf die Frauenseite übergegangen, liegt rechts von Ray<br />
und flüstert mit Eifer, anscheinend eine medizinische Lektion, Frau Adele hat den kleinen<br />
Wassermann zum Partner. Die halbe Kerze ist fast niedergebrannt, flackert unruhig. Wir<br />
liegen in Reihen. Die Beine berühren einander, streifen einander, die Körperwärme geht<br />
aufeinander über. Die dünnen Seidenstrümpfe der Frauen sind auch durch den Strumpf<br />
am Männerfuß deutlich zu unterscheiden. Die Kerze ist gelöscht. <strong>Ein</strong>e schwüle<br />
Atmosphäre entsteht <strong>im</strong> Raum. Das Flüstern ist erstorben. Das kritische Gehirn arbeitet.<br />
Ist das möglich, der kalte Viehwaggon in der Septembernacht, der herzzerreißende<br />
Abschied vor einigen Stunden, die Gehe<strong>im</strong>polizei, die Gendarmerie?<br />
Gegen 4 Uhr morgens gibt es einen Ruck, dann noch einen, und wir fahren. Die<br />
kleinen Luken des Viehwagens sind hoch und geschlossen. Wir sehen und hören nichts<br />
anderes als das Rollen des Zuges und merken, wenn er wieder einmal steht.<br />
Im Zuge hat jeder noch eine Hoffnung. Noch sind wir <strong>im</strong> Sprengel unserer<br />
Regierung, dem unserer Eisenbahndirektion. <strong>Ein</strong> telefonischer Anruf kann nachkommen,<br />
ein Auto den Pendelzug überholen. An einer Station wird sich die Wagentüre öffnen für<br />
den Weg zurück. Hoffnung hört nie auf. Hoffnungslos ist das Urteil eines Dritten, der<br />
Betroffene kennt es nicht. Die Stunden verrinnen, der Zug hält mehr als er fährt. Da und<br />
dort ein leises Schnarchen. <strong>Ein</strong> unruhiger Schlaf mit wüsten Träumen. Das Licht scheint<br />
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durch die Sparren des alten, scheppernden Waggons. Es melden sich die ersten<br />
Bedürfnisse. <strong>Ein</strong> Kleidungsstück quer über eine Ecke gehängt, ein Stück Papier als<br />
Unterlage, die Luke vorsichtig geöffnet, damit der verschlafene Gendarm auf der hinteren<br />
Plattform es nicht merkt, und hinaus damit. Die Männer haben es einfacher. Die<br />
Wagentüren schließen schlecht, haben durchgängige Sparren. Das Tageslicht wird<br />
kräftiger, wir rollen, hören hie und da an einer Haltestelle Worte wechseln, verstehen<br />
nicht genug. Wir sind alle sehr still. Es meldet sich Hunger. Rolls Brotsack enthält<br />
reichlich Brotstücke und Krümel. Wir sind darauf gelegen. Der Buttertopf ist voll. Wurst<br />
wird herumgereicht. Roll füttert mich. Es tut wohl, überhaupt etwas zu tun. Ruckartig<br />
hält der Zug. Es vergehen Stunden, ohne daß etwas geschieht. Dann endlich öffnet sich<br />
die Wagentüre, unser Unteroffizier mit seinen Gendarmen erscheint <strong>im</strong> Ausschnitt. Die<br />
Luken bleiben in höherem Auftrag geschlossen, keiner verläßt den Wagen. Er überzeugt<br />
sich von unserer Vollzähligkeit und gibt Auftrag, den Waggon zu schließen. Der Mann<br />
führt scheinbar nicht den ersten Transport. Naturgemäß ertönt die erste demütige Bitte, ja<br />
doch eine der 4 Luken offenzulassen für Licht und Atemluft. Er schweigt und wartet auf<br />
etwas. Die Bitte, uns für einige Augenblicke einzeln hinunterzulassen: Verboten. Wir<br />
bitten um einen Besen und versprechen, dafür gut zu bezahlen. Das klingt an. Gegen<br />
Mittag erhalten wir einen flachen, gelben Besen von der Art der Reisstrohbesen. Der wird<br />
für die nächste Zeit Unterlage in der abgeteilten Ecke, und die kleine Luke darüber, nahe<br />
dem Wagendach, bleibt doch offen. Wir beginnen miteinander zu sprechen. Ganz<br />
belanglose Dinge. Wie wir unsere Sachen besser legen könnnen, um Raum zu gewinnen.<br />
Wie spät es eigentlich sei. Keiner berührt die Fragen, die am meisten am Herzen liegen.<br />
Noch sind wir einander fremd, kennen noch nicht die Schwächen des anderen, um sie<br />
auszunützen. Die Wagentüre bleibt zu. Der Tag vergeht. Wir rollen in Pausen, stehen<br />
stundenlang auf freier Strecke oder kleinen Stationen. Das schließen wir aus der Stille um<br />
uns. <strong>Ein</strong>e zweite Nacht. Fast jeder am gleichen Platz. Es ist wohl ein menschlicher<br />
Reflex, denselben Stuhl <strong>im</strong> Speisesaal, dieselbe Bank <strong>im</strong> Garten, die zufällig zum ersten<br />
Male benützte, <strong>im</strong>mer wieder aufzusuchen. Turri liegt auf der Frauenseite zur Rechten<br />
von Ray, Polia mir gegenüber, Lezi hat sich in eine andere Ecke davongestohlen, keiner<br />
wollte hinübergehen, denn die Ecke stinkt schon ganz gemein, und die Feuchtigkeit<br />
breitet sich in ihrer Umgebung aus. Die alte Frau sitzt dort auf ihrem Bündel, und Frau<br />
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Ada protestiert schon mit nicht zu lauter, doch schmalzig durchdringender St<strong>im</strong>me gegen<br />
die Vereinsamung. Wir machen es uns bequemer, befreien den brennenden Hals vom<br />
Druck des Kragens, öffnen Gürtel und Hosenknöpfe, Schlafen, Zeit vergehen lassen. Wir<br />
können ja nicht mehr heraus—aber unsere Frauen arbeiten für uns, haben sicher schon<br />
etwas erreicht, und bis wir irgendwo ankommen. . .das Gehirn denkt nicht klar zu Ende,<br />
aber die Hoffnung gl<strong>im</strong>mt <strong>im</strong> Unbewußten fort.<br />
<strong>Ein</strong> neuer Morgen. Der Besen erfüllt seine Funktion als Unterlage. Er trieft und<br />
stinkt. Die Schranken zwischen uns schwinden, die Formen werden abgestreift,<br />
Menschen in gleicher Not, eine Art Schicksalsgemeinschaft ist in Entstehung begriffen;<br />
Moritz, der alte Jüngling, der Kamerad von Natur aus, führt das Wort. Er hat <strong>im</strong> ersten<br />
Krieg gefochten und seine Mannschaft bis zum Zusammenbruch geführt, er hat nach dem<br />
Krieg in diversen Armeen gekämpft, er hat die jeweilige Burschenverbindung mit dem<br />
Säbel in der Hand am Paukboden verteidigt, er hat mit den Bauern seines Sprengels<br />
gekämpft, wenn sie nicht zur Impfung gegen Typhus erscheinen wollten, mit seinen<br />
Vorgesetzten, wenn sie Unmögliches verlangten. Er besitzt Auszeichnungen von allen<br />
Regierungen, die in den letzten 20 Jahren hintereinander die Gegend besaßen. Er hat<br />
<strong>im</strong>mer gekämpft und ist <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Grunde seiner Natur derselbe geblieben, ein<br />
hilfsbereiter, anständiger Kamerad. Noch ist er schwerfällig, benommen durch den ersten<br />
Schreck. Er hat ihnen die Jugend für den militärischen Dienst ausgebildet. Sein Bezirk<br />
war ein Musterbezirk. Sie haben ihm dafür eine Auszeichnung gegeben. Die Russen<br />
haben ihn dafür nachher gehunzt, haben ihn, alten Mann, in die Fleckfieberdörfer zur<br />
Seuchenbekämpfung geschickt, haben ihn stundenlang verhört, nachts aus dem Bett zur<br />
<strong>Ein</strong>vernahme geschleppt, in den Deportationszug gesetzt, und jetzt reißen diese Banditen<br />
ihn von seinen lieben Kindern fort und schicken ihn zum Teufel. Er kommt langsam zu<br />
sich, und in ihm erwacht der Kameradschaftsgeist, der ihm innewohnt. In ihm klingt die<br />
Situation an ähnliche an, an isolierte, dem feindlichen Feuer ausgesetzte<br />
Gefechtsstellungen an der Isonzofront, als Kommandant eines abgesprengten Zuges in<br />
den Karpathen. “Ich glaube, wir sollten uns alle du sagen, und dann sollten wir mit dem<br />
Kerl reden, daß er uns hinausläßt. Du, Fisch, bist ein großer Schmöker, oder du, Roll, du<br />
bist ein Kaufmann. ich bin ein einfacher Mensch und verstehe mich auf solche Sachen<br />
nicht. Und dann muß man schauen, Frau Lang soll wo zu liegen haben. Man kann sie<br />
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doch nicht <strong>im</strong> Dreck sitzen lassen. Hei! Burschen, rückt’s zusammen, schiebt’s die<br />
Rucksäcke weg und macht’s Platz.” Frau Lang kommt auf unsere Seite. Sie hat ihren<br />
Mann verloren. Er starb an angina pectoris. Natürlich sind die Ärzte daran schuld. Dann<br />
erkrankte ihr Sohn ein Jahr nach der Impfung gegen Tollwut an Rabies. Er starb auf diese<br />
schreckliche Weise. Die Tochter blieb in Frankreich. Sie schrieb der Mutter, sie könne<br />
nicht kommen, sie liege krank in einem Sanatorium, mit beiderseitigem Pneumothorax.<br />
Die Arme war <strong>im</strong>mer etwas exaltiert, deklamierte Goethe, Heine und sang Opernarien<br />
ohne rechten Anlaß. Nun verlor sie ihren Halt, verwilderte, verbrachte ihre Zeit auf ihren<br />
Gräbern, wusch sich nicht, kleidete sich nicht und wurde zum Gespött der Kinder. Sie<br />
hatte einen Zank mit einem rumänischen Richter, der bei ihr wohnte. Der wollte<br />
Wohnung und <strong>Ein</strong>richtung für sich, und so kam sie auf die Liste der politisch<br />
Verdächtigen. Sie brachte Schmutz, Ungeziefer und Schweißgeruch mit, vermehrte ihn<br />
<strong>im</strong> Waggon. Es war schwer, in ihrer Nähe zu liegen. Doch Moritz hatte recht: “Ihr werdet<br />
bald nicht besser sein.”<br />
Bei dem nächsten Öffnen der Wagentüren begannen die Verhandlungen. Wir<br />
müssen hinuntergehen. Wir wollen nichts umsonst. Wir bezahlen, und unsere Familien<br />
werden sich, wenn wir ihnen mitteilen, wie anständig er zu uns war, erkenntlich zeigen.<br />
Er hatte schon darauf gewartet und wurde milde. Noch einmal drohte er mit den Ketten,<br />
die er mithabe und nur aus Menschenliebe uns bisher nicht angelegt hätte. Dann schlug er<br />
vor, daß wir einzeln in seiner Begleitung hinuntergehen, kurz den Raum benützen und<br />
wieder einsteigen. Kein Offizier dürfte es sehen, sonst könnte es ihm schaden. Wir seien<br />
schwere Verbrecher, und er habe Auftrag, uns sicher abzuliefern, er hafte mit seinem<br />
Kopf für jeden von uns. Die Frauen steigen als erste ab. Wir helfen ihnen am Rande der<br />
Wagentüre. Er ging mit dem Revolver in der Hand. <strong>Ein</strong>er nach dem anderen kam<br />
erleichtert zurück. Ich kam an die Reihe. <strong>Ein</strong> Sprung, das angenehme Gefühl, festen<br />
Boden unter den Füßen zu haben. <strong>Ein</strong> tiefer Atemzug in der reinen Luft, ein Weg von 25-<br />
30 Schritten bis zum verfallenen Wächterhäuschen, der Unteroffizier mit vorgehaltenem<br />
Revolver hinter mir. In der erhaltenen Ecke die Spuren meiner Vorgänger, rasch den<br />
verhaltenen Krampf gelöst und zurück in den Waggon. Alle sind unten gewesen, er hat<br />
seinen Lohn erhalten, die Wagentüre wird zugeschoben. Der Mann ist berechnend, er<br />
verkauft seine Milde schrittweise. Wieder vergeht ein Tag mit Fahren und Stehen. Wir<br />
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wissen nicht einmal von ungefähr, wo wir sind. Es ist uns unwichtig. Wir haben einen<br />
Raum, in dem wir allein sind. Von den Gendarmen sehen wir nur hie und da den Kopf<br />
durch die offene Luke. Wir haben unsere gestauten <strong>Ein</strong>geweide einmal gründlich entleert<br />
und mit Wurst und Brotkrumen in regelmäßigen Abständen nachgefüllt. Weiter geht das<br />
Denken zur Zeit nicht, und kein richtiges Gespräch will aufkommen.<br />
Die dritte Nacht <strong>im</strong> Waggon. Jeder besetzt seinen Platz mit einer gewissen<br />
Selbstverständlichkeit, nur Frau Ada läßt ihre kreischende St<strong>im</strong>me sakkadiert vernehmen.<br />
Sie ist mit der Schlafordnung unzufrieden.Wir dösen nicht mehr, wir schlafen. Ob der<br />
Zug nun fährt oder steht, ist uns einerlei. Nur der Ruck be<strong>im</strong> Anziehen und<br />
Stehenbleibem wird störend empfunden. Sie gaben uns einen Kübel Wasser, wir füllten<br />
unsere Gefäße. Wir haben sie leergetrunken, denn die Wurst enthält viel Salz und macht<br />
durstig. Jetzt fühlen wir wieder Trockenheit <strong>im</strong> Mund, bestreichen die Lippen mit der<br />
Zunge. Die Haut am Nagelfalz blättert, löst sich in streifenförmigen Wunden ab, in denen<br />
der Schmutz brennt.<br />
<strong>Ein</strong> neuer Morgen, ein besonders heller Morgen. Es muß schön geworden sein,<br />
denn durch die Ritzen des Waggons dringen richtige Sonnenstrahlen. Unsere Sinne sind<br />
wacher geworden. Wir stellen es fest und besprechen es: heute ist es draußen sicher<br />
schön. Schon gegen 10 Uhr öffnet sich die Waggontür zur täglichen Inspektion. Auch<br />
unser Unteroffizier ist gut gelaunt. Wir dürfen hinunter, hinter eine Mauer treten, er folgt<br />
uns gar nicht, steht nur mit dem Revolver in der Hand in der Nähe. Es wäre auch ein<br />
Wahnsinn, davonzulaufen, weit und breit kein Haus, unbekannte, fremde Ferne. Er kann<br />
uns abschießen, ehe wir den Feldrand erreichen. Nachher wird er ganz freundlich,<br />
gestattet uns einen Kübel Wasser. Wir waschen uns! <strong>Ein</strong> Topf wird herausgeholt,<br />
Handtuch, Seife. <strong>Ein</strong>er schüttet dem anderen das Wasser auf. Das Spiel hat kaum<br />
angefangen und wird schon unterbrochen. Er überlegt sich die Sache und stellt fest, es sei<br />
gegen seine Instruktionen. Wir sind ein wenig auf festem Boden gestanden, haben frische<br />
Luft eingeatmet, sind aufmerksamer geworden. Unser Zug ist einem langen Güterzug<br />
angeschlossen, der vorwiegend aus runden Waggons zur Beförderung von Rohöl besteht.<br />
Die Bewachungsmannschaft ist deutsch. <strong>Ein</strong> stämmiger deutscher Mann geht vorbei,<br />
fragt den rumänischen Unteroffizier, wer wir seien. Der kann nicht antworten, die<br />
Bundesgenossen verstehen gegenseitig ihre Sprachen nicht. <strong>Ein</strong>er von uns antwortet für<br />
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ihn. Es entspinnt sich ein kurzes Gespräch. Der Unteroffizier wird ungeduldig, versteht ja<br />
nicht, was gesprochen wird und jagt uns barsch in den Waggon. Er ist das seinem<br />
Prestige schuldig. Der Deutsche interveniert: “Ja, sag mal, Kamerad, warum sollen sich<br />
die Leute denn nicht mal rein waschen. Davonlaufen können sie dir nicht.” Er führt uns<br />
zum Wasserhahn der Maschine, den Kübel und Topf schleppen wir mit. Warmes Wasser<br />
in den halbvollen Kübel, Jacke und Hemd abgelegt, die erste Waschung, ein Göttergenuß,<br />
den nackten Oberkörper abgerieben, wir fühlen uns unbeschreiblich gut und sind dem<br />
Mann dankbar. Unser Wächter hat widerstrebend nachgegeben und steht verst<strong>im</strong>mt<br />
daneben. Es wird uns wieder etwas kosten, ihn zu versöhnen. Der Zug steht endlos <strong>im</strong><br />
Steppenland. Wir erfahren, daß wir über Nebenlinien durch Bessarabien nach dem Süden<br />
geführt wurden. Die Waggontüre bleibt offen, wir gehen ein und aus, bewegen die durch<br />
so lange Ruhe steif gewordenen Glieder, tauen langsam auf, beginnen lauter zu sprechen.<br />
Moritz, der Kamerad, spricht unsere Gedanken aus. “Also, Kinder, jetzt müssen wir<br />
anständig essen und trinken, denn wir wissen nicht, was kommt, aber wenn man nicht<br />
gegessen hat, ist es sicher schlechter.” In Holdis Futtersack gibt es nur noch Brotkrümel,<br />
handvoll schaufeln wir beide sie in den Mund. Der Buttertopf is halbleer, wir streichen<br />
die Butter auf Rindenreste. Was unter der Butter liegt, erfahre ich erst später. Die<br />
schönen Stunden gehen vorbei, die Lokomotive gibt ein Zeichen, die deutsche<br />
Bewachungsmannschaft geht vor ihre Waggons. Es waren ein paar Gespräche zwischen<br />
uns und ihnen, nicht unfreundlich. Sie begreifen sicher nicht ganz, was mit uns los ist und<br />
wollen auch nicht in diese Fragen eindringen. Den Rumänen verachten sie offensichtlich.<br />
Wir müssen in unseren Waggon, der diensthabende Gendarm besteigt das<br />
Wächterhäuschen, von welchem aus er durch die Luke zu uns hineinblicken kann, der<br />
Unteroffizier schließt die Schiebetür und hängt Kette und Schloß vor. Es dauert wohl<br />
noch eine halbe Stunde, dann fahren wir wieder.<br />
Noch eine Nacht und noch ein Tag, Stehen, Fahren, Warten. Um uns wird es<br />
lebhafter. Wir scheinen auf eine befahrenere Strecke gekommen zu sein. An den<br />
Bahnhöfen mehr Lärm, St<strong>im</strong>men, Pfeifen, Signale. Wir werden öfters an- und<br />
abgekoppelt. Dem deutschen Petroleumzug sind wir nicht mehr angeschlossen. Das<br />
haben wir schon bei unserem letzten Ausgang bemerkt. Am Nachmitag wird auch die<br />
einzige Luke geschlossen, die Behandlung strenger. Wir nähern uns der Brücke über den<br />
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Dniester-Fluß, erfahren wir von dem diensthabenden Gendarmen. Diese sind einfache<br />
Bauernburschen, leichter zu kaufen als der des Lesens kundige Unteroffizier, oft ein<br />
Vorstädter, am ehesten ein Friseur- oder Kellnergehilfe. Dann stehen wir wieder<br />
unendlich lange. Der Unteroffizier ist fortgewesen, der Gendarm hat die Türe geöffnet<br />
und sitzt, die Füße baumelnd, am Türrahmen.Wir atmen <strong>im</strong> Waggon die frische Luft.<br />
Schweigsam sind wir alle noch. Die Worte drehen sich um die kleinen Verrichtungen des<br />
Lebens, Essen, Reinigen. Wir fragen einander nicht, was man mit uns vorhat, wir wissen<br />
es ja alle nicht. Der einzige, der alles weiß und gewußt hat, ist Fisch. Wir gehen in ein<br />
Gefängnis in Tiraspol. Das war auch die letzte Information, die mir zugeflüstert wurde.<br />
Vielleicht ist es wahr, vielleicht auch nicht. Die warme Sonne des späten Septembertages,<br />
die offene Tür, die gute Luft, das ist schon besser als es war, und wir haben noch viel zu<br />
fahren. Frau Lang wendet sich an unseren Wächter: “Herr Fanica, dürfte ich aussteigen,<br />
weil ich dringend hinunter muß? Er schüttelt, blöde lächelnd, seinen Bauernkopf. Dazu<br />
ist er ja nicht berechtigt, der Unteroffizier könnte kommen. Nochmals Herr Fanica und<br />
nochmals Herr Fanica. Er bleibt gemütlich, ohne böse zu werden, bei seiner Anwort. Es<br />
wird Abend. Der Unteroffizier erscheint, läßt die Türen schließen. Er ist nicht böse, denn<br />
er hat inzwischen wieder Geld bekommen. Fanica geht auf seinen Posten. Nach einiger<br />
Zeit fahren wir wieder, nur einige Stunden, dann durchfahren wir anscheinend einen<br />
großen Bahnhof und halten auf einem abgelegenen Geleise. Wir sind nahe der Brücke,<br />
erfahren wir durch unsere Gendarmen. Wir rüsten zum Schlafen, legen unsere Decken<br />
aus, ordnen uns in der Reihenfolge des ersten Tages, Mantel und Jacke unter dem Kopf,<br />
Rucksäcke sind zu dick und schieben uns zu sehr zur Mitte, und dann kommen die Füße<br />
zur Nase des Nachbarn.<br />
Wir haben kaum einige Stunden geschlafen, da geht es los. Dumpfe Detonationen<br />
von explodierenden Bomben, Rattern von Maschinengewehren, Knallen von<br />
Flugzeugabwehrgeschützen. Auf unserem oder dem benachbarten Waggondach ist ein<br />
Maschinengewehr postiert, das Rattern ist ohrenbetäubend. Wir öffnen die Luken, kein<br />
Gendarm schlägt sie uns wieder zu. Wir stellen uns auf unsere Rucksäcke und blicken<br />
abwechselnd hinaus. In der stockfinsteren Nacht blitzt es da und dort, selten sieht man<br />
einen leuchtenden Rauchschwaden. Dann wird es plötzlich taghell, eigenartig, farbig hell.<br />
eine Rakete entzündet sich, verbreitert sich quallenförmig und beleuchtet ein weites<br />
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Gebiet. Der Lärm der Abwehrgeschütze wird <strong>im</strong>mer lauter, dazwischen <strong>im</strong>mer wieder<br />
einzelne Bombenaufschläge. Das grelle Licht erstirbt plötzlich. Finstere Nacht, einzelne<br />
Lichtstreifen, gelb, grün, das Knallen wird seltener, hört auf. Es vergehen 10 Minute, ein<br />
breites, lachendes Gesicht erscheint <strong>im</strong> Lukenloch. Fanica sagt uns: “Ihr habt es gut. Ihr<br />
könnet nicht hinaus und sitzet ruhig. Aber ich wußte nicht, wo mich am besten zu<br />
verstecken, <strong>im</strong> Garten oder <strong>im</strong> Kukuruzfeld. Habet ihr eine Ahnung, wie geschossen<br />
wurde und wie gefährlich es war.” Wir geben ihm recht, rücken die verschobenen<br />
Decken zurecht und legen uns wieder schlafen. Die weitere Nacht verläuft ruhig.<br />
Am nächsten Morgen gibt es einen heftigen Ruck. Unser Sinn dafür ist schon hoch<br />
entwickelt. Das heißt angekoppelt und weiterfahren. Nach einiger Zeit geht es los. Fanica<br />
hat viele Zigaretten und einige hundert Lei bekommen. Er läßt uns die Luken und einen<br />
schmalen Streifen der Schiebetür öffnen. Wir verschmutzen den Waggon dadurch<br />
weniger und sehen auch abwechselnd hinaus. Jetzt kommt die große Brücke, der<br />
entscheidende Moment. Aus unserer sogenannten He<strong>im</strong>at fahren wir in das<br />
Niemandsland. Zehntausende sind vor uns gefahren, niemand zurückgekommen. Wir<br />
erfuhren von Tod durch Hunger und Epidemien. Hie und da brachte irgendein Beamter<br />
verstohlen ein Zettelchen als Lebenszeichen und verlangte für seine Heldentat<br />
Anerkennung und hohe Geldsummen. <strong>Ein</strong>en Schrecken hatten wir davor, doch keine,<br />
noch so unklare Vorstellung. Jetzt überquerten wir den breiten Strom, langsam wie auf<br />
unsicherem Boden fuhr unser Zug. Wir waren alle sehr schweigsam. Drüben schien die<br />
gleiche Sonne. Rechts und links Steppe, Getreidefelder, Sonnenblumen, Kukuruz (Mais)<br />
bis an das Zuggeleise, hie und da Häuser und auch Menschen. Wir atmeten etwas tiefer,<br />
der eine und andere würgte auch ein Wort heraus, ein möglichst gleichgültiges Wort.<br />
Noch waren wir keine Gemeinschaft. Noch war uns der Begriff Kampf zur<br />
Selbsterhaltung fremd. Wir waren ganz Unterwerfung, Aufgabe, Angst.<br />
Es wurde 10 Uhr. Wir aßen die Reste mit wenig Appetit, die erste Mahlzeit <strong>im</strong><br />
fremden Land. Unser Zug stand wieder einmal auf freiem Feld. <strong>Ein</strong>e Reitergruppe<br />
näherte sich uns, ein Offizier mit mehreren Mann. Wir hörten die Frage an unseren<br />
Begleitgendarmen: “Wen bewachst du da?” Wir hörten die rauhe Antwort. Das<br />
Schauspiel konnte er sich nicht entgehen lassen. Er ließ das Schloß aufsperren, die Türe<br />
öffnen und betrachtete uns sinnend. Dann kam ihm ein Gedanke. “Habet ihr Gold oder<br />
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Valuten oder Wertgegenstände? Ich gebe euch Mark dafür, da könnet ihr Essen kaufen.”<br />
Bruno Fisch war, wie <strong>im</strong>mer, der erste, der antwortete. “Wir haben keine Valuten, kein<br />
Gold, und die Uhren wollen wir behalten, denn, wenn wir zurückkommen, werden wir sie<br />
ja wieder brauchen.” <strong>Ein</strong> lautes Lachen. “Ihr wollet noch zurückkommen!” Es gibt<br />
Dinge, die man, seien sie noch so naheliegend, nicht gerne ins Gesicht gesagt haben will.<br />
Die Antwort von Fisch war übrigens richtig. Erst später beichteten die Betroffenen. Vor<br />
der Brücke hatte uns unser Unteroffizier eingeredet, es sei dort eine strenge Kontrolle,<br />
und das Geld werde weggenommen oder zum offiziellen Kurs 40:1 eingetauscht. Wir<br />
gaben ihm fast unseren ganzen Besitz. Er sollte uns das Geld nach der Brücke mit Abzug<br />
von 10% zurückgeben. Roll hatte unter seiner Butter 16 Dukaten und Muniu einige<br />
hundert Dollar und Pfunde. Sie gaben es ihm zur Aufbewahrung und zur Übermittlung an<br />
die Familien, was er gerne versprach.<br />
Unsere St<strong>im</strong>mung war nach dieser Begegnung schlecht, trotz Sonne, Wiese,<br />
Schmetterlingen, die wir jetzt schon als selbstverständlich nahmen. Warum soll denn<br />
auch jenseits des Flusses das Land anders aussehen als diesseits? Wir wußten nun auch,<br />
daß wir nach Übergang des Flusses knapp vor Tiraspol sein müssen. Wer weiß, was uns<br />
dort erwartet. Bis zum Nachmittag standen wir auf freiem Felde. Man ließ uns aussteigen,<br />
waschen, wir taten es mit vollem Herzen. Um 4 Uhr setzte sich der Zug, dem wir<br />
angeschlossen waren, in Bewegung, und in den späten Nachmittagsstunden fuhren wir in<br />
den großen Bahnhof Tiraspol ein. Diesmal hielten wir richtig <strong>im</strong> Bahnhof. Durch die<br />
Luken sahen wir deutlich rechts und links Schienen, Eisenbahnbeamte, Soldaten, Züge.<br />
Wir waren ganz still, saßen auf unseren Rucksäcken und warteten. Unser Unteroffizier<br />
hatte seinen Riemen fester geschnallt, energische Falten in sein Jungbubengesicht<br />
gebracht, unsere Begleitpapiere zu sich genommen und war verschwunden. Wir haben<br />
für Geld diese Papiere kurz vorher zu sehen bekommen. Da waren unsere Namen,<br />
besondere Merkzeichen, sonstige Daten, und dann eine uns unverständliche Zahl, 2, 3<br />
und 5, Gefängnisjahre, dachten wir, oder sonst etwas Ähnliches, sicher etwas Schlechtes.<br />
Nch einer knappen halben Stunde kam er wieder. Das Geld hatte er uns vorher<br />
wiedergegeben, nicht eingewechselt, nur abgezogen, und die Valuten behalten. Die<br />
Kontrolle, erklärte er uns, finde erst nachher statt. Auch gut, wir waren zu müde, um<br />
mitzudenken. Er ließ öffnen und uns antreten. Da standen wir, jeder mit seiner Decke und<br />
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Rucksack, nur Freund Emanuel Essenfeld mit zwei alten Koffern, deren Schlösser ewig<br />
aufgingen und mit zu kurzen Stricken zusammengehalten waren. Wir waren bleich. War<br />
es das Dämmerlicht des Abends oder der Ausdruck der Seelenst<strong>im</strong>mung? Sogar der<br />
kleine Aufleger konnte kein Zwangslächeln produzieren und rückte stereotyp den<br />
froschartigen Kopf vor. Die Köpfe gebeugt, die Mundwinkel abwärts gezogen, blaß, mit<br />
Schweißtropfen an der Stirne setzten wir uns in Bewegung. Es war nicht feierlich, es war<br />
traurig. <strong>Ein</strong>e Herde, die zur Schlachtbank geht, doch <strong>im</strong>mer noch menschliche Gehirne,<br />
die unter dem Schutt arbeiten.<br />
Wir gingen über ein leeres Geleise, um einen Zug, über ein zweites Geleise, kamen<br />
auf eine breite Plattform, und da erscholl plötzlich mein Name! Aus der Luke eines<br />
Waggons kam er. Gedränge nahe der offenstehenden Schiebetür, ein dicker Mann mit<br />
blauer Baskenmütze wird zur Seite geschoben, <strong>im</strong> Türeingang erscheint lebhaft winkend<br />
Dr. Salzberg, ein Freund und Berufsgenosse aus Botoschani. Wir sind unter strenger<br />
Bewachung, können nicht miteinander sprechen, müssen geradeaus weiter, und doch<br />
verstehen wir uns. Wir sind nicht die einzigen, es gibt andere in der gleichen Lage, hier<br />
ein ganzer Zug voll. Aus allen Türen schauen Menschen, sie winken uns zu, rufen uns zu,<br />
“Schaut, daß ihr zu uns in den Waggon kommt!” ruft Freund Salzberg nach. Welch ein<br />
köstlicher Ruf in unserer Seelenwüste! Wir treten fester auf, heben den Kopf und stehen<br />
vor einer neuen Kommission, die uns und unsere Sachen untersucht.<br />
Der Oberst Grossu, der diese Untersuchung leitet, spricht deutsch, jüdisch, macht<br />
blöde Witze, einer der üblichen häßlichen Typen, die beraten, verhören und für Geld alles<br />
verkaufen, auch ihre Liebenswürdigkeit und ihr menschliches Mitgefühl. Zwei Beamte<br />
der Nationalbank erscheinen verschlafen aus ihrem Sonderwagen, in dem sie mit den<br />
Damen, die zur Untersuchung der Frauen best<strong>im</strong>mt sind, wohnen und setzen sich an ihre<br />
Tische, ein Hauptmann der Gehe<strong>im</strong>en Staatspolizei gibt der Strenge der Situation<br />
Ausdruck. Wir werden belehrt, daß wir alles Geld, Schmuck, Edelmetalle abzuliefern<br />
haben, das Geld gegen Mark eingetauscht bekommen. Und zum Schluß die übliche<br />
Redensart, daß jeder, bei welchem nach <strong>Ein</strong>tausch Geld oder Gold gefunden wird, sofort<br />
standrechtlich erschossen wird. Aufleger zieht seinen Sphinkter, hinter welchem 66<br />
Tausend-Lei-Scheine zusammengerollt in einem Kondom schlummern, krampfhaft<br />
zusammen, bis auf den Mund überträgt sich der Krampf. Er blickt scheu in die Richtung<br />
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des Waggons, in welchem angeblich die inneren Organe fachmännisch untersucht<br />
werden. Polias Herz schlägt hoch unter dem lockeren Busenhalter, in welchem 5 Scheine<br />
eingenäht sind. Wir übrigen nehmen die durch unseren Unteroffizier reduzierten Lei-<br />
Summen aus unseren Taschen und erhalten dafür abgegriffene Rentenmark-Noten <strong>im</strong><br />
Verhältnis 40:1, ungefähr ein Viertel des tatsächlichen Tauschwertes. Die Beamten der<br />
Nationalbank liefern die Summen nicht ab, geben uns Verbrechern auch keine Quittung.<br />
Am Abend tauschen sie die übernommenen Lei gegen Mark zum Vollkurs ein, geben<br />
dem Oberst seinen Anteil und behalten den Rest. Das trägt viel. Die Damen wollen auch<br />
bedacht werden, und das macht sie so müde. Die Silberuhren und Eheringe werden auch<br />
abgenommen, aber, man staune, nach 3 Tagen werden die Eheringen den Trägern<br />
zurückgestellt. Die rumänischen Damen der Gesellschaft hatten gelegentlich einer<br />
Abendunterhaltung mit Tanz, bei der das Thema Deportation zur Sprache kam, den<br />
Gouverneur angesprochen, und dieser hatte in einer Anwandlung von Sent<strong>im</strong>entalität<br />
verfügt, daß uns Eheringe zurückgegeben werden. Nun kam die Leibesuntersuchung.<br />
Auflegers Angst war unbegründet. Polias Reichtum wurde durchgetastet. Sie bekam<br />
hektische Röte der Wangen in ihrem blassen Gesicht. Der Oberst war nun ganz in Form,<br />
verlangte eine Erklärung für diesen schweren Tatbestand. Sie gab an, nichts davon zu<br />
wissen. Ihre Mutter hätte es ihr wohl ohne ihr Wissen als letzte Reserve eingenäht. Doch,<br />
schon so viele waren durchgekommen. Er war satt und müde, sogar zu müde, um den Fall<br />
unter vier Augen mit ihr auszutragen. Er ließ auch diese Summe nachträglich<br />
einwechseln und schritt zur nächsten Prozedur. Wieder breiteten wir unsere Decken aus,<br />
schütteten den Inhalt unserer Rucksäcke darauf. Soldatenhände wühlten in Hemden,<br />
Taschentüchern und Strümpfen, betasteten Schuhe, öffneten Schachteln und Dosen und<br />
berichteten ihren Vorgesetzten über den negativen Untersuchungsbefund. Träge schritt<br />
Grossu auf und ab, ergriff hie und da einen Gegenstand, der sein Interesse erregte und<br />
gab ihn wieder zu dem Rest. Am Ende stopfte jeder seine verknäulten Sachen in den<br />
Rucksack, der wieder zu klein war, quetschte nach, zerrte an den Stricken, brachte ihn zur<br />
Not zu und war froh, wieder eine Station hinter sich zu haben. Es gibt also doch noch<br />
Freuden in diesem Leben. Nur einer rackerte sich schwer ab, unser Freund Emanuel<br />
Essenfeld. Seine Koffer gingen nie zu. Die Schlösser waren bereits abgebrochen. Er<br />
nahm von dem einen übervollen und stopfte in den anderen. Er zog am Hanfstrick, und<br />
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dieser riß. Er entnahm diesem Koffer wieder einen Knäuel und versuchte jetzt, mit dem<br />
verkürzten Strick zu schließen. So ging es hin und her, bis ihm jemand half, den<br />
halboffenen Koffer vom Schauplatz wegzutragen und in Ruhe zu ordnen. Es hatte nicht<br />
zu lange gedauert, und doch war es fast finster geworden, bis diese Szene ihr Ende fand.<br />
Wir bekamen den gewünschten Waggon mit den Botoschanern zusammen. Große<br />
Begeisterung mit Küssen unter Männern nach rumänischer Art. Wir waren 17, die 19, der<br />
Waggon ein richtiger großer Viehwagen, mehr als doppelt so groß wie unser verlassenes<br />
He<strong>im</strong>. Sie rückten in eine Hälfte, gaben uns die andere. Wir stellten die Bänke, die ihnen<br />
aus der Synagoge ihrer He<strong>im</strong>atstadt mitgegeben worden waren, in die Mitte, türmten<br />
darauf unser ganzes Gepäck, ordneten zu beiden Seiten an den Längsseiten des Waggons<br />
unsere Decken und Kleinigkeiten, schlugen Nägel in die Wand und behängten sie mit<br />
Feldflaschen, Brotsäcken und Mänteln und legten uns bequem 8 + 8 und einer obenauf<br />
auf dem hohen Gepäckturm. Das geschah mit System und der Miene von erfahrenen<br />
Menschen <strong>im</strong> Zwielichte einer Kerze und der letzten Strahlen der Abendsonne. Die<br />
Botoschaner schauten und schauten, sprachen untereinander von deutscher Ordnung und<br />
begannen schließlich auf der Stelle, uns nachzutun. Es gelang schlecht, da niemand<br />
seinen Platzanteil ohne weiteres aufgeben oder sein Gepäck, das er angeblich jederzeit<br />
zur Hand haben müsse, an einen gemeinsamen Platz abgeben wollte. So gab es eine<br />
geordnete Hälfte, wo es ordentlich, wie in einer Sardinenschachtel, zuging, und eine mit<br />
sympathischem, bunten Charakter, entsprechend dem Erziehungsgut, das jede der beiden<br />
Gruppen von ihrem Wirtsvolk übernommen hatte.<br />
Nun sind unsere Sachen geordnet, die Schlafplätze hergerichtet. <strong>Ein</strong> Sprung hinüber<br />
über Koffer und Rucksäcke in eine Ecke, wo eine Kerze flackert. Freund Salzberg<br />
erzählt. Jetzt erfahren wir, daß in allen Städten des Landes zur gleichen Zeit Menschen<br />
eingesperrt und hierher geschickt wurden. Sie, die Botoschaner, wurden einige Tage in<br />
der Synagoge des Ortes gehalten, es gab alle möglichen Interventionen, und dann kam<br />
der Auftrag zum Abtransport. Die Bevölkerung stand Spalier am Wege zum Bahnhof in<br />
stummem Protest. Die Bänke der Synagoge gaben sie ihnen mit, Kleider und Nahrung<br />
den Bedürftigen. Nur unsere Menschen sind so eingeschüchert, daß sie sich nicht in<br />
unsere Nähe trauten. Da ist Katz, der Fabrikant, der einmal mit einem Unteroffizier<br />
geschäftlichen Streit hatte, und Ilie Horodiceanu, der große Advokat, bei dem man einen<br />
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Säbel, seinen Reserveoffizierssäbel, fand, Kaufleute, Arbeiter, durch irgend welche<br />
kleinen Zufälligkeiten aus der Menge herausgegriffen und dem großen Killinger, Hitlers<br />
Apostel, als Tribut überreicht. Der will ganze Städte, Zehntausende mit fixem<br />
Liquidierungsprogramm, aber die Judenzentrale zahlt gut, und die rumänischen Behörden<br />
würdigen es. Salzberg hat auch Zeitungen gesehen, und es geht natürlich glänzend, der<br />
Widerstand ist stärker, das wird zugegeben, für den Winter 42/43 sind die Deutschen<br />
nicht gerüstet, sie müssen Kleideraktionen in der He<strong>im</strong>at machen. Er hat die Gabe,<br />
zwischen den und außerhalb der Zeilen zu lesen und seine Wünsche <strong>im</strong> Text<br />
unterzubringen. Die Brille tanzt dabei vor lauer Eifer auf der Nase, die Augen lachen, er<br />
duldet keinen Widerspruch. <strong>Ein</strong> Zeitungsfetzelchen genügt für eine weitläufige<br />
Interpretation. Uns klingt das wie Phantasien, doch wir hören es gerne. Menschen mit<br />
Opt<strong>im</strong>ismus, Menschen mit Zuversicht, lange sind wir keinen solchen begegnet. Unsere<br />
Leute sind verkrampft, voll Angst vor jedem Wochenende. Wir sind nicht allein, wir<br />
kommen sogar in eine ganz andere Menschenkategorie. Aus Bewohnern eines Gebietes,<br />
in welchem seit einem Jahr dauernd verschickt wurde, in welchem der Versuch einer<br />
Verbindung mit Verschickten geahndet wird, kommen wir in eine jungfräuliche Gruppe,<br />
die erstmalig auszieht, leben will, in allen Teilen des Landes verwurzelt ist. Wir steigen<br />
<strong>im</strong> Range, und in uns meldet sich ein Sch<strong>im</strong>mer von Ruhe. Wir sind nicht mehr die<br />
einzigen, wir sind in eine Art von Organisation eingefügt. Wir schlafen in dieser Nacht<br />
ruhiger. Der Waggon ist breiter, unsere Füße berühren sich kaum. Wir stehen am Platze.<br />
Am nächsten Morgen öffnen sich die Wagentüren, wir dürfen ausssteigen, zuerst die<br />
Frauen, dann wir. Die Bewachungssoldaten sitzen faul bei ihren Gewehren und<br />
übersehen von weitem die Herde, so wie es ein kleiner Hirtenjunge mit vielen Kühen tut.<br />
Es gibt ein paar niedrige Büsche und kleine Bodenwellen, das reicht. Wir bekommen<br />
Wasser, das heißt wir dürfen es unter Bewachung holen gehen. Gewaschen, gegessen,<br />
Sonnenschein, Zurufe vom Nachbarwagen, es entwickelt sich eine Art <strong>Lager</strong>leben, nur<br />
dadurch gestört, daß <strong>im</strong>mer nur ein Waggon gleichzeitig absteigen darf, und nur einige<br />
Zehner-Schritte vom Wagen aus uns gestattet sind. Zu Mittag erhalten wir die Erlaubnis,<br />
je 2 Mann pro Waggon zum Nahrungsmitteleinkauf in die Stadt zu schicken. Katz, der<br />
Ölfabrikant, ist der <strong>Ein</strong>käufer der Botoschaner, für uns geht Moritz. Nach 2 Stunden<br />
erscheinen sie mit einer Aktentasche voll mit Tomaten, Äpfeln und Brot. Alle Taschen<br />
22
sind voll von Zigaretten. Am Nachmittag erhalten wir große viereckige Brote, 4 Mann<br />
ein Brot, von staatswegen. Der Tag vergeht ruhig. Am Abend wird eine Maschine<br />
vorgespannt, und der lange Zug setzt sich in Bewegung. Wo Tausende Menschen einen<br />
Tag stehen, wird die Umgebung verpestet. Wir werden auf ein anderes Nebengeleise<br />
verschoben und sind wieder in reinem, frischem Grün.<br />
Am nächsten Tag und am übernächsten trafen noch verspätete Gruppen ein. Wir<br />
können nicht zusehen, denn wir werden eingeschlossen. Es dürfte ihnen so ergehen wie<br />
uns. Am Abend werden wir verschoben. Wir essen unser Brot, die weichgewordenen<br />
Tomaten, die Wurstreste, sonnen uns, lesen Shakespeare. 2 Bändchen davon hat Freund<br />
Salzberg mitgenommen, zuerst zum Lesen, dann zum Verbrauch als Papier, wie er<br />
erklärt. Wieder eine neue Art von Leben und wieder eine rasche Anpassung. Wer denkt<br />
noch an baldige Rückkehr, wer döst, wer lebt <strong>im</strong> Vergangenen? In ein Gefängnis<br />
kommen wir nicht, heißt es, sondern in ein <strong>Lager</strong>. 9 Tage sind wir von zu Hause fort, am<br />
dritten Geleise, also 3 Tage am Bahnhof Tiraspol. Es begannen geschäftige<br />
Vorbereitungen, Waggons werden verschoben, neue Wachtposten erscheinen, ein<br />
Oberleutnant, heißt es, ist uns holen gekommen. Am nächsten Morgen wird der lange<br />
Zug in zwei Teile geteilt. Unsere Hälfte wird von einem alten Oberleutnant mit müdem<br />
Lehrergesicht abgeschritten. Er verteilt seine Leute als Wachtposten an die Türme und<br />
verschwindet in seinem Wagen. Jetzt erfahren wir unseren Best<strong>im</strong>mungsort. Die Soldaten<br />
sind Gendarmen, die das <strong>Lager</strong> Vapniarka bewachen. Dort gibt es schöne Häuser, alles ist<br />
vorbereitet für 4000 Menschen, auch Essen werden wir bekommen. Vapniarka? Es gibt<br />
welche, die slawische Sprachen verstehen, die übersetzen: Kalkgruben. Manche ziehen<br />
daraus Schlüsse, Arbeit in Kalkgruben. Ich muß mir den Namen aufschreiben, sonst<br />
behalte ich ihn nicht.<br />
Gegen 10 Uhr setzt sich unser Zug in Bewegung. Wir sind jetzt ein Sonderzug,<br />
ohne Petroleum, ohne Lasten, nur Menschen. Es geht gegen Nordosten bis Razdelnaia,<br />
dann gegen Norden durch fruchtbare, schöne Landschaft. Leichte Bodenwellen, riesig<br />
große Felder, zum Teil noch nicht abgeerntet, Baumalleen, gemauerte Wächterhäuschen<br />
und Bauerndörfer in der Ferne. Es ist die Hauptstrecke Leningrad-Odessa. Die Türen<br />
stehen offen, die Ruhe und Entspannung hat uns gut getan, es ertönt sogar Lachen und<br />
zögernder Gesang. Wir, die Verdächtigen, rollten in das <strong>Lager</strong>. Die zweite Hälfte des<br />
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Zuges bestand aus solchen Juden, die einmal, als die Soviet-Union <strong>im</strong> Jahre 1940 die<br />
beiden Provinzen Bessarabien, Bukovina und ein Stückchen von Polen dazu friedlich<br />
unter Druck besetzt hatte, um Repatriierung (aus dem Altreich) in diese Gebiete<br />
einreichten, aber nicht fuhren. Diese Zughälfte fuhr unmittelbar nach uns ab. Sie kamen<br />
in ein kleines ukrainisches Städtchen. Wir erfuhren von Soldaten, daß sie nur 3 Tage am<br />
Leben blieben: sie jagten sie in einen Wald, angeblich zur Arbeit, und töteten sie. Die<br />
Ortsbevölkerung tat mit. Immer wieder kamen nachher gehe<strong>im</strong>e Boten, Soldaten und<br />
Beamte, und fragten bei uns <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> nach einem Kinderarzt mit Frau und zwei Kindern<br />
aus Temesvar. Er war nicht bei uns, er war dort, in der anderen Gruppe. Unser Zug hielt<br />
selten. Langsam fuhr er durch die ruhige Landschaft. Die Stationen wurden größer mit<br />
vielen Verschiebegeleisen, doch dahinter lagen keine Städte, in der Ferne kleine Dörfer,<br />
die ihnen wohl den Namen gaben. Unser Soldat erklärte es. Das sind Vorbahnhöfe von<br />
Schmerenka, dem größten russischen Knotenpunkt, und auch Vapniarka gehört dazu.<br />
In den Nachmittagsstunden fahren wir in den Bahnhof Vapniarka ein. <strong>Ein</strong><br />
stattliches Stationsgebäude, sehr viele Geleise, am Bahnhof eine Kompanie Gendarmen<br />
mit einem Offizier <strong>im</strong> Karree zu unserem Empfang. Wir bleiben <strong>im</strong> Waggon, unser<br />
Begleitoffizier erstattet Meldung, die Gendarmen erhalten Instruktionen, Umformierung,<br />
eine Gruppe tritt zur Seite zum Empfang des ersten Waggons. Unser Waggon ist der<br />
erste. Wir steigen rasch ab, das Gepäck ist längst geordnet und hergerichtet. Bei den<br />
Botoschanern geht es langsamer. Die Gendarmen, etwa 20, umgeben uns, ein Korporal<br />
tritt an die Spitze, Abmarsch. Um den Bahnhof geht es herum, eine Dorfstraße,<br />
Militärwagen, Train, Autos. Ich lese die Nummern der vorbeifahrenden Wagen,<br />
kombiniere die Zahlen, gutes Omen, schlechtes Omen. Die Straße ist gut gebaut, daneben<br />
ein wenig befahrener Weg, den gehen wir. Durch ein langgezogenes Dorf geht der Weg,<br />
gemauerte Häuschen mit Ziegeldach, Lehmhäuschen mit Strohdach, genauso wie bei uns<br />
<strong>im</strong> Dorfe, wenige Menschen, ohne Interesse für bewachte Züge wie der unsrige,<br />
abgestumpft. Der Weg steigt an, wir gehen auf die gepflasterte Straße über, eine<br />
Wendung, eine Steinbrücke, die Soldaten gestatten uns eine Ruhepause. <strong>Ein</strong>ige Kilometer<br />
in der Herbstsonne mit Gepäck und schwerer Kleidung, auch den Mantel zur<br />
Erleichterung der Traglast umgehängt, des Gehens ungewohnt, das ermüdet. Wir sind alle<br />
in Schweiß. Nach 10 Minuten geht es weiter, jetzt durch Hügel. Rechts von der Straße ein<br />
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Wäldchen. Die Bäume stehen ganz regelmäßig, und zwischen je 4 Bäumen ein<br />
vorgearbeiteter Zeltplatz, <strong>im</strong> Hintergrund zahlreiche, ganz gleiche Häuschen durch die<br />
Bäume verdeckt. Hier war der Wohnplatz der Offiziersanwärter der Militärschule. Und<br />
links Stacheldraht und Häuser über Häuser. eine ganze Stadt, die Militärstadt von<br />
Vapniarka. In und zwischen den Häusern reges Leben, Soldaten, Pferde. Wir gehen auf<br />
der guten Straße <strong>im</strong>mer weiter, rechts Wald, links Kasernen, bis ganz am Ende ein Tor <strong>im</strong><br />
Stacheldraht sich öffnet und wir in den großen Vorhof eingelassen werden. <strong>Ein</strong>ige<br />
hundert Schritte weiter steht ein großes und ein kleines Tor mit Holzflügeln, das in einen<br />
dreifach stacheldrahtumgebenen Bezirk führt, in welchem 3 große Kasernengebäude in<br />
Reih und Glied stehen und dazu einige kleine Häuschen. Dieser Bezirk ist also das <strong>Lager</strong>.<br />
Rings herum stehen in gleichen Abständen Wächterhäuschen und neben dem kleinen,<br />
offenen Holztor ein Steinhäuschen mit flachem Dach. In diesem Häuschen ist ein Gehen<br />
und Kommen. Durch den Stacheldrahtzaun blicken ein paar Menschen zu uns hinüber,<br />
einer winkt. Wir bleiben am Vorplatz und warten auf die weiteren Gruppen. <strong>Ein</strong> Tisch<br />
und Sessel wird aufgestellt und uns bedeutet, zu warten. Müde fallen wir auf unser<br />
Gepäck. Es kommt eine zweite Gruppe, eine dritte Gruppe. Die Zuschauer von innen sind<br />
verschwunden, wir konnten keinen sprechen. Wir werden apathisch, wir wissen nichts,<br />
und wir denken nicht. Jede Viertelstunde trifft ein Zug ein. Wir sind schon einige<br />
hundert. Schließlich erscheint ein kleiner, schwarzer Offizier mit Zigeunergesicht, setzt<br />
sich an den Tisch und beginnt, uns wieder einmal zu registrieren. Auch gut, man hat uns<br />
ja schon aus der Liste der Lebenden gestrichen. Jetzt erscheinen wir wieder in einer<br />
neuen Form auf dem Papier, als Insassen des <strong>Lager</strong>s Vapniarka. Träge zieht sich die<br />
Prozedur hin. Die Untersuchung unserer Sachen, vor der man uns Angst gemacht hat, ist<br />
ganz oberflächlich. Sobald der erste Haufen abgefertigt ist, führt uns ein Soldat zum<br />
<strong>Ein</strong>gangstor, dort übern<strong>im</strong>mt uns ein alter Feldwebel mit Brille. Er zählt uns, sobald wir<br />
das Tor durchschreiten, 20, 21, 22, nach je 10 macht er sich ein Zeichen. Ihn interessiert<br />
nur die Zahl. Drinnen <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> gesellt sich zu uns ein junger Mensch, erzählt uns, daß sie<br />
auf unser Kommen vorbereitet seien. Zut Zeit seien nur ganz wenige aus den Ghettos der<br />
Umgebung wegen verschiedener Vergehen <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> und einige hundert Ukrainer, aber<br />
Vorbereitungen für mehrere tausend, die kommen sollten, seien getroffen. Wir gehen bis<br />
zum ersten großen Haus, sehen einen gewaltig großen Saal und kleine Z<strong>im</strong>mer zu den<br />
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Seiten. Im ersten dieser kleinen Z<strong>im</strong>mer legen wir unsere Sachen hin und setzen uns<br />
darauf. Dauernd strömen neue Ankömmlinge nach und tun das Gleiche. Die Ruhe dauert<br />
nicht lange. <strong>Ein</strong> Offizier erscheint, läßt vormalige Reserveoffiziere antreten. Wir Ärzte<br />
gehören dazu und melden uns, Moritz als Rangältester. Sein Auftrag ist klar. Die<br />
Platzverteilung soll von Moritz, Gustl und mir vorgenommen werden. Das Parterre des<br />
ersten Hauses bleibt frei für das Spital, der erste Stock für die Frauen. In die großen Säle<br />
kommen je 300 Menschen in 4 Reihen, in die kleinen Z<strong>im</strong>mer je 15 bis 20. Es soll<br />
ordentlich, ohne Gedränge zugehen. Das heißt, erst einmal müssen wir aus dem Parterre<br />
des ersten Hauses heraus. Wieder das Gepäck aufgenommen und zum zweiten Haus<br />
gezogen. Dort haben inzwischen andere die kleinen Z<strong>im</strong>mer besetzt, <strong>im</strong> großen Saal<br />
liegen nur in den Ecken und um die Säulen herum Menschen in wirrem Durcheinander.<br />
Wir haben selbst keinen Platz, und wir sollen Ordnung schaffen. Moritz beginnt, mit<br />
seiner martialischen Art hin und her zu dirigieren. Keiner rührt sich vom Platze. Die<br />
Menschen sind müde, wollen ihre Ruhe haben. Wir versuchen, in einem der großen Säle,<br />
die eben erst von Neuankömmlingen besetzt werden, Reihen zu formen an den Wänden,<br />
zwischen den Säulen. Die ersten folgen, dann finden sie eine andere Ecke günstiger und<br />
übersiedeln, zuletzt herrscht wieder Durcheinander. Moritz schreit, Gustl humpelt<br />
geschäftig herum, ich sehe mehr zu. Zuletzt kommt Moritz die <strong>Ein</strong>gebung. Sein<br />
soldatisches Denken kennt keine Zwischendinge. Besser schlechte Ordnung durch uns als<br />
gute durch die Militärs, das versteht er nicht. Prompt begibt er sich zum Kommandanten<br />
und gibt seine und damit auch unsere Demission. Wir haben keine Autorität, wir sind<br />
nicht <strong>im</strong>stande, den Auftrag auszuführen.<br />
Inzwischen wälzen sich die Menschenknäuel ins <strong>Lager</strong>, suchen den besten<br />
übriggelassenen Platz, ordnen sich da und dort nach Landsmannschaften oder nach am<br />
Wege geschlossenen Bekanntschaften. Die Geschickteren belegen Ecken, schneiden mit<br />
Stricken ein Geviert von Säule zu Säule, suchen einen Raum in einem kleinen Z<strong>im</strong>mer.<br />
So geht es bis zum Abend, bis alles vom Bahnhof in das <strong>Lager</strong> befördert ist. Da liegt sie<br />
nun, eine graue, schmutzige Menschenmasse. Siehst du sie an, so kannst du nichts<br />
unterscheiden, nicht Mann, nicht Frau, nicht Alter und nicht Gesicht. Grau in grau,<br />
Menschen und Säcke, müde Bündel aus Fleisch und Fetzen. <strong>Ein</strong> Dach haben wir endlich<br />
wieder über dem Kopf, ein neues He<strong>im</strong>.<br />
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Kaum sind wir alle drinnen, ertönt ein Ruf, mit Kübeln um Essen zu kommen. Von<br />
je 20 geht einer und kommt mit einer dampfenden Brühe zurück.. Wir essen mit Wonne<br />
die erste warme Mahlzeit nach 10 Tagen, ein Erbsenbrei. Am nächsten Morgen werden<br />
mit Tagesanbruch die Türen geöffnet, wir sehen uns erst einmal um. Im <strong>Lager</strong> gibt es<br />
keine Soldaten. Wir sind uns selbst überlassen. Die drei Häuser sind verwahrlost, keine<br />
Scheiben, keine Fensterrahmen, der Boden schmutzig, defekt, Türen nicht überall<br />
vorhanden, wo noch welche sind, ohne Schlösser. Die Stiegengeländer fehlen, es stehen<br />
Reste der Stahlstützen. Das kleine Haus gegenüber den 3 großen war einmal eine Küche.<br />
Die Kessel sind geblieben, Türen und Fenster sind fort, ebenso Geländer und alles, das<br />
leicht entfernbar ist. Es gibt 2 Klosetthäuschen, in einem für Frauen ist eine Hälfte offen,<br />
das auf der Seite unseres Hauses ist geschlossen, doch 200 Schritte weiter, jenseits des<br />
Rasens, ist eine Latrine gegraben, mit Brettern fachmännisch eingedeckt, die 40 Löcher<br />
frei läßt. Wasserröhren gibt es an zwei Stellen des Hofes, doch kein Wasser. Die gestrige<br />
Erbsenbrühe hatte Flüssigkeit in sich, denken wir an das gestrige Mahl. Wir sind<br />
bescheiden. Doch die niedrige Flüssigkeitszufuhr schadet uns. Wir trocknen aus. Die<br />
Haut unter den Nägeln ist wund, Schmutzinfektionen sind eingetreten. An einem Daumen<br />
blüht eine große Eiterblase, die Nagelecken an mehreren Fingern sind dick und rot.. Der<br />
Rand der Jacke hat Schmutz mit Eitererregern in die Haut eingerieben, kleine<br />
Eiterpusteln hat jeder, einzelne schon ansehnliche Furunkel. Wasser könnte uns viel<br />
helfen, innerlich und äußerlich, aber es gibt noch keines.<br />
In den frühen Morgenstunden ertönt zum ersten Mal der Ruf “Appell!” Wir treten<br />
an, die Frauen, dann die Männer, ordnen uns einigermaßen. Noch <strong>im</strong>mer lassen sich in<br />
der grauen Masse keine Gesichter abheben. <strong>Ein</strong>ige Unteroffiziere treten durch das Tor<br />
ein. Die mehr hinten Stehenden drängen nach vorne, stoßen uns, die vorne stehen, in die<br />
Graben und auf die längs der 3 Häuser verlaufende Straße. Wir drängen zurück, die<br />
Unordnung ist groß. Wir sollen gezählt werden, dazu müssen wir ruhig in Reihe stehen.<br />
Die Unteroffiziere brüllen, die Hintermänner drängen vor, um zu hören, es entsteht ein<br />
Durcheinander. Der <strong>Lager</strong>kommandant, ein kleiner, schwarzer Leutnant, jünger als unser<br />
Transportbegleiter, doch auch vom Typus ausrangierter, sonst unbrauchbarer<br />
Reserveoffiziere, erscheint, läßt sich von den Unteroffizieren erklären, was wir für<br />
unbelehrbare Menschen sind, geht einige Male auf und ab und wartet.<br />
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Nun öffnet sich das Tor großmächtig, der Kommandant der Internierungsregion,<br />
Major Murgescu, erscheint, in seinem Gefolge einige Offiziere und Unteroffiziere. Der<br />
<strong>Lager</strong>kommandant eilt ihm entgegen, alle steht stramm, salutiert und erstattet Meldung.<br />
Große Szene! Napoleonisch hält er die rechte Hand <strong>im</strong> Mantelausschnitt und vermindert<br />
damit auch das Mißverhältnis zwischen Brust und Bauch. Die Füße breitspurig<br />
auseinander, den Kopf mit den Hängebacken und dem Fetthals nach hinten geworfen, ein<br />
martialisches Bild. Der Rapport ist am Ende, Murgescu salutiert und dankt. Dann schenkt<br />
er uns seine Aufmerksamkeit. Er sieht die Gruppe der Frauen, den Haufen der Männer,<br />
spricht mit seinen Leuten, verlangt, daß alle Ärzte zu ihm gebracht werden und zieht<br />
gewichtigen Schrittes ab.<br />
Nach einer knappen Stunde sind wir in einem Dienstraum eines außerhalb des<br />
<strong>Lager</strong>s liegenden Kasernenhauses. Seine Rede ist kurz: “Von den Leuten, die vor euch <strong>im</strong><br />
<strong>Lager</strong> waren, könnet ihr die Grabhügel von 550 am Abhang hinter dem <strong>Lager</strong> sehen. Sie<br />
starben an Flecktyphus. Machet es besser, wenn ihr könnet. <strong>Ein</strong>er von euch wird der<br />
<strong>Lager</strong>arzt.” Wir schlagen scheu Moritz vor, der ein alter Hygiene-Fachmann ist. Nein,<br />
den will er nicht, denn er hat auf ganz unmilitärische Art einen Auftrag nicht ausgeführt,<br />
sondern zurückgelegt. Das weiß er schon! Also wird Blum <strong>Lager</strong>arzt, ich übernehme die<br />
Infirmerie und Moritz die Hygiene.<br />
Wir werden unter Bewachung ins <strong>Lager</strong> zurückgeführt, wir sind nachdenklich. In<br />
unserem Z<strong>im</strong>mer zeigt die Wand merkwürdige Inschriften. 6 – 8 Namen<br />
übereinandergeschrieben und dann die Bemerkung “waren am so und sovielten März<br />
noch in diesem Raum am Leben”. Und wohin kamen sie nachher? Die Hügel am<br />
Bergabhang sind wirklich da, aber wohin verschwand der Rest? Unseren <strong>Lager</strong>genossen<br />
sagen wir, daß der ärztliche Dienst eingeteilt wurde.<br />
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<strong>Lager</strong>leben<br />
Wir sind ausgeruht. <strong>Ein</strong>e Nacht auf festem Boden geschlafen, <strong>im</strong> Bauch die gestrige<br />
warme Mahlzeit. Wir haben Pläne, wir haben eine Aufgabe, unseren Raum wohnlicher zu<br />
gestalten, ihn gegen Regen zu schützen, den Fußboden abzukratzen, eine Türe gegen den<br />
Nebenraum irgendwo zu finden. Wir stehen herum, überlegen, da erschallt ein Ruf:<br />
Wasser! Alles stehengelassen, hineingerannt, ein Gefäß ergriffen, schon ist der<br />
Wasserhahn von einem Haufen umstellt, ein Stoßen, Drängen, viel geht daneben, die<br />
glücklichen Empfänger ziehen ab. So geht es eine Stunde, dann Schluß. Der kleine<br />
Pr<strong>im</strong>us wird aus der Schachtel genommen, Turris Eigentum, ein warmer Tee gekocht,<br />
wie das gut tut. Manche haben sogar genug, um sich zu waschen. Da und dort flattert<br />
schon ein Hemd am Stacheldraht. Es trocknet rasch. Merkwürdig, wir sind doch gar nicht<br />
so weit von zu Hause,und doch ist das Kl<strong>im</strong>a ein ganz anderes. <strong>Ein</strong> rauher Steppenwind<br />
weht kontinuierlich, trocknet uns Nase und Lippen. Wir haben Sprünge in den trockenen<br />
Lippen, eine braune Stirne und wunde Finger.<br />
Schon gibt es auch einige, die Verbindungen angeknüpft haben. Der fand einen<br />
Gendarmen aus seiner He<strong>im</strong>atstadt, jener einen Unteroffizier, mit dem er zur Schule ging,<br />
und schließlich hat Bubi mit den Soldaten schon <strong>im</strong> Waggon Freundschaft geschlossen.<br />
Er kennt ihre Sprache, ihre vulgäre Sprache, das klingt an. <strong>Ein</strong> Hund riecht gleich den<br />
Tierliebhaber und folgt ihm schwanzwedelnd. Und dann gibt es Berufe, deren<br />
Nützlichkeit so groß ist, daß sie bald aus der Menge auftauchen. Der erste ist, man wolle<br />
es oder nicht, der Friseur. Schon am Wege benutzten sie in den Tagen ihr<br />
Handwerkszeug. Messer, Schere und Maschine hatten sie mit, ein Balken, ein Stein, um<br />
daraufzusitzen, war überall zu finden, ein Spiegel ist wirklich überflüssig. Sie arbeiteten<br />
und verdienten. Im <strong>Lager</strong> war die Nachfrage groß, und bald verließen zwei von ihnen<br />
täglich für Stunden das <strong>Lager</strong>, zur Dienstleistung bei Offizieren und Mannschaft, der Rest<br />
arbeitete an unseren Köpfen. <strong>Ein</strong> Friseur spricht bei seiner Arbeit, wenn er klug ist, hört<br />
er auch. <strong>Ein</strong>e Verbindung ist gegeben. Nach dem Friseur kommt der Dentist. Auch diese<br />
hatten ihre Instrumente und ihr Material in einer kleinen Tasche mit, und sogar auch eine<br />
Fuß-Bohrmaschine. Dann kommt der Koch, unter uns war einer von der<br />
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Speisewagengesellschaft, dann der Photograph und zuletzt der <strong>Arzt</strong>. Dieser kommt erst<br />
dann, wenn es wirklich Not gibt, dann aber wird er natürlich hoch geschätzt. Der<br />
schlechteste, älteste und mindeste <strong>Arzt</strong> ist <strong>im</strong>mer besser als gar keiner. So kamen aus der<br />
grauen Masse <strong>Ein</strong>zelmenschen heraus, kraft ihrer Berufe. Sie brachten uns einige<br />
Nachrichten über die Vorgänge in der Welt und auch ein Stück Brot, ein Ei, einen Apfel.<br />
Auch unter den Frauen gab es leichte Aufhellungen. War doch Polia gleich auf den Major<br />
zugetreten, hatte ihm versichert, daß wir alle bessere Menschen seien, nichts mit Politik<br />
zu tun hätten und gute Behandlung erwarteten. Man konnte über diese Intervention<br />
verschiedener Meinung sein. Zynisch bemerkte einer der Herumstehenden: “Frauen<br />
haben es in der Welt einfacher. Sie haben unter allen Umständen etwas zu bieten.” Zu<br />
Mittag wieder ein Ruf: Essen! Kübel wurden uns übergeben, jedes kleine Z<strong>im</strong>mer bekam<br />
einen. <strong>Ein</strong>er von uns geht zur Küche, erscheint mit fast vollem Kübel, wieder Erbsen in<br />
Wasser. Es sind große Erbsen, größer als die gewöhnlichen und mit dickerer Schale.<br />
Wenn sie weich gekocht sind, lassen sie sich zu Brei zerstoßen, wenn sie hart sind, ist es<br />
schwer, sie zu schlucken. Aber in jedem Falle, das Essen ist warm, hat Wasser in sich<br />
und Salz. Man kann das rötliche Erbsenwasser trinken und dann die Erbsen essen und hat<br />
schon zwei Gänge. Die Menge ist reichlich. Abends wieder Erbsen, und so blieb es. Mit<br />
Sonnenuntergang erscheint ein Unteroffizier, hängt Ketten und Schlösser vor unser Tor.<br />
Wir erhalten einige Fässer für nächtliche Bedürfnisse. Früh tragen wir sie zur Latrine. Es<br />
wird einige Ordnung in unsere Reihen getragen. Die Männergruppen zerfallen in zwei<br />
Sektionen, jede in vier bis fünf Hundertschaften und diese in Zehnergruppen. Nun gibt es<br />
Führer der Zehnergruppen, der Hundertschaften, der Sektionen. Die Frauen bilden die<br />
dritte Sektion. Die Führer der Sektionen sind auf einmal da. Wer hat sie best<strong>im</strong>mt? Der<br />
Kommandant kennt uns nicht. Wir kennen uns nicht. Warum gerade diese? Wer schob sie<br />
vor? Und es sind die richtigen. Wieder Gesichter, die man erkennt, unsere<br />
Gruppenführer. Doch langsam, langsam heben sich auch andere ab. Wer kann Matroi<br />
verkennen? Im schmutzigen Mantel mit braunem Pelzkragen und Mütze versank er in der<br />
Masse. Aber jetzt schält er sich aus seinen Hüllen, der rundliche Bauch, die feisten,<br />
kurzen Beine. Der Birnenkopf mit den großen, unschuldigen Kaninchenaugen, die<br />
traurigen Tränensäcke und die runde Brille—das ist der Matroi, der Doktor Matroi aus<br />
Arad. Sein Schatten, den er von seinen Abfällen von mitgebrachter Wurst und Speck<br />
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ernährt, der magere Hirsch mit dem Aztekengesicht, der gebogenen, scharfen Nase, den<br />
tiefen Stirnwinkeln und dem großen Adamsapfel, der den ungarischen Akzent durch die<br />
Zahnlücken verschärft, vergißt man auch nicht, wenn man ihn in der Masse einmal traf.<br />
Und die Esti, die zu ihren Landsleuten zu Besuch kommt, ihnen fraulich den Tee kocht<br />
und sich dienen läßt mehr als sie bedient, Esti, die schlanke, geschmeidige Turnlehrerin<br />
aus Temesvar, der man wegen ihrer zahlreichen Vorzüge die lange Nase gerne vergibt,<br />
die muß jedermann schon be<strong>im</strong> ersten Male auffallen. So kennt (und erkennt) man ein<br />
paar Menschen. Um diese gruppieren sich andere, der alte Advokat Dr. T., der Dr. Zettel<br />
mit seinem alten Vater, der lange Freund von Esti, der sich Dr. Gondar nennt. Mit den<br />
Unsrigen hat sich schon eine feste Gemeinschaft gebildet. Wir wohnen zum großen Teil<br />
in einem Raum, nur die beiden Frauen <strong>im</strong> Frauenhaus und Roll, Fisch, Schwarz und<br />
Schneeberg <strong>im</strong> Nachbarz<strong>im</strong>mer, nur durch eine Tür getrennt. Warum eigentlich? Mit uns<br />
ist Landau und Harry Goldstein, die nicht zu uns gehören, und unsere Leute sind drüben.<br />
Darin liegt eine ordnende Hand. Moritz nennt sie von Anfang an bei einem Namen: die<br />
schwarze Hand. Be<strong>im</strong> nächsten Appell stehen wir schon ordentlicher, nach<br />
Zehnergruppen, Hundertschaften und Sektionen. Es ist früh, kalt, wir treten von einem<br />
Fuß auf den anderen. Die Hintermänner wechseln während der Zählung öfters die<br />
Reihen, sprechen mit Nachbarn, forschen nach Latrinengerüchten. <strong>Ein</strong>e Zahl hat jeder der<br />
Unteroffiziere, doch jeder eine andere und keiner die, die unserer Zahl nach der<br />
<strong>Ein</strong>tragung <strong>im</strong> Wächterhäuschen entspricht. Sie zählen nochmals und nochmals, lassen<br />
uns in die Z<strong>im</strong>mer, holen uns wieder heraus, bald sind wir zuviel, bald zu wenig, und sie<br />
müssen ihrem Kommandanten Rechenschaft geben. Schließlich konnte doch jemand<br />
durchgehen. Zuletzt durchsuchen sie die Häuser, jagen unsere Aufseher für das bißchen<br />
Gepäck heraus. Dann postieren sie 3 Mann vor jedem <strong>Ein</strong>gang und zählen uns einzeln<br />
be<strong>im</strong> <strong>Ein</strong>tritt, 20, 21, 22, 23, ein Strich nach je 10, bis der letzte verschwunden ist, und<br />
auch Küche und Latrine vereinsamt bleibt. Später zählen unsere eigenen Burschen weit<br />
praktischer. Sie nehmen bei dem diensthabenden Unteroffizier unsere Gesamtzahl,<br />
subtrahieren die Zahl der am frühen Morgen zur Arbeit Ausgegangenen, laufen einige<br />
Male, die Hände lebhaft bewegend, auf und ab und präsentieren das richtige Resultat.<br />
Das erspart viel Zeit und Herumstehen in Kälte und Nässe. Aber praktische Dinge<br />
kommen nicht gleich. Es erfordert Verbindungen, gegenseitiges Vertrauen, also Zeit.<br />
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So entwickelt sich ein Leben mit einer Tages- und einer Arbeitseinteilung. <strong>Ein</strong>e<br />
ordnende Hand ist zu spüren. Wir sind es nicht, unsere Bekannten auch nicht. Aber sie ist<br />
da. Jede Hundertschaft hat ihren Essensverteiler. Die sind alle von einem Schnitt, auch<br />
die Hundertschaftsführer sind vom gleichen. Die beiden Sektionsführer, die die<br />
Verbindung mit der <strong>Lager</strong>leitung bilden, sind 2 Advokaten, eher indifferente Typen, aber<br />
ihnen wird geraten, was sie tun oder sagen sollen. Von wem? Wir bekommen mehr<br />
Essen, früh 200 g Brot pro Kopf, Gerstenbrot mit nassem Stroh, richtigem Häckselstroh.<br />
Es ist tief gesprungen, es krümelt be<strong>im</strong> Schneiden, hat einen breiten, seifigen Streifen am<br />
Boden, aber <strong>im</strong>merhin Brot. Dann bekommen wir ein bißchen Käse, alle offiziell<br />
Arbeitenden, die eine Funktion haben. Wir haben 2, Moritz als Hygieniker und ich. Wir<br />
bekommen ziemlich viel Käse, dünnen, wässerigen Weißkäse. Darin liegt Eiweiß, Kalk,<br />
Kalorien. Der Käse verteilt sich natürlich auf alle, auch das Brot wird zusammengelegt<br />
und die Nahrungsmittelreste von zu Hause. Die Freßgemeinschaft, die sich schon <strong>im</strong><br />
Zuge zwischen 5 von uns gebildet hat, bleibt bestehen, und Turri tritt als 6. hinzu. Wir<br />
bekommen einige Kartoffeln, Aufleger, Turri und Roll kochen, Gustl, Muniu und ich<br />
essen mit. Schwer ist das Kochen <strong>im</strong> Anfang. Man braucht dazu soviele Dinge, vor allem<br />
Nahrungsmittel, dann Brennmaterial, Kochstelle, Wasser, Salz und auch einen Topf,<br />
lauter schwer erreichbare Dinge. Wir versuchen es zuerst auf breiter Basis, ein<br />
Blechkübel als Kochgefäß, <strong>Ein</strong>kauf von Maismehl, Bohnen, Kartoffeln, Eiern bei den<br />
Ukrainern, die zur Arbeit ausgehen und relativ leicht einschmuggeln, Wasser, krampfhaft<br />
reserviert, dem Waschen abgespart, und Salz holt Moritz aus der Küche. Dieser kostbare<br />
Artikel ist einfach nicht zu haben. Er wird über den Fluß eingeschmuggelt und zu hohen<br />
Preisen verkauft. <strong>Ein</strong>faches Steinsalz oder grobes Kochsalz sind Luxusartikel. Salz ist<br />
aber lebensnotwendig. Moritz hat sich seinen jugendlichen Charm ins Alter bewahrt.<br />
“Moritz, nur du kannst es, geh’ in die Küche, klopf der Regina freundlich auf den Popo,<br />
und sie gibt dir sicher eine Tüte Salz.” “Was schickt ihr <strong>im</strong>mer mich? Soll der Rote<br />
gehen, soll das Pferd, der Tierdoktor, gehen. Ich bin ein alter Mann.” “Moritz, nur du<br />
wirst es bekommen, schön, wir können sonst keine Suppe kochen.” Das zieht. Moritz<br />
geht, erscheint nach einer halben Stunde mit breitem Lachen um den ausdrucksvollen<br />
Mund, mit einem Papierfetzen, in dem einige Salzklumpen liegen, in der Hand. “Na!<br />
Habt’s und laßt’s mich in Ruh’.” Die Suppe kocht Schneeberg, ein Koch von Beruf. In<br />
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einem Restaurant in unserer He<strong>im</strong>atstadt war er der Erzeuger der belegten Brötchen und<br />
der diversen kalten Vorspeisen. In der russischen Besatzungszeit hatte er eine noch<br />
umfangreichere Funktion in amtlicher Eigenschaft in unserem großen Spital. <strong>Ein</strong> Loch in<br />
den Boden als Feuerungsstelle, ein Glied des eisernen Stiegengeländers darübergelegt,<br />
Holz darunter angezündet, Kochen nach Zigeunerart. In die Suppe kommt alles, was wir<br />
besitzen und auftreiben konnten, Kartoffeln, Mehl, Zwiebeln, Bohnen und als besonderer<br />
Luxus auch einige Eier. So verteilt sich das Wertvolle gleichmäßig auf alle, und was<br />
bekäme sonst einer vorgesetzt, 1/4 Ei? Diese Suppe bildet den Höhepunkt des Tages, 1<br />
1/2 Töpfe @ 1/4 Liter bekommt der einzelne, heiß, frisch, schmackhaft, eine wahre<br />
Freude. Und doch, es geht nicht lange so. Die Gesellschaft is zu groß. Die Beilagen<br />
laufen nicht richtig ein, und als wir einmal Schneeberg dabei beobachten, wie er allein an<br />
der Feuerstelle 2 oder 4 Eier für sich verwendet, da hört naturgemäß alles auf. Wir<br />
beschränken uns auf unseren Sechserkreis. <strong>Ein</strong> Klempner schlägt Blechplatten, von da<br />
und dort genommen, zu Töpfen und Schüsseln um. Das geschieht auch nach Zigeunerart<br />
ohne Lot durch Faltung der ineinandergreifenden Flächen. Wir erwerben einen hohen 6<br />
Liter-Topf. Wir erwerben einen kleinen Blechofen aus gleichem Material und leiten sein<br />
Rohr in den zerstörten Z<strong>im</strong>merofen. Wir kaufen Holz und kochen allein. Heute 4 kg<br />
Kartoffeln für unsere Gruppe, dazu ewas Bauernöl, das andere Mal Bohnen, nahrhafte<br />
Bohnen, darauf Zwiebeln in Öl geröstet. Zwiebeln sind gut und nützlich. Zwiebel mit<br />
Brot ist ein Gericht, ungleich mehr als bloßes Brot. Zwiebel n<strong>im</strong>mt dem ungereinigten Öl<br />
den Geruch. Es gibt noch eine andere Methode, um Öl zu reinigen. Man erhitze das Öl<br />
möglichst stark, schütte dann einen Löffel Wasser hinein und springe rasch zur Seite.<br />
Kochen, Dampf, das Ganze steht in Flammen, und nach ein paar Sekunden herrscht<br />
Ruhe, und das Öl ist fast geruchlos. Man muß lernen, ewig lernen. Es tut uns leid, das<br />
Kochwasser der Kartoffeln und der Bohnen wegzuschütten. Es ist Wasser und Salz darin<br />
und ausgelaugte Stärke, Kalorien und Vitamine. Also wird es verwendet. <strong>Ein</strong>e <strong>Ein</strong>brenne<br />
aus Maismehl und Öl (Maismehl eignet sich schlecht dazu, hält nicht zusammen, ist also<br />
nur <strong>im</strong> Notfall zu verwenden) kommt hinein, ein Löffel Bohnen oder Kartoffeln in den<br />
Teller, an guten Tagen auch geröstete Zwiebeln, und schon gibt es zwei Gänge,<br />
Bohnensuppe und Bohnen oder Kartoffelsuppe und Kartoffeln. Als drittes Maisbrei, und<br />
das ganze Wochenmenu ist fertig. Natürlich kann Abwechslung nicht garantiert werden,<br />
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und wir richten uns nach dem Vorhandenen, was wir eben bekommen können. Gibt es ein<br />
Pud Maismehl, dann eben Maisbrei, bis es aufgegessen ist. Die Sorten, die wir<br />
hineingeschmuggelt bekommen, sind nicht gerade die besten. Das Mehl ist jung, wie wir<br />
sagen, und nicht haltbar. Es ist feucht und wird <strong>im</strong> Innern heiß, so heiß, daß man die<br />
Hand nicht in den Sack hineinlegen kann. Gleichzeitig bekommt es auch einen Geruch,<br />
einen merkwürdigen Geruch nach Sch<strong>im</strong>mel, <strong>im</strong> Mund schmeckt es wie Naphtalin. Man<br />
muß es rasch verbrauchen, daher Tag für Tag kochen. Mit den Kartoffeln ist es auch<br />
schwer. Sind sie klein, dann fällt be<strong>im</strong> Schälen zu viel weg. Kocht man sie aber in der<br />
Schale, dann haben sie nicht den Geschmack nach Salz, sondern nach Erde, und das<br />
Wasser, die gute Suppe, ist nicht zu gebrauchen. Es gibt überhaupt unendlich viele Sorten<br />
von Kartoffeln, weiße, rote und gelbe, alle Größen und Formen, glatte und mit tiefen<br />
Augen, die schwer auszuschneiden sind, solche, die <strong>im</strong> Kochen ganz bleiben und solche,<br />
die gleich zerfallen, sodaß man kaum noch Wasser und Kartoffeln auseinanderbekommen<br />
kann. Schwere Probleme entstehen für unsere Küche. Aufleger steht beobachtend und<br />
wartet auf den richtigen Augenblick für das Abseihen. Turri verschwindet zu Ray und<br />
erscheint zu rechten Zeit mit kindlicher Unschuldsmiene. Moritzs Vorstellungen, daß er<br />
das Feuer inzwischen anblasen mußte, daß zu wenig Wasser <strong>im</strong> Topf war, und daß er<br />
überhaupt ein Trottel sei, rühren ihn nicht. Roll, der gute, steht mit seinem rundem<br />
Rücken, leckt am Löffel, steckt den Löffel in den Topf, kostet wieder und leckt nach, so<br />
lange, bis eben die Kartoffeln oder die Bohnen gar sind. Die Nasenspitze sinkt bis in die<br />
Mundhöhe, der Rücken wird <strong>im</strong>mer runder, der Bauch balanciert das Gleichgewicht aus.<br />
Er denkt an einen <strong>Ein</strong>kauf, an ein Geschäft, er leckt seine Lippen mit Andacht. Er hat<br />
einen Sohn, einen prächtigen, großen Sohn <strong>im</strong> Gymnasium. Für ihn will er leben. Wenn<br />
wir unsere Hauptmahlzeit einnehmen, die vollen Teller, Schüsseln, Töpfe, jeder hat ein<br />
anderes Eßgeschirr, schmatzend leeren, Aufleger und Turri ihre Blusen und Hemd<br />
ablegen, um freier essen zu können, und ihre Hosenknöpfe lockern, dann beneiden uns<br />
die anderen. Sie sind aber zu unsozial, um zu einer ähnlichen <strong>Ein</strong>igung zu kommen. Dann<br />
is Harry zu reich, erhält zu viel von zu Hause, um mittun zu können. Man kann auch<br />
nicht Karmelin, das Pferd, und den roten Essenfeld unter eine Haut bringen, Eppstein,<br />
den aufgeregten, anschließen und mit den übrigen eine Gruppe bilden. Sie versuchen es<br />
vergebens. Ihr Brot wird <strong>im</strong>mer so aufgeteilt, daß einer es in gleiche Teile zerlegt, diese<br />
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Teile von allen angesehen, da und dort Stückchen hin und her geschoben werden, bis alle<br />
die Teile als gleich anerkennen. Dann ruft einer die Namen auf, und der fast blinde Dr.<br />
Laxer mit seiner Pigmentdegeneration der Netzhaut reicht dem Aufgerufenen einen Teil.<br />
Und auch dann gibt es noch Zank und Unzufriedenheit.. Moritz krazt die leere Schüssel,<br />
kratzt laut und lauter, obwohl nichts mehr drinnen ist. “Willst du, Alter, die Schüssel mit<br />
aufessen?” Dieser Frage gilt sein Kratzen. “Ich könnt’ noch etwas vertragen.” Manchmal<br />
ist ein Rest <strong>im</strong> Topf geblieben, manchmal tritt Gustl, der Feinschmecker, etwas von<br />
seinem ab. Die beiden großen Esser, Turri und Aufleger, haben sich schon pr<strong>im</strong>är<br />
reichlicher bedacht. Es geht zwar nach Löffeln, doch ein Löffel Flüssigkeit ist ein Maß,<br />
ein Löffel Brei kann sehr verschieden sein. Nach dem Essen herrscht bessere St<strong>im</strong>mung.<br />
Es fällt ein Scherzwort, man lacht. Außerdem essen wir Erbsen, Erbsen zu Mittag und<br />
Erbsen zu Abend, Erbsenwasser als Zusatzgetränk. An manchen Tagen, wenn wir nichts<br />
anderes haben, verarbeiten wir die Erbsen in unserer Küche. Unsere Z<strong>im</strong>mernachbarn<br />
essen die Erbsen mit Zusatz, den jeder für sich erlangte. Unser Freund Essenfeld hat eine<br />
Flasche Öl. Er schüttet Öl aufs Brot, leckt die Tropfen, die daneben fallen. Er gibt Öl in<br />
die Bohnen. Und als die Flasche schon ganz leer war, sagt ihm einer, daß man durch<br />
Erwärmung des Flaschenhalses durch Reiben <strong>im</strong>mer noch etwas herausbekommen kann.<br />
Nun sitzt er und melkt die Flasche und melkt sie. Ja, er hat uns viele Sorgen gemacht, der<br />
gute Essenfeld. Er war nicht nur kurzsichtig und unordentlich, er konnte auch böse sein,<br />
wie ein Pferd. Wenn Menschen nahe zusammen sind, dann kann sich eine Gemeinschaft<br />
ergeben, die <strong>im</strong>mer herzlicher und fester wird. Dazu gehören gleichmäßige, feste<br />
Charaktere, Bildung und kein absoluter Tiefstand in pr<strong>im</strong>itivsten Bedürfnissen, auch<br />
unter pr<strong>im</strong>itivsten Bedingungen. Am ehesten wird diese Seelengemeinschaft entstehen,<br />
wenn diese Menschen dem gleichen Milieu entstammen und wegen der gleichen Sache<br />
leiden. Es gibt positive Ideale, die auf breitem, reichem Boden wachsen und die<br />
Menschheit zu einem höheren Grad von Lebensglück bringen wollen. Groß ist die Zahl<br />
der Menschen mit schönen Idealen, manche sprechen es aus und schreiben Bücher,<br />
andere handeln danach. In der Tiefe des Lebens bildet sich eine Gemeinschaft der Not,<br />
der Abwehr. Die Menschen sind grundverschieden, sie leiden nicht für ein Ideal, sie<br />
haben keine Ideale. Sie kamen durch Zufall in die Tretmühle. Genau so gut hätten es<br />
andere sein können. Sie empfinden dumpf, daß sie aufeinander angewiesen sind, aber<br />
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wenn sie nicht gerade gejagt werden, dann reiben und stoßen sie aneinander, speichern in<br />
sich Groll und hassen sich. Die kleinen Eigenheiten und Schwächen, die jeder besitzt,<br />
kommen <strong>im</strong> engen Zusammenleben nackt zum Vorschein. Sie wachsen mit steigender<br />
Empfindlichkeit ins Überd<strong>im</strong>ensionale und explodieren einmal bei kleinem Anlaß zu<br />
Stoß und Schlag. Wie könnte man es sich sonst ausdenken, daß Menschen, Intellektuelle<br />
mit akademischem Grad, es waren <strong>im</strong> Raum 7 Ärzte, 1 Apotheker, 1 Tierarzt, 1<br />
Mittelschullehrer und 2 junge Studenten, Menschen, die zu Hause am gedeckten Tisch<br />
saßen und aus weißem Porzellan aßen, die Bücher lasen, die griechischen Philosophen<br />
studierten, daß diese Menschen aufeinander mit Fäusten losgehen, daß sie <strong>im</strong> Zorn sich<br />
den heißen Topf mit Erbsensuppe über den Kopf schütten. Eppstein erwacht am Morgen<br />
und findet seine falschen Zähne nicht gleich. “Such doch weiter. Es hat sie dir sicher<br />
keiner genommen.” In der Regel ekelt sich ein Mensch, das falsche Gebiß eines anderen<br />
in die Hand zu nehmen. “Du hast sie mir versteckt, Essenfeld, gib sie her!” Er reißt dem<br />
unbeholfenen Kurzsichtigen die Brille von der Nase und murmelt in der undeutlichen<br />
Sprache der Zahnlosen: “Du gibst mir meine Zähne zurück, oder ich zertrete dir deine<br />
Brille.” Dieser sucht seine unersetzliche Kostbarkeit, seine einzige Brille, zu verteidigen,<br />
jener will seine Zähne. Sie stürzen wild aufeinander los, müssen von uns auseinander<br />
gerissen werden. Die Zähne finden sich dann in einer der vielen Falten unseres<br />
komplizierten Nachtlagers. Soweit kommt es mit Menschen, die auch gute Anlagen<br />
haben, die zur gleichen Zeit wertvolle Arbeit in ihrem Beruf verrichten und ihre soziale<br />
Funktion erfüllen könnten. Man kann Menschen vertieren, eigentlich jeden, wenn man<br />
ihn in die entsprechende Lage bringt. Bleibt das Leben erhalten, dann werden sie wieder<br />
unter den Verhältnissen, die wir normal nennen, so werden, wie sie früher waren und<br />
vergessen. Unser Freund E. muß auch <strong>im</strong> normalen Leben anstoßen. Wir haben unseren<br />
kleinen Blechofen. Er steht auf Ziegelsteinen, wackelt, wenn wir den Topf draufsetzen.<br />
Auch das Nachlegen von Holz erfordert besondere Sorgfalt. Er ist doch so labil, der<br />
kleine Blechkasten. Aber wir freuen uns über das bißchen Wärme, das er abgibt, und vor<br />
allem über die warme Mahlzeit, die wir ihm mitverdanken. Freund E. liest, die<br />
kurzsichtigen Augen vergraben sich in das Buch, die freie Hand erwärmt er über der<br />
Ofenplatte. Er tänzelt von einem Fuß auf den anderen. Er spuckt hie und da nervös, auch<br />
das kennen wir schon. Er verschiebt den Kopf gegen den Rücken ab- und aufwärts, ein<br />
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Anblick, gegen den wir auch schon abgestumpft sind, das ist eben Essenfeld. Åber dann<br />
plötzlich ein Krach, ein Dampf, das Z<strong>im</strong>mer ist voll von Rauch und Ruß, das gute Essen<br />
am Boden verschüttet, Asche, Holz, Ziegel, Ofen, Rohre <strong>im</strong> bunten Haufen am Boden. Er<br />
hat bloß mit dem Fuß das wackelige Postament des Ofens umgestoßen, und dieser ist<br />
umgefallen. Das kann jedem passieren, erklärt er kategorisch, und hat sich damit von<br />
jeder Schuld gereinigt. Wir bauen die Ziegel übereinander, schieben die Rohre<br />
ineinander, stellen den kleinen, viereckigen Blechkasten auf seinen Platz, verbrennen uns<br />
die Finger, verschmutzen Hände und Kleider. Das kann jedem passieren.<br />
Maismehl ist nicht haltbar, Kartoffeln noch weniger. Aber Bohnen, Wurst, das kann<br />
monatelang stehen. Moritz, der alte Stratege, ist vorsichtig. “Kinder, ein Sackel Fisolen<br />
muß bei uns <strong>im</strong>mer an der Wand hängen. Ihr werd’s mir noch die Fisolen einzeln aus der<br />
Hand fressen, wenn die Zeit kommt.” So wird wirklich ein Stück Wurst in einem<br />
Säckchen verpackt, auf einem Nagel hoch aufgehängt. <strong>Ein</strong> Säckchen Bohnen, schöner,<br />
weißer, trockener Bohnen, wird verschnürt, ein Stück Salz hinein gegeben gegen<br />
Parasiten, und das kommt auf einen zweiten Nagel hoch an der Wand. Friedlich ruhen sie<br />
dort durch Wochen. Dann kommt der Tag. Harry hat eine Waschgelegenheit mit der<br />
Möglichkeit, Wasser zu sparen, konstruiert. Bei dem üblichen Aufschütten geht viel<br />
ungenutzt daneben. <strong>Ein</strong>e große Konservenbüchse hängt wie ein Klistiergefäß an der<br />
Wand. <strong>Ein</strong> Gummischlauch mit Klammer. Auf Druck erhält man Wasser in einem<br />
dünnen Strahl, einfach, sparsam und gut. Darunter steht der Schmutzkübel mit<br />
Abwässern, in den man auch spuckt, die Zigarettenstummel wirft, die Abfälle, den<br />
Schuhschmutz hineinwirft. Freund E. ist gelehrig. Er macht Dinge, die ihm einleuchten,<br />
nach. Er schlägt einen Nagel in die Wand und hängt sein Wurstende darauf. Zu jeder<br />
Mahlzeit n<strong>im</strong>mt er es herunter, beriecht es, schneidet eine Ecke ab, prägt sich die Form<br />
des Restes ein und hängt die Wurst wieder auf. Und einmal passiert es. Er ist kurzsichtig,<br />
unbeholfen. Er greift daneben. Es klatscht auf, spritzt weit bis in unsere Ecke, und unsere<br />
Vorräte ruhen <strong>im</strong> Dreck. Das kann jedem passieren, absichtlich hat er es nicht getan. Er<br />
ist dem Wesen nach ein friedlicher Mensch. Er ist vorsichtig. Er sperrt jede Nacht einen<br />
Schuh in den berühmten, jetzt schon reparierten Koffer und einen in den Rucksack über<br />
seinem Kopf, damit Diebe nie beide finden. Und Moritz sagt: “Mein Vater und meine<br />
Mutter haben nicht lesen und schreiben können, aber sie waren trotzdem sehr anständige<br />
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Leute. Von meinem Vater habe ich viel gelernt. Er hat mir gesagt: ‘wenn du einen Roten<br />
siehst, schreib ihn dir auf, denn später wird er weiß, und du weißt nicht, daß er ein Roter<br />
ist und kannst dich nicht vor ihm hüten.’”<br />
Es hat sich ein <strong>Lager</strong>leben eingerichtet, von selbst oder dirigiert, von außen oder<br />
von innen? Das ist mir nicht klar, aber eine Ordnung besteht. <strong>Ein</strong>e best<strong>im</strong>mte Gruppe holt<br />
täglich die Erbsen aus dem Militärmagazin, 400g pro Kopf, 8 schwere Säcke. Das Wasser<br />
für die Küche wird <strong>im</strong>mer vorbereitet. Ertönt der Ruf “Wasser”, dann hat die Küche<br />
Vorrecht, und in den Tagen, wo es kein Wasser gibt, zieht eine Kolonne mit Kübeln zur<br />
Quelle des nächsten Ortes und bringt welches, nur für die Küche. Man geht gerne mit<br />
zum Wasserholen. Am Weg trifft man Bauern, kann einen mit gelben Kürbisschnitten<br />
oder gar mit Karotten gefüllten, flachen Kuchen einhandeln oder gar Eier und Butter. Nur<br />
das Wasser ist heilig. Der Tierdoktor versuchte einmal, als der Zug mit vollen Kübeln an<br />
unserem Fenster vorbeiging, einen Kübel Wasser in unser Z<strong>im</strong>mer zu lotsen. Der Träger<br />
tat es gerne. Doch er wurde bemerkt, ein kurzes Handgemenge, das Wasser wird vor<br />
unserem Fenster ausgeschüttet, der Kampf geht um den leeren Kübel. Lieber niemandem<br />
als einem einzelnen. Woher dieser Geist und diese Schulung? Der Tierdoktor schreit,<br />
sch<strong>im</strong>pft “Kommunistenpack”, komisch, wo er doch unter dieser Anschuldigung hier<br />
sitzt. Es hilft nichts. Nur daß eine Bestrafung für sein Verhalten nachher unterbleibt, weil<br />
er inzwischen nützlich wurde. Brot kommt einigermaßen regelmäßig. der Soldat, der den<br />
Wagen bringt, stiehlt einige Brote, verkauft sie an Ukrainer und die dann an uns. Das<br />
zählt nicht viel. Die Hundertschaften erhalten ihren Teil, die Zehnergruppen den ihrigen.<br />
Wir legen unsere Teile zusammen, unsere Nachbarn verlosen sie. Das alles geschieht<br />
reibungslos, wie selbstverständlich. Das Essen geht <strong>im</strong> Kampf um die Erhaltung vor,<br />
dann kommt die Behausung. Die Fenster sind mit Erlaubnis der Behörden ersetzt worden.<br />
Die vielen verlassenen Kasernen in der Militärstadt bieten das Material. Die Scheiben<br />
sind bizarr geflickt. Holzleisten und gebogene Blechstücke halten große und kleine<br />
Glasreste zusammen. Das Resultat ist ein durchsichtiges, ganzes Fenster. Es geht der<br />
Reihe nach, zuerst die großen Schlafsäle mit über 100 Insassen, die noch fast leere<br />
Infirmerie, die Frauenräume und dann auch wir in dem kleinen Z<strong>im</strong>mer. Das Schlafen am<br />
Boden ist nicht nur hart, sondern auch schmutzig. Der Sinn des Bettes ist ein vielfacher.<br />
Es ist weich, warm, aber auch hoch. Die schmutzigen Schuhe lagern ihren Mist am<br />
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Boden ab. Der aufgewirbelte Staub sammelt sich am Boden, auch Ungeziefer und<br />
Nagetiere kriechen am schmutzigen Boden herum. <strong>Ein</strong> Bett hebt sich wie ein Altar hoch<br />
empor, wird tagsüber bedeckt, nachts enthüllt und bleibt rein. Unser Boden wird nicht<br />
gewaschen, er wird mit einer abgestumpften Schaufel gekratzt. <strong>Ein</strong>e dicke, klebrige<br />
Breischicht aus Kot, Abfällen, Speiseresten, Spucke, Zigarettenstummeln bedeckt ihn.<br />
Und das alles tragen wir ins Bett. Nun werden Pritschen angefertigt, ein großer Schritt zu<br />
höherem Lebensniveau. Die Infirmerie bekommt ein Dutzend bettartiger <strong>Ein</strong>zelpritschen,<br />
dann die großen Säle, große Pritschen in Reihen mit guter Ausnützung des Raumes längs<br />
der Fenster und zwischen den Säulen. Im oberen Stockwerk gibt es mehr Individualisten,<br />
bitte sehr, ihre Pritschen werden in 2 Schichten übereinander in 2 Stockwerken angelegt.<br />
Die Jüngeren kriechen nach oben, und einige ganz Alte finden sogar unter der unteren<br />
Schicht einen ruhigen Platz. Wir warten sehnsüchtig. Wir sind nicht an der Reihe. Es gibt<br />
Stockungen. Wenn eine Baracke verschwindet oder einem Reservehaus plötzlich alle<br />
Fußbodenbretter entnommen werden, dann merkt es der Offizier vom Inventar, und es<br />
gibt Skandal. Es muß unauffällig vor sich gehen. Wir haben nur das Recht, ein paar<br />
Bretter für die Anfertigung von Pritschen verfallenen Häusern zu entnehmen. Nach einer<br />
Pause geht es wieder, dort ein Blechdach in die Klempnerei, hier ein Fußboden für die<br />
Tischler. Wir sind jetzt an der Reihe! Unsere Wünsche? <strong>Ein</strong>e große Pritsche an der<br />
ganzen Längsseite vom Fenster bis zum Ofen, so wie wir jetzt schon am Boden<br />
nebeneinander liegen, und zwei kleinere schmale an der Gegenseite, an der Wand mit der<br />
Tür. Es bleibt kein freier Raum <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer, nur ein schmaler Durchgang, doch wir<br />
wollen bequem liegen. Im Nebenz<strong>im</strong>mer schlafen sie in 2 Schichten übereinander und<br />
behalten dafür den halben Raum frei. Der Raum wird ausgemessen, Balken und Bretter<br />
zugeschnitten. In einigen Stunden stehen die Pritschen, wir übersiedeln mit unseren<br />
Decken und Mänteln nach oben. Moritz schleppt uns mit allen Sachen hinaus, lehrt uns,<br />
fachgemäß Decken und Mäntel auzubeuteln, bis uns die Handgelenke schmerzen. Be<strong>im</strong><br />
ersten Mal steigt eine Wolke auf, daß wir den Kopf abwenden, Mund und Ohren<br />
schließen. Dann wird es <strong>im</strong>mer weniger, und zuletzt staubt es wie normal. “Ihr wollt’s<br />
<strong>im</strong>mer in eurem Dreck liegen, meint’s, es wird jemand für euch Ordnung machen?<br />
Keiner geht mir ins Z<strong>im</strong>mer hinein! Zuerst putzen wir die Wände, dann kratzen wir den<br />
Boden ab, und bei den Sachen bleibt jemand draußen, damit niemand nichts wegn<strong>im</strong>mt.”<br />
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Und so bleibt es. Mit Baumzweigen verjagen wir die Millionen Stubenfliegen, die noch<br />
flugfähig sind, dann kehren wir die halb erstarrten, die Wände und Decke als homogene,<br />
schwarze Kruste bedecken, ab. Darunter erscheint eine graue Wand. Wir hatten schon<br />
lange vergessen, daß die Wand eine Farbe hatte. Kalk gibt es <strong>im</strong> <strong>Lager</strong>. Wir fanden ganze<br />
Fässer voll mit scharf riechendem, blauweißem Chlorkalk. Wir lösen ihn und tünchen die<br />
Wände. “Ihr werdet schon sehen, Kinder, das wird ihnen nicht schmecken, darauf werden<br />
sie sich nicht setzen.” Wir hassen die Fliegen. Sie fallen in unsere Erbsenkübel in solchen<br />
Massen, daß wir, bis der Kübel ins Z<strong>im</strong>mer kommt, einige Minuten damit verlieren, bis<br />
wir die mehrere Zent<strong>im</strong>eter dicke Fliegenschicht abgeschöpft haben. Zum Glück sind sie<br />
leicht und schw<strong>im</strong>men obenauf. Sie kriechen uns während des Essens in den Mund, sie<br />
verfolgen uns in die Latrine. Das kitzelt und brennt. Fliegen sind nicht so eklig wie<br />
Würmer, Schaben u.a., aber einfach störend. Die Wände sind weißblau, die Fenster von<br />
Dreck gereinigt, richtig durchsichtig, die Pritschen gewaschen, der Boden abgekratzt und<br />
mit Wasser nachgespült. Der alte Moritz hat nicht nur Rat und Beispiel gegeben, sondern<br />
zugegriffen und mehr gearbeitet als wir alle anderen zusammen.Wir legen unsere Decken<br />
sorgfältig auf die reinen Bretter, Moritz seine dicke, graue Bauerndecke mit schwarzem<br />
Rand, die er schon zu Hause auf seinem Balkon als Schlafunterlage benutzt hatte. Er hat<br />
vorgearbeitet und schon Wochen vorher auf Betonunterlage geschlafen, “Ich denk nicht<br />
so viel wie ihr, aber ich bin ein praktischer Mensch und hab’ mir gedacht, man kann nicht<br />
wissen, was kommt.” Darum hat er geübt, hart geschlafen. Dann kommt Gustl’s Decke<br />
als Unterlage und ein Plaid zum Zudecken, dann Turri, Emanuel, ein schmaler freier<br />
Raum, Epstein, ein Bett, eine Strohunterlage, wie <strong>im</strong> Stall, und darauf Karmelin, das<br />
Pferd. Die Kunst des Zudeckens löst jeder für sich. Der kleine Aufleger liegt warm in<br />
Moritzs Bauchfalte und liegt auf seinem Mantel, ein Erbstück vom Großvater her. Mäntel<br />
mit Verstand zusammengeknöpft geben eine gute Decke, wenn man sich nur nicht zu<br />
stark bewegt und die Teile durcheinanderbringt. Vor zu starkem Bewegen bewahrt uns<br />
die Enge. Wir schlafen seitlich in Reih und Glied, und wenn dem Alten der Fuß<br />
einschläft und er nicht mehr kann, dann fragt er: “Kinder, ich kann mir nicht helfen, ich<br />
muß mich umdrehen,” und die ganze Reihe tut stumm das Gleiche. So tragen wir dann<br />
unsere Sachen hinein, hängen Papier an unsere Wandnägel und dann erst unsere Sachen,<br />
denn die Wand färbt ab. Wir schichten und ordnen und fühlen uns ungemein gehoben.<br />
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Die erste Nacht auf der neuen Pritsche ist ein Genuß. Wir sprechen von den<br />
verschiedenen Graden der Reinlichkeit und von unseren zukünftigen Möglichkeiten <strong>im</strong><br />
besonderen. Wir haben wirklich gute Vorsätze und schlafen beruhigt ein. Erst später<br />
unterscheiden wir zwischen harten und weichen Brettern, elastischen und starren, den<br />
Lücken, durch die der Wind bläst, aber die Ordnung bleibt, jeder hat seinen Platz, wie am<br />
ersten Tag. Nach Essen und Schlafen kommt die Schönheitspflege.<br />
Wir sitzen nicht mehr <strong>im</strong> Freien auf einer Schwelle. Wir bekommen einen<br />
Frisiersalon, der kein Geld n<strong>im</strong>mt. Natürlich ohne Spiegel und Fauteuils, doch Bänke und<br />
einige Reinlichkeit. Das Geld geht in eine Kasse. Die Menschen, die früh zur Arbeit<br />
hinausgehen, sind nicht <strong>im</strong>mer die gleichen, aber sie, oder zumindest die offiziellen<br />
Abteilungsführer, stammen aus einer Gruppe. Wir schicken Menschen zur Arbeit ins<br />
Ortsspital, Lackierer, Tischler, Schlosser, zum Kohlenschaufeln am Bahnhof. Die Führer<br />
dieser Abteilungen kommen mit der Wachmannschaft in Berührung, freunden sich an,<br />
bestechen sie und bekommen einige Freiheit. Sie machen Kontakt mit den Boten, die<br />
Gemeinden oder Familien aus der He<strong>im</strong>at zu uns schicken, und die unter allen<br />
Vorwänden, als Beamte, Inspektionsoffiziere, Getreideaufkäufer, Missionspriester das<br />
<strong>Lager</strong> umschwärmen. Sie bringen illegale Post und Geld, schmuggeln es ins <strong>Lager</strong> ein<br />
und liefern es ab. Nicht an den Adressaten, sondern in ein best<strong>im</strong>mtes Z<strong>im</strong>mer. Von dort<br />
erhalten wir, was für richtig gehalten wird, und von dem Erhaltenen liefern wir, natürlich<br />
freiwillig, 10% für die Kosten ab. Moritz kann sich nicht beherrschen. Er brummt,<br />
sch<strong>im</strong>pft und rebelliert zuletzt laut. “Wir können verhungern, wen geht das an.<br />
Hauptsache, sie haben alles für ihre Leute. Meine Frau plagt sich dort, findet einen von<br />
meinen Leuten, und der kommt, und es geht durch die schwarze Hand, und die machen<br />
damit, was sie wollen.. Ich geh’ allein zu den Kohlen. Will ich sehen, sie sollen mich<br />
nicht lassen.” “Beruhige dich, Alter, mach keinen Skandal, wir werden sehen, daß einer<br />
von uns herauskommt, einer, der eine gute Nase hat und für solche Dinge taugt.” Also<br />
Lezi oder Roll. Beide sind schlecht gesehen. Lezi ist zu klug, berechnend, um auch sozial<br />
zu sein. Er hat, als es noch Äpfel gab, sie aufgekauft, einzeln in Papier gewickelt und für<br />
schlechte Zeiten weggelegt, zum Eigenbedarf oder Verkauf. Täglich sah er sie durch und<br />
aß die schlechtgewordenen auf. So aß er, wie es in einer schönen Geschichte heißt,<br />
<strong>im</strong>mer nur faule Äpfel. Roll ist ein typischer Kaufmann. Er sieht die Welt duch diese<br />
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Brille. Er stammt aus der Schuhbranche, und diese beherrscht er. Als junger Mensch<br />
schon hat er eine große Leder- und Schuhfabrik vertreten, kennt den Groß- und<br />
Kleinhandel. Er weiß, wie man mit Kunden umgeht. Wenn eine Frau unbedingt diese<br />
Schuhe verlangt hat, ganz dieselben in Form und Größe, aber in schwarz und nicht in<br />
braun, dann heißt er sie warten, bis das Paar eigens für sie aus dem Magazin gebracht<br />
wird. Im Nebenraum wäscht er die braunen Schuhe mit Spiritus, mit einfachem<br />
Brennspiritus, beschmiert sie rasch mit guter schwarzer Tinte, darüber schwarze<br />
Schusterfarbe und Schuhcreme, abgebürstet, mit weichem Lappen geglänzt, eine andere<br />
Schachtel, und die Kundschaft ist zur Zufriedenheit bedient. Er weiß, was eine<br />
Godiannaht ist und ein Rahmenschuh, wieviele Paar Schuhe man mit einem Fuß Leder<br />
besohlen kann, wenn man die Sohlen ganz ausschneidet, und wieviel man gewinnt, wenn<br />
man den Hinterteil oder den Absatz falsch anstückelt. Als er zuletzt <strong>im</strong> Ausland war, da<br />
hat er bei Bata eingekauft. Das war sehr lohnend. Die Galoschen kamen auf 1/10 des<br />
Ortspreises. Mit Schiff von Pressburg auf der Donau verfrachtet, verbilligte sich der<br />
Transport bedeutend. Die Zollbehörde in Giurgiu hat weniger Umsatz und ist leichter zu<br />
bestechen als die am normalen Zugsübertrittsort in Grigore Ghica Voda. So kamen ihn<br />
die Galoschen so billig zu stehen, daß er sie en gros abgab und sich garnicht mit dem<br />
Detailhandel weiter abgeben wollte. Man wird, wenn viel und leicht an der Ware zu<br />
verdienen ist, großzügig. Bei dieser Gelegenheit sah er aber in der Tschechoslowakei in<br />
einem kleinen Gebirgsort billige Brillen, gewöhnliche Lesebrillen für ältere Menschen,<br />
Gläser und Metallbügel und solche mit Metallrand, je nach dem Geschmack. Sie waren<br />
ganz besonders billig, ein ganzes Dutzend kam auf ein paar Lei. Man sagte ihm dort, daß<br />
es verschiedene Stärken gäbe, 4 Stärken, das hat mit Dioptrien zu tun. Aber das ist ja<br />
nicht sein Fach. Sehr billig war die Ware und klein, 12 Dutzend sortiert ein kleines<br />
Päckchen, kleiner als ein Paar Galoschen. So kaufte er eine ganze Kiste und nahm sie mit<br />
dem Galoschentransport mit. Er hat einen guten Blick. Man riß sie ihm aus den Händen,<br />
und er hat ganz schön dabei verdient. Es ist klar, daß er denen, die Moritz “die schwarze<br />
Hand” nennt, nicht gefiel. Er war uns gegenüber treu und anständig, nie darauf hinaus,<br />
auf unsere Kosten zu profitieren. Seine Fähigkeiten mußten ausgenutzt werden. Er muß<br />
mit der Kohlengruppe hinauskommen, womöglich als Abteilungsführer. Monate lang<br />
waren wir von zu Hause fort, ohne Nachricht, und da wir legal unser Geld eingewechselt<br />
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hatten, auch ohne Geld. Endlich kam ein Bote, brachte uns ein einziges Zettelchen mit<br />
einem Gruß und der Bitte, einen Namen darauf als Lebenszeichen zu schreiben und 5<br />
Äpfel zu übernehmen. Ich bekam 500 Lei und unterschrieb glücklich. Das Zettelchen<br />
wanderte auf dem gehe<strong>im</strong>en Wege wieder hinaus. Aber, 500 Lei, wie ist das möglich, das<br />
ist doch ein lächerlich kleiner Betrag, auch für einen Versuch zu klein. Wenn schon ein<br />
Versuch, um die Redlichkeit des Überbringers zu überprüfen, dann doch wenigstens<br />
5,000. Wer hat die Größe der Äpfel umgedeutet? Moritz brummt auf die schwarze Hand.<br />
Wir verstehen langsam, warum wir nicht unter uns sind. Die beiden Fremden in unserem<br />
Z<strong>im</strong>mer sind anständig, ehrlich, gute Freunde und Genossen. Aber sie berichten nach<br />
oben, wachen nach unten. Nach einigen Tagen fragt mich der eine gelegentlich, ob ich<br />
nicht etwas Geld brauche und borgt mir von einem Freund 200 Mark, bis ich wieder Geld<br />
bekommen werde. Es muß einer von uns hinaus. Der <strong>Arzt</strong> ist doch eine Person, mit der<br />
man rechnen muß. Es gibt Situationen, wo man ohne ihn nicht auskommen kann. Wir<br />
sprechen in unserem Z<strong>im</strong>mer viel darüber, unsere Z<strong>im</strong>mergenossen hören, berichten, Roll<br />
kommt auf die Liste der Kohlenarbeiter, zwar nicht als Führer, der um Brot und Milch für<br />
die Gruppe gehen kann, aber <strong>im</strong>merhin, er verläßt früh das <strong>Lager</strong>. <strong>Ein</strong>ige Tage geschieht<br />
nichts. Wenn er zurückkommt, erzählt er von Brotteigkuchen mit Kürbisfülle, die er vom<br />
Tor an zu essen begonnen hat, von vielen Litern Milch, die er getrunken hat, von Brot,<br />
Wurst, und sogar von Bier. Manchmal gelingt es ihm, in der Mütze oder unter ein paar<br />
Rüben oder Holzstückchen ein Stück Brot oder Wurst einzuschmuggeln. Das kommt in<br />
unsere gemeinsame Wirtschaft zur Aufbesserung unserer nächsten Mahlzeit. Dahin<br />
wandern auch die gelegentlichen Käufe, in uns abgegebenen Überschüssen der Dentisten,<br />
des Photographen und anderer privilegierter Personen. Manchmal gibt es auch sogar ein<br />
Extrabrot, wenn einer der Offiziere Bauchweh hat, den Doktor kommen läßt und ihn<br />
damit belohnt. Wir hören dem Roll zu, das Wasser fließt uns <strong>im</strong> Munde zusammen,<br />
unsere Bäuche, von der Erbsenbreinahrung gebläht, erscheinen uns kleiner, und wir<br />
versuchen, die offenen Hosenknöpfe zu schließen. So geht es einige Tage, und dann<br />
schafft er Kontakt mit einem Bahnbeamten, der zu unseren Leuten fährt und nur 30%<br />
Vermittlungslohn verlangt. Die restlichen 370% verdient er bei der <strong>Ein</strong>wechslung. Aber<br />
<strong>im</strong>merhin, wir bekommen Nachricht, kurze Nachricht und Geld. Roll riecht in den<br />
Vorübergehenden den Boten und spricht ihn an, ladet den Korporal zu einem Schnaps ins<br />
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Wirtshaus ein und landet den Boten am Nebentisch, gibt dem Schnaps bis zum Rausch<br />
und spricht hastig einige Worte mit dem anderen, verkriecht sich, when eine Patrouille<br />
kommt, versteckt die Briefe unter Steinen oder Wagen bis zur nächsten Gelegenheit,<br />
schwitzt, stottert, spuckt, aber tut das Seinige, besser als es jeder von uns hätte tun<br />
können. Lezi wird auch Außenarbeiter. Er arbeitet in der Kanzlei des Spitals. Das ist<br />
eigentlich verboten, nur Handwerker dürfen wir sein. So geht er als Anstreicher hinaus,<br />
aber dort lenkt er die Aufmerksamkeit auf seine Intelligenz, und die benützen gerne seine<br />
Arbeitskraft. Er ist <strong>im</strong> Spital isoliert, kann niemanden sehen oder sprechen, aber uns ist es<br />
eine gewisse Beruhigung, ihn draußen zu wissen, eine Art Kontrolle unserer inneren<br />
Beschützer. Versucht er am Wege, Kontakt mit vermutlichen Boten zu schaffen, so wird<br />
er verhindert. Er wird als Spion, als Diener der Behörden verleumdet, wohl die<br />
schl<strong>im</strong>mste Beschuldigung, die einem <strong>Lager</strong>menschen vorgeworfen werden kann. Es<br />
kostet Mühe und <strong>Ein</strong>satz der ganzen Autorität, um ihn eine Zeit lang in der Liste der<br />
Außenarbeiter zu erhalten. Inzwischen sinkt unser Vertrauen zur “schwarzen Hand”. Der<br />
epileptische, leicht verblödete Deutsch, der merkwürdigerweise <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>me der Großen<br />
wohnt, hat uns Geld und einen Sammelbrief gebracht. Wir haben die Quittung jeder auf<br />
die erhaltene Summe unterschrieben, einen Antwortbrief auf einem in Kästchen geteilten<br />
Bogen verfaßt und beigelegt. Jeder schreibt sein Kästchen auf beiden Seiten voll und<br />
fährt nicht in das benachbarte. Dann können die zu Hause den Bogen zerschneiden und<br />
jeder sein Stückchen mit sich nehmen. Essenfeld beginnt regelmäßig mit “Meine Teuere,<br />
ich zittere um Deine Gesundheit”. Das erregt ihn so, daß die Buchstaben <strong>im</strong>mer größer<br />
werden und er sich in das Nachbarkästchen verliert. Deutliches Falten des Bogens schützt<br />
nicht davor, und auch nicht dicke Bleistiftstriche. “Essenfeld, du mußt dich an deinen<br />
Platz halten, du bringst uns den ganzen Brief in Unordnung.” “Was habe ich schon getan,<br />
soll der andere bei mir schreiben, das kann jedem passieren.” Auch mit Bruno gibt es<br />
einen scharfen Kampf. Wir vermeiden in einem solchen Brief jeden Namen und jede<br />
Adresse, wechseln sogar von Zeit zu Zeit unsere Pseudonyme, wie Turri, Schmuel,<br />
Muniu, damit, wenn der Brief in schlechte Hände fällt, uns und unseren Familien kein<br />
Zusammenhang nachgewiesen werden kann. Jeder Versuch, sich mit Verschickten in<br />
Verbindung zu setzen, wird noch <strong>im</strong>mer mit Gefängnis und nachträglicher Verschickung<br />
bestraft, und unser Trost ist es doch, daß wir allein hier sind. Bruno will <strong>im</strong>mer als letzter<br />
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schreiben, zieht sich auf seinen <strong>im</strong> Obergeschoß des Nachbarz<strong>im</strong>mers gelegenen Platz<br />
zurück und schreibt ganz klein und berechnend: wem man Geld für ihn übergeben soll,<br />
welche Gruppe bessere Verbindung mit dem <strong>Lager</strong> besitzt, läßt den und jenen grüßen und<br />
ordnet an, welche Christen als Boten zu ihm gesendet werden sollen. Er übergibt uns den<br />
Brief zusammengefaltet mit der Versicherung, er sei in bester Ordnung. Moritz ist<br />
vorsichtig, sieht ihn wieder durch. Fast alle schreiben doch das Gleiche, daß es uns nicht<br />
gar so schlecht geht, daß wir die Unsrigen in Sicherheit wissen wollen und die lieben<br />
Worte, die einem die Not, die Traurigkeit und die Sehnsucht eingibt. Die kleinen<br />
Briefchen sind auch der Spiegel der Intelligenz. Essenfeld zittert wie üblich um die<br />
Gesundheit, Frau Ada ordnet an, was mit ihren zurückgelassenen Sachen zu geschehen<br />
hat, Turri küßt tausendmal seine Trude, Moritz will seinen Sohn in Ordnung wissen,<br />
Polia und Ray betonen in Worten überstark, was ihnen an Gefühl abgeht, und<br />
Schneeberg, der Koch, berichtet, daß er Geld braucht, daß er seine Uhr schon<br />
aufgegessen hat. “Und die Zeiger habe ich ausgekackt,” setzt Moritz brummig dazu. Jetzt<br />
kommt Bruno mit Namen, Adressen und noch dazu ein paar Worte <strong>im</strong> leeren Kästchen<br />
der alten Dame, die niemandem zu schreiben hat. Sie will zwar den Richter, der ihr alle<br />
Sachen weggenommen hat, auffordern, ihr wenigstens etwas Geld zu schicken, aber sie<br />
versteht, daß es auf diesem Wege nicht geht. <strong>Ein</strong> dicker, blauer Tintenstift, alles<br />
Kompromittierende wird dick überstrichen, so dick, daß auch die harmlosen Worte auf<br />
der Gegenseite <strong>im</strong> Blau ertrinken. “Nein, Fisch, du darfst disziplinlos sein, aber nur für<br />
dich, nicht auf Kosten unserer lieben Menschen.” Brief und Quittung sind fertig<br />
geworden, unauffällig, damit die <strong>Lager</strong>spione unter uns es nicht bemerken. Sie haben<br />
sicher eine Bewegung wargenommen, waren aber zu feige, näher in die Sache<br />
einzudringen. Leider mußte der Brief auch durch die Z<strong>im</strong>mer der Mädchen, wo Bubi, der<br />
Chauffeur, bei seiner Liebsten, der Frau Stein, ein- und ausgeht. Aber auch ein Spion hat<br />
seine schwachen Seiten, und vielleicht zeigt er gerade uns nicht an. Der Brief ist<br />
übergeben worden, einer der beiden nicht zu uns gehörigen Z<strong>im</strong>mergenossen hat ihn<br />
gefälligerweise übernommen und weitergegeben. Es kommt der Abend, wir werden<br />
eingesperrt und sitzen auf unseren Betten. Die Fenster sind verhängt, am Boden flackert<br />
eine Funzel, eine Konservenbüchse mit Petroleum gefüllt und einem Wollfaden als<br />
Docht. Wenn eine Lücke <strong>im</strong> Vorhang entsteht, und die Wachen den Lichtschein<br />
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emerken, dann schreien sie ein grobes Wort zu uns hinein oder werfen uns einen Stein<br />
ins Fenster. Wir sind vorsichtig, hängen meist 2 Decken übereinander und löschen aus,<br />
bevor wir sie zur Schlafenszeit abnehmen. Die Burschen lesen, sprechen leise, schlafen.<br />
Be<strong>im</strong> Lichte sitzt Bercu und löst mathematische Probleme. Er ist vor kurzem aus<br />
einem großen Saal zu uns gezogen, hat zwei Bretter bekommen, die er abends <strong>im</strong><br />
Mittelgang zwischen unseren Pritschen auflegt. Er ist mit den beiden anderen viel durch<br />
Leid und Freud gegangen, hat Jahre <strong>im</strong> Gefängnis verbracht, hat sich dort eine tiefe<br />
Bildung und Lebensphilosophie geholt und wurde auch uns bald lieb. Mir kommt ein<br />
Gedanke, ich will dem Briefe noch ewas hinzufügen. Ich bin gar nicht so sicher was, aber<br />
mir, mit meiner unleserlichen Schrift überließ man gewöhnlich den sogemannten<br />
allgemeinen Teil des Briefes, der alle betraf, gemeinsame Wünsche ausdrückte und<br />
Empfang einer best<strong>im</strong>mten Sendung bestätigte, damit nicht jeder in seinen paar Zeilen<br />
dasselbe schreiben müsse. Ich habe das unklare Gefühl, ich müsse den Brief unbedingt<br />
noch einmal sehen. Ich frage einen Z<strong>im</strong>mergenossen. Sie sagen mir, ich müsse nach<br />
oben, Deutsch hat den Brief übernommen und schon in seine Kleider eingenäht. Deutsch<br />
schläft schon. Ich wecke ihn, bitte ihn, mir für einen Augenblick den Brief zu zeigen. Er<br />
ist schlaftrunken, schleppt den Mantel heraus, auf dem er schläft, einen alten, jetzt schon<br />
schäbigen, zweireihigen schwarzen Mantel mit Samtkragen, trennt an einer Stelle hinter<br />
den Knöpfen das schwarze Unterfutter ab und gibt mir ein mit Zwirn gebundenes<br />
Päckchen. Ich sehe unseren Gruppenbrief, klein, zusammengefaltet, und die Quittung,<br />
doch was ist das, auf anderem Papier und, jetzt schon neugierig, mit anderen Zahlen? Ich<br />
habe nach Abzug 3,400 bekommen, hier sind 6,000, Muniu hat 3,000 bekommen, hier<br />
sind 8,000. Der Deutsch ist verschlafen, merkt nichts. Ich wechsle mit ihm ein paar<br />
belanglose Worte und präge mir inzwischen genau die Zahlen der Quittung ein. Dann<br />
sehe ich die Unterschriften. Sie sind von unserem Original aus mit Bleistift<br />
nachgezeichnet oder kopiert. Das Ganze ist auf der Rückseite eines Zugfahrplans<br />
geschrieben, begreiflich, wenn der Überbringer ein Eisenbahmbeamter war. Also, man<br />
hat uns falsche Beträge, kleinere Beträge, ausgezahlt. Man hat unsere Unterschriften auf<br />
einer Kopie abverlangt und auf die richtige Quittung übertragen. <strong>Ein</strong>e komplizierte<br />
Arbeit, fachmännische Arbeit, weit über dem Rahmen der geistigen Potenz des<br />
epileptischen Deutsch aus Kolosvar. Von dem Rest ließ man uns die freiwilligen 10%<br />
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zahlen. Ich stelle alles eingepackt zurück und gehe auf unser Z<strong>im</strong>mer, nehme ein Buch,<br />
tue so, als ob ich lesen würde und schweige. Am besten ist es, nicht gleich loszuziehen.<br />
<strong>Ein</strong>ige sind noch unterwegs, in anderen Z<strong>im</strong>mern des Hauses zu Besuch. Die <strong>im</strong><br />
Nachbarraum, vier von uns. lauschen eben den Worten ihres Z<strong>im</strong>merchefs, der auch der<br />
unsrige ist, weil wir uns zu keinem aufschwingen können. Um schlechter zu hören, haben<br />
wir die Verbindungstür geschlossen. Wir hören, wenn wir wollen, durch. Aurel<br />
Rottenberg, ein verläßlicher Mann der Partei, ehemaliger Redakteur, guter Volksredner<br />
und scharf in der Debatte, berichtet über die sehr wichtigen und bedeutenden Beschlüsse<br />
der Konferenz der Z<strong>im</strong>merchefs von heute nachmittag. In der heutigen Sitzung der Chefs<br />
der Z<strong>im</strong>mer wurde beschlossen, hören wir ihn sagen, erstens: exemplarische Reinlichkeit.<br />
Er sei dafür verantwortlich, daß <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer und auf den Pritschen, <strong>im</strong> Vorhaus und auf<br />
den Stiegen täglich Ordnung gemacht werde. Zum Essenholen müssen wir mit reinem<br />
Kübel kommen. Dann wurde beschlossen, pro Z<strong>im</strong>mer so und soviele Mann für die<br />
Reinigung der Latrinen zu stellen. Semmel protestiert. Die Brüder Schloßberg stellen<br />
eine Frage, es wird lebhaft. Semmel war Journalist in seiner He<strong>im</strong>atstadt. Man sagt, er hat<br />
mehr von dem gelebt, das er nicht geschrieben hat, sondern nur zu schreiben gedroht hat.<br />
Aber er will nicht seine 20 Kübel schöpfen. Er wird zum dauernden Überwacher der<br />
Latrinenreinigung best<strong>im</strong>mt und damit versöhnt. Von nun an paßt er genau darauf auf,<br />
daß keiner der dazu Best<strong>im</strong>mten sich um seine 20 Kübel drückt. Meine Gedanken drehen<br />
sich um die Quittung, die gute Fälschung, den komplizierten Apparat, wo man uns doch<br />
einfach das Ganze hätte unterschlagen können. Ja, aber da wäre der Mann nicht<br />
zurückgefahren, und es wäre kein Geld nachgekommen. Dieser Moritz mit seinem<br />
Bauernverstand hat doch keinen schlechten Instinkt. Gegen 9 Uhr sind alle beisammen,<br />
liegen in ihrer richtigen Reihenfolge, <strong>im</strong> Nebenz<strong>im</strong>mer ist es ruhig geworden. Ich<br />
berichte: “Kinder, ich habe euch was zu sagen, schlaft noch nicht ein. Ich war unseren<br />
Brief noch einmal ansehen, um etwas Allgemeines hinzuzufügen und habe gesehen, daß<br />
wir zusammen nicht ?, sondern 54,000 Lei bekommen haben, und daß unsere Quittung<br />
durch eine andere mit gefälschten Unterschriften ersetzt ist.” Sie sind zuerst still,<br />
Aufleger hustet und sucht dann nach einer die Tatsachen vernebelnden Erklärung. Er will<br />
schon seit langer Zeit den Parteileuten schön tun, sich treu und nützlich erweisen und<br />
leidet darunter, daß sie es nicht anerkennen. Moritz sagt: “Blödsinn, quatsch nicht<br />
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Unsinn, es ist ein Jammer, daß, wenn man schon etwas bekommt, man einem die Hälfte<br />
wegstiehlt.” Gustl enthält sich seiner Meinung und Turri, Essenfeld haben keine.<br />
Inzwischen ist einer der 3, der kluge Bercu, verschwunden. Für einen Weg zur Latrine<br />
bleibt er lange fort. Dann ruft man Landau, den <strong>Arzt</strong>, vielleicht ist jemand krank<br />
geworden. Spät kommen sie zurück und beruhigen uns. Morgen wird sich alles aufklären.<br />
Am nächsten Morgen übergibt mir der eine der ?, der eine Sektion führt, die Differenz.<br />
“Es gibt eben auch unter unseren verläßlichen Menschen Versager.” Also der idiotische<br />
Deutsch is Sündenbock, dazu wohnt er <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer der Großen und dazu dient er.<br />
Merkwürdig, er bleibt dort wohnen und dient weiter.<br />
Es ist Wasser auf Moritzs Mühle. “Wir müssen jemanden von uns ständig draußen<br />
haben, sonst werden wir verhungern. Wir verhungern nicht. Es ist eine ausgleichende<br />
Instanz vorhanden, die hier n<strong>im</strong>mt und dort gibt. Nenne sie schwarze Hand, Exekutiv-<br />
Zelle, nenne sie, wie du willst. Du wirst nicht so leicht erfahren, wer es ist, denn auch die<br />
Großen <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer oben sind nur Ausführende.” Die Ordnung zeigt sich überall.<br />
Ernährung, Behausung, äußerer <strong>Lager</strong>dienst, innerer <strong>Lager</strong>dienst sind geordnet. Der<br />
Kontakt mit der Außenwelt für Sachen, Geld und Nachrichten ist geordnet und wird<br />
kontrolliert und divergiert. Die Behörden werden systematisch, vom kleinen Gendarm bis<br />
zum höchsten Funktionär, bestochen. Jeder nach seiner Leistung. Außenseiter werden<br />
nicht geduldet.<br />
In der ersten Zeit konnte noch Bubi mit Major Murgescu ein Geschäft machen. Sie<br />
fuhren mit dem Auto nach Botoschani, Geld für die dortigen und für die Jassyer holen.<br />
Die Bestellungen lauten auf eine Million, 30%, d.h. 300,000 für die Vermittlung. Bubi<br />
fuhr als Chauffeur mit und und sollte dort die Echtheit der Briefe, des Majors, kurz die<br />
Reinheit der ganzen Sache legit<strong>im</strong>ieren. Doch Bubi scheint in He<strong>im</strong>atstadt und<br />
Umgebung nicht den guten Ruf zu genießen, der dazu notwendig ist. Obwohl alle<br />
Familien nach Nachrichten hungerten und auf eine Gelegenheit warteten, um Hilfe zu<br />
schicken, kamen nur ca. 400,000 Lei zusammen. Murgescu zog seine 300,000 ab, und um<br />
den Rest war ein solcher Kampf mit gegenseitigen Anschuldigungen, Zwist zwischen den<br />
Städten und unter den Menschen einer Stadt, daß das Ganze be<strong>im</strong> ehrlichen Ilie<br />
Raduceanu <strong>im</strong> Depot blieb und dazu verwendet wurde, in höchste Not Geratenen dieser<br />
Städte zu helfen. Auf den einzelnen wäre ja auch so fast nichts gekommen. Bubi rettete<br />
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die Situation durch ein neues Gerücht. In einer Zeitung hatte er eine Notiz selbst gelesen,<br />
daß nach Transnistrien eine Kommission kommen werde, um zu untersuchen, wer zu<br />
Recht und zu Unrecht in den <strong>Lager</strong>n zurückgehalten sei. Diese Kommission, oder das<br />
Gerücht um diese Kommission, starb nicht mehr aus. Es kam wieder über den Chauffeur<br />
des Majors, den Bürgermeister des Nachbardorfes, <strong>im</strong> Hotel wurden schon Z<strong>im</strong>mer<br />
bestellt. Unter allen Latrinengerüchten, die be<strong>im</strong> Morgengang eingeholt wurden, war<br />
dieses das erfrischendste und daher auch konstanteste. Solche <strong>Ein</strong>zelgeschäfte konnte es<br />
später nicht mehr geben.<br />
Auch die Versorgungsfrage mit Lebensmitteln war geordnet. Grundnahrung<br />
bildeten die Erbsen, doch wer Geld hatte, konnte Lebensmittel kaufen. Im <strong>Ein</strong>verständnis<br />
mit der Gendarmerie — ein Unteroffizier bekam 25% des gesamten Umsatzes und teilte<br />
es mit seinen Vorgesetzten — wurde eine Kantine geöffnet. <strong>Ein</strong> kleines Häuschen links<br />
<strong>im</strong> Hof war ihr Sitz. An Markttagen wurde eingekauft. Die <strong>Ein</strong>käufer waren ganz<br />
best<strong>im</strong>mte Menschen, harte, verläßliche Typen. In einem Sack Kartoffeln konnte leicht<br />
ein Geldpaket oder ein Brief verschwinden. Die Boten wußten davon und kamen an<br />
Markttagen zu den Verkaufsplätzen. Es war kein ungestörter <strong>Ein</strong>kauf. Jeder kleinste<br />
Offizier wollte seinen Teil, und die Tragfähigkeit eines <strong>Lager</strong>s hat seine Grenzen.Der<br />
Diensthabende verbot, weiter hereinzutragen, der <strong>Lager</strong>kommandant erlaubte nicht<br />
hinauszugehen. Es gab mehr Hindernisse als Möglichkeiten. Aber wenn etwas<br />
hereinkam, so wurde nicht einfach verkauft. Die Hundertschaften bekamen ihren Teil, die<br />
Zehnerschaften den entsprechenden, und so kam es bis zum <strong>Ein</strong>zelnen, je 2 Kartoffeln<br />
oder auf 5 ein Glas Milch. Natürlich gab es auch Versuche, auf eigene Faust etwas Essen<br />
zu ergattern. En Offizier gab einer Frau das Recht zum <strong>Ein</strong>kauf, der Tierdoktor war<br />
draußen bei einem kranken Pferd, und hat am Rückweg gekauft, Bubi hat seine<br />
Verbindungen. Im Innern des <strong>Lager</strong>s stand eine Postenkette verläßlicher Insassen,<br />
Rottenberg und ähnliche Kommandanten. Rücksichtslos wurde alles konfisziert und in<br />
die Kantine geschafft.<br />
In allem war ein System. Ohne Ankündigungen, ohne schriftliche Wandanschläge.<br />
An jeden wichtigen Platz trat der richtige Mann, der verläßliche oder der nützliche. Alles<br />
wurde irgendwie beschäftigt, Außenarbeit, <strong>Lager</strong>dienst, Werkstätten, Restaurant,<br />
Holzverteilung, Parasitenbekämpfung und wenn schon gar nichts, dann Kunstarbeiten.<br />
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Noten schreiben, Lieder einstudieren, nur nicht müßig herumsitzen. Wie wichtig das ist,<br />
weiß wohl keiner, der nicht einmal einer hilflosen und hoffnungslosen Masse angehört<br />
hat. Gib jedem das Bewußtsein, daß er etwas tut, sogar etwas Nützliches tut, spende<br />
seinem Tun Anerkennung, und die Moral festigt sich und steigt, Dieses psychologische<br />
Faktum kennen Führer und Demagogen. Seine planvolle Ausnützung <strong>im</strong> Sinne der<br />
Betäubung einer ganzen, großen Bevölkerung erlebten und erleben wir in allen<br />
Diktaturstaaten. Schwere und schlecht bezahlte Arbeit verbrämt durch Blechplättchen<br />
und Titel, Versammlungen nach der Arbeit, Vorträge und Lektionen von bis zum<br />
Überdruß gehörten Themen, Ausfüllung der Freizeit durch Übungen, Führungen,<br />
Vergnügungen bis zum Äußersten! Nur nicht denken! Nur nicht denken! Hier gab es zu<br />
wenig Arbeit, praktisch gar keine, hier galt es, dem Leben einen Inhalt zu geben, dem<br />
<strong>Ein</strong>zelnen einen kleinen Halt, eine Cäsur <strong>im</strong> Ablauf der Tage. Denken ja, doch nicht<br />
verzweifeln. Es gelang. Semmel, der nicht das Klosett reinigen wollte, wurde ein<br />
ausgezeichneter Klosettaufseher, Segall, der halbverrückte Apothekergehilfe, der<br />
stundenlang gegen alles reden konnte, ging Kräuter suchen in den Wald, je einem <strong>Arzt</strong><br />
obliegt die Läusejagd in einer Hundertschaft und dazu bekommt er noch Gehilfen, und<br />
Farkany, der seinen Laden mit medizinischen Apparaten in Arad verlassen mußte,<br />
schrieb aus dem Kopf die Noten zum Lied zur Freude, übte es mehrst<strong>im</strong>mig mit 20<br />
Mädchen ein und beschäftigte so auch diese.<br />
Frauen bekamen die Küche, die Wäschereparatur und auch die Dichtung und den<br />
Gesang. <strong>Ein</strong> Damenstrumpf gab aufgetrennt einen ganzen Knäuel von Zwirn, und ob die<br />
Flecke in der Unterwäsche mit schwarzem oder rotem Zwirn eingesetzt waren, das störte<br />
doch niemanden. Vapniarka war kein leerer Name. Die Erde hatte Kalk, Chlorkalk in<br />
ihren <strong>Ein</strong>geweiden. Das Wasser war wohl chlorhaltig und zerfraß die Wäsche<br />
unglaublich rasch. Doch vielleicht war der Grund der, daß wir so wenig mit hatten.<br />
Neue Lieder schossen auf, traurige mit ermutigendem Unterton: “In Vapniarka, in<br />
der Ferne, ist das Leben uns schwer, unser Denken flüchtet weithin, an unsere Lieben<br />
denken wir.” Die Melodien wurden frei entlehnt, ein großer Teil hatte Tradition vom<br />
jahrelangen Aufenthalt in <strong>Lager</strong>n und Gefängnissen. Sie kannten die Lieder, mit denen<br />
sie brutale Gefängniswärter bis zur Verzweiflung gequält hatten, mit denen sie die<br />
Schreie der Geprügelten zu übertönen pflegten und die sie sangen, um sich Mut und das<br />
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Gefühl des Nichtalleinseins zu übermitteln. <strong>Lager</strong>lieder haben ihre Geschichte.<br />
Gesammelt würden sie an Wert verlieren, jedes muß für sich <strong>im</strong> Milieu verstanden<br />
werden, die, die ins Moor ziehen oder Hei-ruck, ruck <strong>im</strong> Refrain der Erbauer des Jiu-<br />
Tunnels. Unsere Lieder sangen von Stacheldraht, Rucksäcken, He<strong>im</strong>weh und vor allem<br />
von Rückkehr. Die Alten, deren Energie nicht mehr überfloß, beschäftigten sich allein.<br />
Wer beten will, soll beten, Karten spielen, nur nicht müßig herumsitzen, nicht<br />
debattieren, möglichst wenig Gerüchte erzeugen und breittreten, nicht zwischen<br />
Hoffnung und Verzweiflung hin- und herschwanken und Unsinn begehen, eine Mittellage<br />
erzeugen, bei der einem jeden eine Spur Menschenwürde und Hoffnung erhalten bleibt.<br />
Es sollen der Bankier aus Temesvar und der Polizeikonfident aus Galatz nicht erzogen<br />
werden, aber sie müssen in ein System eingereiht werden, das der Erhaltung, dem<br />
Überleben aller dient, denn wenn einer demoralisiert wird, demoralisiert er andere mit.<br />
In diesem Geiste entwickelte sich ein Leben <strong>im</strong> <strong>Lager</strong>. Es entwickelte sich rasch, so<br />
rasch, daß man an eine lenkende Hand denken mußte. Der Tag bekam seine <strong>Ein</strong>teilung.<br />
Früh weckten die Sirenen. Die Kübel und Kalkfässer <strong>im</strong> Vorraum waren übergelaufen,<br />
Bretter verhinderten das <strong>Ein</strong>treten. Die ganze Nacht gab es eine Wanderung. Die vom<br />
ersten Stock mußten die Stiegen hinunter. Zwe<strong>im</strong>al stürzten Schlaftrunkene ab und<br />
verletzten sich schwer. Für eine Reparatur des Stiegengeländers reichten die Holzvorräte<br />
nicht aus. Am Morgen traten die an, die in der Nacht die Fässer für ihre Zwecke benutzt<br />
hatten. Der Diensthabende hatte sie notiert. Nicht <strong>im</strong>mer war die Situation klar. Da saß<br />
einer und saß mit rotem Gesicht, und es gelang ihm nicht. Der Diensthabende schrieb ihn<br />
auf, doch er protestierte heftig, er versuche nur, aber es gehe nicht. Schwer<br />
nachzuweisen, ob er dem reichlichen Inhalt etwas hinzugefügt hat oder nicht. <strong>Ein</strong><br />
Solomon würde versagen. Und dann ging es durch den Raum: “Kinder, rasch zu den<br />
Fässern, der Aufseher ist eingeschlafen.” Die Freuden des Lebens sind sehr verschieden<br />
und wechseln je nach den Umständen. Den Ärzten, den Alten und einigen Honoratioren<br />
war dieser Dienst erlassen, sie konnten frei und unbeschränkt benützen. So traten dann<br />
die, die das Unglück gehabt hatten, in der Nacht Bauchweh zu bekommen, der Reihe<br />
nach an, schleppten die Bretter aus dem Teich, luden je ein Faß darauf und schritten zur<br />
Latrine. Nur keinen Schritt daneben, vorsichtig, feierlich, sonst geschieht das, was leider<br />
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oft geschah, daß das hohe Kalkfaß umschlug und den Träger übergoß. Nach Abtransport<br />
der Fässer kam die Reinigung des Bodens von Schmutz und Flüssigkeit.<br />
Inzwischen erwachen auch wir, die Vornehmen, in unserem kleinen Z<strong>im</strong>mer. Harry<br />
läßt als erster von sich hören, gähnt laut und nachhaltend, läßt dann geräuschvoll Flatus<br />
entfahren und sagt: “Pardon.” Die Glieder sind steif vor Kälte und vom Druck der harten<br />
Unterlage, die Schaffellmütze am Kopf, den Schal umgebunden, dicke Wollstrümpfe an<br />
den Füßen und dazwischen ein zu kurzer Damenpyjama, den Ilie von seiner zarten Frau<br />
fälschlich mitnahm und, da er dick ist, nicht benützen konnte. Wir tauschen den Pyjama<br />
gegen ein Hemd. Sich strecken und recken ist schwer, denn die Nachbarn schlafen wohl<br />
noch. Die Decke deckt uns nur in best<strong>im</strong>mter, gekrümmter Haltung. Die<br />
zusammengeknöpften Mäntel, darunter Auflegers Familienerbstück, drücken, aber<br />
wärmen nicht gleichmäßig. Zwischen Kopfbrett und Pritsche bläst es stark durch. Die<br />
Körperwärme des Nachbarn tut wohl. Gut, daß wir normal veranlagt sind. Moritz läßt<br />
sich schon vernehmen: “Kleiner Dreckkerl, dreh dich nicht so viel herum. Du drehst dich<br />
wie ein Wind in der Laterne. Kriech in meine Bauchfalte und halt dich ruhig. Du machst<br />
mir ja einen solchen Wind, daß ich wieder den Ischias in meinem Bein spüre.” Der Alte<br />
schläft ein paar Minuten, dann läßt er wieder seine holprige St<strong>im</strong>me vernehmen: “Ich<br />
bitte dich, Kleiner, schlaf nicht. Du hast, wie die Armenier sagen, eine zu kurze Haut.<br />
Wenn du die Augen zumachst, da fehlt dir unten die Haut, du machst die Klappe auf und<br />
stinkst, daß man nicht neben dir liegen kann.” Aufleger schluckt zwe<strong>im</strong>al, klappt die<br />
Froschaugen auf und zu und schlummert weiter. Vom Nebenz<strong>im</strong>mer kommt Lärm.<br />
Semmel zankt mit Segall. Es beginnt mit lauten Worten, Streit um Wasser, übergeht in<br />
Politik und endet in wüsten, persönlichen Beleidigungen, Verrückter, Verräter, Bestie<br />
und Faschist, Hurensohn und zuletzt gar Siguranza-Agent. Dann hört man Gegenstände<br />
auffallen, beschwichtigende St<strong>im</strong>men, und es wird ruhiger. Roll erscheint mit tropfender<br />
Hängenase, um sich seinen Mantel zu holen. Der hängt zur Vorsicht bei uns. Drüben ist<br />
der Tascheninhalt nicht so sicher. Als er einmal verschlafen den falschen Mantel nahm<br />
und mächtig verschmutzte, entstand ein Problem. Wie konnte der Mantel allein zum<br />
Latrinenfaß gehen? Er war nicht dazu zu bewegen, die Verwechslung einzugestehen. Nun<br />
ist es schon zu bunt. Sogar Karmelin, das Pferd, schnarcht nicht mehr, und Essenfeld<br />
setzt die Brillengläser auf und denkt. Wie schlecht auch das Schlaflager ist, der Übergang<br />
52
von einem Zustand in den anderen wird durch Trägheit erschwert. Das einfache<br />
physikalische Grundgesetz hat allgemeine Gültigkeit. Wir erheben uns. Die Fässer sind<br />
schon fort. Rasch einige Tropfen Wasser aus unserer Patentwasserleitung auf Hände und<br />
Gesicht. Die Wäsche wird nach Läusen abgesucht. Früh und abends erfolgt eine<br />
sorgfältige Entlausung durch Absuchung in Falten und Rändern. Kleider und Mantel an<br />
und den ersten Weg zu Feldlatrine.<br />
Von allen Häusern gehen Menschen diesen Weg, wie Ameisenstraßen, drei Pfeile<br />
auf ein Ziel, hin und zurück, hin und zurück. Manche haben es sehr eilig, manche tänzeln,<br />
und manche gehen sehr vorsichtig. Die Zurückkommenden haben einen ruhigen,<br />
zufriedenen Gesichtsausdruck. In der Latrine herrscht lebhaftes Getriebe. Alle Löcher<br />
sind besetzt, und neben jedem steht schon der nächste Anwärter. Die ursprüngliche<br />
<strong>Ein</strong>friedung aus Schilfstroh is durch Benutzung <strong>im</strong>mer niedriger geworden und besteht<br />
kaum noch. Es hat doch nicht jeder Papierfetzen oder Bücher von zu Hause. Dem<br />
Rabbiner Willner haben seine Nachbarn schon die halbe Bibel gestohlen, und er hat sie<br />
doch so sorgfältig aufbewahrt. Denn das Papier ist ganz dünn und er verwendet es,<br />
begonnen bei den unwichtigen Teilen, also mit Berechnung, als Zigarettenpapier. Tabak<br />
bekommt er bei den Besitzenden, wenn er sie abends besucht und ihnen schöne,<br />
revolutionäre Lieder singt: das Lied vom Schmied, dem der Schweiß von der Stirne<br />
tropft. der es aber nicht merkt, weil er sich eine Welt mit besseren Menschen <strong>im</strong> Geiste<br />
ausmalt und andere. Die Soldaten stehen lachend auf der anderen Seite des<br />
Stacheldrahtes und machen ihre Scherze. Die von den nächsten beiden Wächterhäuschen<br />
stehen beisammen, was eigentlich gegen die Verordnung ist. Die Genießer kennen das<br />
Gefühl der Wartenden, und wenn diese darankommen, vergessen sie es rasch. Aber 40<br />
Plätze sind eine hohe Zahl. Wer etwas Zurückhaltung bewahren kann, kommt zur Zeit<br />
daran. Nachher geht es zurück ins Z<strong>im</strong>mer.<br />
Moritz hat bereits alle Sachen herausgeschafft. “Heute, Kinder, ist ein schöner Tag,<br />
und morgen kann es wieder regnen. Wenn’s nach euch ginge, könnte man <strong>im</strong> Dreck<br />
ersticken.” Da gibt es keine Widerrede, alle Decken werden ausgebeutelt, die Unterlagen<br />
gerade gelegt, die Nachtsachen in den Rucksack an der Wand gesteckt und die<br />
Zahnbürste und Seife in eine der anderen Taschen. Das Z<strong>im</strong>mer sieht ordentlich aus. Daß<br />
die Wände wieder schwarz von Fliegen sind, läßt sich nicht verhindern. Es ist eben jetzt<br />
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<strong>im</strong> Spätherbst ihre Zeit, und die Armee hat ihre Ställe in der Nähe. Zwei Stricke hängen<br />
in der Längsrichtung und darauf die nassen Handtücher, die Strümpfe und vor allem die<br />
Schuhe. Schuhe sind ein kostbares Gut, ihre Pflege eine Kunst. Der Alte hat sie uns<br />
gelehrt. Im Schnee mag ein dicker Sack, oben mit Strick zusammengebunden, seinen<br />
Zweck erfüllen, aber in Kot und Regen versagt er ganz, tränkt sich voll und wird<br />
zentnerschwer. Die Schuhe müssen <strong>im</strong>mer rechtzeitig repariert werden. Die Sohle wird<br />
durch Lederflecke verstärkt. Am besten ist dazu ein Riemen, ein richtiger alter,<br />
schweißiger Militärriemen. Moritz kauft mir einen, und in unserer Schusterei schlägt man<br />
mir die Streifen auf. Es bleibt noch ein Stück für die Schuhe der Polia, die der Alte<br />
betreut, putzt und schmiert. Leider geben sie mir Eisennägel statt Holz, das gibt weniger<br />
Arbeit, denn die Holznägel müssen wir uns erst aus Holzstückchen zurechtschneiden.<br />
Doch wenn bei den Eisennägeln die Köpfe abgetreten sind, dann fallen die Flecke ab, und<br />
der Nagel selbst rostet und vergrößert sein Loch <strong>im</strong> Leder. Die Schuhe müssen<br />
regelmäßig gut geschmiert werden. Dazu eignet sich am besten echte Schuhschmiere und<br />
doch, wenn diese nicht da ist, die Schwarte von Speck. “Kinder, es ist wichtiger, die<br />
Schuhe gut zu schmieren, als die Schwarten in die Fisolen zu geben, damit einer sie<br />
herunterschlingt.” Die Schmierung erfolgt am Abend, und dann werden die Schuhe noch<br />
hinaufgehängt, damit sie das Fett einziehen. Kein Schuh steht am Boden, sonst bleibt die<br />
Sohle naß, und <strong>im</strong> Schuh herrscht am nächsten Tag feuchtklebriges Kl<strong>im</strong>a. Nur Essenfeld<br />
hat keine richtigen Schuhe. Er hat natürlich viele, alle abgetretene Halbschuhe mit<br />
Löchern <strong>im</strong> Leder und dünner Sohle. Er verwahrt sie dafür gut, da und dort, wie gesagt.<br />
Aber ausgehen kann er in ihnen schwer. Seine Schuhe bereiten ihm auch viel Sorge.<br />
Also die Schuhe vom Strick heruntergenommen, die Füße in Fetzen eingewickelt<br />
und die Schuhe darübergezogen. Auch die Fußfetzen sind eine Erfahrung des Alten. Er<br />
kennt und schätzt sie noch vom ersten Weltkrieg, von der Karpathenfront und von<br />
Rußland und versichert uns, daß jeder, der einmal Fußfetzen getragen hat, sich nur<br />
schwer wieder zu Strümpfen oder Socken entschließt. Er hat es nur nach jahrelangen<br />
häuslichen Zwisten der Frau zuliebe getan. Er hat recht, der Alte, wie so oft. Fußfetzen<br />
legen sich, einerlei aus welchem Material, dem Fuß besser an als Strümpfe. Sie halten<br />
warm und sind reiner. Jeden Tag kann man andere Ecken nach vorne geben, und <strong>im</strong>mer<br />
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liegen die Zehen und Fersen in sauberen Bezirken der Fetzen. Das geht bei Strümpfen<br />
nicht.<br />
Jetzt sind wir angezogen, das Z<strong>im</strong>mer ist in Ordnung, es meldet sich der Hunger.<br />
Der Alte ergreift die Initiative: “Kinder, ich wart’ und wart’, gibt es etwas zum Essen?”<br />
Aufleger kramt heraus. Das gestrige Brot, zwei Äpfel, drei Zwiebeln, und in der Dose ist<br />
noch ein Rest Marmelade. Diese Marmelade hat er selbst gekocht aus Äpfeln und<br />
Pflaumen, die nicht mehr ganz einwandfrei waren. Er hat sie nur kurz gekocht, mehr zu<br />
Kompottbrei als zu Marmelade. In der Metalldose hat sie bald einen grünlichen Farbstich<br />
angenommen, Grünspan, weil Kupfer in dem Blech ist, hat Moritz gesagt, und ist<br />
versch<strong>im</strong>melt. Wir haben sie natürlich bis zu Ende gegessen und werden auch den Rest,<br />
den Wandbelag, verbrauchen. Und dann gibt es noch etwas aus unserem Freßsack, einen<br />
Fleischrest. Der Dentist hat uns vor einigen Tagen ein Stück geräuchertes<br />
Schweinefleisch überlassen. Er fühlt sich zu uns hingezogen, sozusagen Berufskollege,<br />
und begönnert uns. Wir bekamen von ihm <strong>im</strong> Anfang hie und da einen Zeitungsrest,<br />
später lieferte er ihn <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer oben ab, denn das ist eine wichtige Sache, die über das<br />
Persönliche hinausgeht. Er gibt uns die falschen Gerüchte, er ist Opt<strong>im</strong>ist, die er draußen<br />
aufgeschnappt hat, wieder. Die oben haben bessere Quellen. Und ganz selten schmuggelt<br />
er in seiner Instrumententasche, die be<strong>im</strong> Tor meist nicht untersucht wird, ein Stückchen<br />
Fleisch oder Wurst hinein und übergibt es uns zu angemessenem Mehrpreis. Von so einer<br />
Gabe liegt ein Rest vor. Aufleger beschaut ihn. Er wird knapp zum Belegen eines kleinen<br />
Brötchens reichen. “So etwas kannst nur du einteilen.” Er schiebt es mir zu. Ich habe die<br />
Übung <strong>im</strong> Anfertigen ganz dünner Schnitte von der Histologie her. Die Schnitte werden<br />
papierdünn, dem spitzen Ende zu dicker, aber so, daß alle einen gleichen <strong>Ein</strong>druck<br />
machen, und vor allem so entstehen 6 Teile. Jetzt geht das Essen los. Brot ist nur Brot,<br />
aber Brot mit Zwiebel, jeder eine halbe Zwiebel, das ist eine richtige Mahlzeit. Die<br />
Zutaten verbrämen sie. Und nun geht es zum Tagewerk.<br />
Es ist kalt geworden. Schon <strong>im</strong> November, am 7. November, fielen die ersten<br />
großen Schneeflocken, wie die Schneeballen groß, verwandelten sich anfangs noch am<br />
Boden in eine trübe, kotige Brühe, aber dann kam eine kühle Nacht und <strong>im</strong>mer noch<br />
Schnee, und schließlich blieben die weiten Flächen weiß, und nur unsere täglichen Wege<br />
zeichneten sich in schmutzig schwarzen Streifen ab. Schnee ist gut. Schnee gibt ständig<br />
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Wasser. Man kann sich mit Schnee und Seife ganz gut waschen. Zum Kochen ist es<br />
weniger gut, denn man muß für einen Topf 7-8 volle Schüsseln hineintragen. Das Wasser<br />
wird sehr schmutzig, doch man kann es abstehen lassen, und wenn man genügend Geduld<br />
und Holz hat, kann man mit Schnee kochen. Freilich hat Schneewasser noch einen<br />
Fehler, man muß mehr Salz ins Essen geben, sonst spürt man es heraus. So ist es mit<br />
jedem Ding, gute und schlechte Seiten. Die Mütze ist noch von der Nacht her warm, den<br />
Schal um die Ohren gebunden, den Mantel um, die Hände in den Taschen vergraben,<br />
hinausgegangen. Für die anderen ein vertrautes Bild. Jeder so gut, wie er kann. Manche<br />
haben Pelze, manche nicht einmal einen Mantel und hüllen sich in die Decke. Ich würde<br />
auch viel mehr unter Kälte leiden, wenn Moritz nicht wäre, der gute, alte Kamerad. Jeder<br />
hält doch sein bißchen Hab und Gut krampfhaft zusammen, denkt doch, daß er sich mit<br />
einem Kleidungsstück einmal sein Leben wird erkaufen müssen. Essenfeld hat mit<br />
seinem zweireihigen, blauen, verfetteten Anzug sogar hochfahrende Pläne und spielt,<br />
wenn von Geld die Rede ist, <strong>im</strong>mer darauf an. Aber Moritz gibt her. Er hat 2 Pullover<br />
mit, den großen, blauen, den <strong>im</strong>mer sein Bube getragen hat, mit langen Ärmeln und<br />
Umlegekragen, den gibt er mir. “Kannst ihn tragen, solange du ihn brauchst, aber<br />
nachher, wenn wir nachhause kommen, was Gott gebe, gibst ihn mir zurück, denn ich<br />
will meinem Buben nichts wegnehmen.” Dieser Pullover wärmt die Seele. Moritz selbst<br />
trägt einen kurzen, ärmellosen. “Ich bin nicht so ein Zittriger wie ihr.”<br />
Der Weg von unserem Haus zur Infirmerie ist nicht weit. Dort warten <strong>im</strong><br />
Ambulanzraum, einem kleinen Z<strong>im</strong>mer, ein ganzer Haufen von <strong>Lager</strong>genossen; Furunkel<br />
an den Armen, Karbunkel <strong>im</strong> Nacken, wunde Finger, eitrige Nägel, Schmutz und Eiter,<br />
die alten Gefährten mittelalterlicher Kriege. Darunter ein paar neue Kranke, Durchfälle,<br />
unertragbare Blähungen, und Urindrang. Mit den kleinen Beschwerden, den wunden<br />
Lippen, dem heiseren, ausgetrockneten Kehlkopf, den Bauchschmerzen oder dem<br />
Erkältungsfieber, wird doch niemand zum <strong>Arzt</strong> kommen. Auch die Wartenden erhalten<br />
nicht viel.. Woher das Verbandmaterial nehmen oder gar Medikamente? Das, was uns<br />
das <strong>Lager</strong>kommando allmonatlich auf unseren Erhaltungsbetrag gibt, ist fast nichts. 10<br />
Lei täglich, das ist die ausgesetzte Summe. Darin steckt Essen, Seife, Medikamente,<br />
Petroleum, Holz und überhaupt alles, was zu unserer Erhaltung gehört. Instrumente für<br />
kleine <strong>Ein</strong>griffe haben wir mit, doch keine Anästhesie. Mit den gleichen Instrumenten,<br />
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kurz in Formalinlösung getaucht, wird geschnitten, gereinigt, werden schwammige,<br />
eiterdurchfressene Massen aus dem Nacken entfernt, bis die weißen Sehnen erscheinen.<br />
Die Kranken sind geduldiger als ihr <strong>Arzt</strong>. Die Frau als letzte, die schwarze, schöne<br />
Bukarester Dame, die der protegierende Oberst bald aus dem <strong>Lager</strong> herausholt, wird als<br />
erste nervös, die Männer sind ausdauernder. Von ihr erzählt man auch, daß sie nachts in<br />
ihrem Z<strong>im</strong>mer heult. Am Tage hält sie sich krampfhaft. Die Instrumente wandern von<br />
Wunde zu Wunde, wüst sieht es aus, schmutzig, stinkend, gelb und rot, und viel grau. Es<br />
kommt ein sauberes Läppchen darüber und das Taschentuch. Harry hat von den<br />
Ausgehenden um einen Zweig Lindenholz gebeten, ihn bekommen. Die Burschen, die<br />
be<strong>im</strong> Entlausungskasten arbeiten, haben ihn in ihrem Feuer verkohlt. Dann hat er das<br />
schwarze Holz zerstoßen, und das gibt carbo tiliae, eine Medizinalkohle. Es gibt große<br />
und kleine Stückchen, wenig Staub, sie absorbiert nicht so ganz gut, aber <strong>im</strong>merhin, es<br />
gibt Kohle für solche, die ihre Blähungen nicht mehr aushalten.<br />
In der Ambulanz sind genügend Arbeiter. Ich gehe in meine Infirmerie. Der Saal ist<br />
lang, schrecklich lang, 10 Fenster auf jeder Seite, 4 Säulenreihen in der Mitte und 2 große<br />
Öfen in den Ecken. <strong>Ein</strong>sam verstreut stehen die 12 Pritschen auf der rechten Seite, und<br />
links ist eine Ecke durch einen Bretterzaun ausgeschnitten. Das ist die Frauenabteilung.<br />
Der Bretterzaun reicht nicht bis zur Decke. Das Gefühl eines Raumes ist erhalten. Ob<br />
wohl die Männer auf die Geräusche <strong>im</strong> Frauenteil achten? Die Frauen liegen nicht gerne<br />
in der Infirmerie. Sie wohnen alle in kleinen Z<strong>im</strong>mern von 10 – 20 und bleiben auch<br />
krank in den Z<strong>im</strong>mern. Ihre Pritschen können in den Männerraum genommen werden,<br />
und dort kann etwas anderes liegen, Holz, die Lebensmittel an den Markttagen. Kalt ist es<br />
<strong>im</strong> Raum. Das ganze Holz <strong>im</strong> <strong>Lager</strong>, das legale, das sie uns geben, und alles, was die<br />
Ukrainer zum Verkauf einschmuggeln, würde nicht ausreichen, um auch nur einen dieser<br />
Öfen zu erwärmen. Die Klempner haben versprochen, uns einen Ofen zu bauen, aber das<br />
dauert, denn er muß in die Mitte kommen, und das benötigt viele Meter Röhren. So liegt<br />
der alte Zettel in seiner Ecke in Schafpelze gewickelt, kaum daß man die Nase sieht. Sein<br />
Sohn, der Dr. Zettel, hat eine zweite Pritsche herangeschoben, auf der er schläft. Er pflegt<br />
seinen Vater. Der alte Zettel is schwer krank. Jahre leidet er an Diabetes. Zuhause<br />
erzeugte er Möbelfurniere. In den letzten Jahren überließ er die Leitung der Fabrik<br />
seinem Sohn. Dr. juris und Musikkritiker it gut genug für einen jungen Mann. Jetzt soll er<br />
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arbeiten, be<strong>im</strong> Vater arbeiten. Er selbst lebte seiner Gesundheit, dem Insulin und der<br />
Diät. Im <strong>Lager</strong> gab es vieles nicht, auch das nicht. Er begann zu husten, Grippe,<br />
Lungenentzündung—es dauert zu lange—Tuberkulose. Der Sohn kämpfte gegen das<br />
harte Schicksal. Der Dr. B. ist schuldig, weil er ihn unbedingt aus dem Raum haben will.<br />
So zwingt er ihn, den Vater zu vernachlässigen, und darum geht es ihm so schlecht. Der<br />
Nachbar ist schuldig, der macht nachts Krawall, zankt mit den anderen, und darum kann<br />
der Vater nicht schlafen und wird so müde. Nicht der Nachbar, nicht der <strong>Arzt</strong>, ein ganz<br />
anderer ist schuldig. Die Tuberkelbazillen haben einen guten Nährboden gefunden,<br />
vermehren sich und gedeihen, und der alte Mann schläft schließlich still ein.<br />
Es folgen andere. Sie wären zuhause auch gestorben, wenn auch einige Jahre später.<br />
Der alte Hühnerjude aus Botoschani liegt wochenlang in den Winkeln herum, schleppt<br />
sich an schönen Tagen in den Sonnenschein und lüftet seine zerlumpten Säcke. Aus der<br />
alten Konservenbüchse schlürft er Erbsenbrei und spuckt die Fruchthüllen. Er wird<br />
<strong>im</strong>mer magerer und hinfälliger. Und dann gibt es wieder einen Toten. Er kam ganz<br />
zufällig her. Man nahm Geisel, und einer der Aufgeforderten kaufte ihn als Vertreter.<br />
Und als dann die Verdächtigen genommen wurden, d.h. jeder, der irgend einmal in eine<br />
Beziehung zu den Behörden getreten war, da kam auch er mit, auf der Liste der Geiseln.<br />
Auch der alte Galatzer Hausierer geht ein. Ihn nahm man auch als verdächtig mit.<br />
Als die Deutschen in den Ort kamen, erinnerte er sich, aus dem ersten Weltkrieg eine<br />
Karte von Galatz und Umgebung zu besitzen. Die kann man sicher jetzt wieder brauchen,<br />
<strong>im</strong> Krieg braucht man <strong>im</strong>mer Karten, dachte der altersschwache Greis, suchte sie heraus<br />
und sprach den nächsten Polizisten an. Er fragte ihn nach dem Sitz des deutschen<br />
Ortskommandos, er habe dort Wichtiges zu tun. Wir sind zwar Verbündete, aber wichtige<br />
Mitteilungen an eine fremde Militärbehörde, das ist verdächtig. Der alte Mann kommt auf<br />
die Polizeistation, wird hin und her ausgefragt. Die sehen bald, mit wem sie es zu tun<br />
haben, schicken den Greis nach Hause, aber ein Protokoll bleibt, und so kommt er auf die<br />
Liste der Verdächtigen. Er stirbt so rasch, zu rasch, um noch eine exakte Diagnose zu<br />
stellen, Entkräftung und Verkalkung.<br />
So geht es weiter, 1, 2, 3, 4, 5, bis sieben, so lange, bis es keine alten Menschen<br />
mehr gibt.<br />
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Aber auch andere starben in dieser Zeit. Der erste war noch ein Opfer des<br />
Schmutzes am Wege. Er war jung, kräftig, still und schweigsam. Sie hatten ihn<br />
unvermutet von seiner Arbeitsstelle in der Eisenbahn-Werkstätte in Targoviste<br />
weggenommen. Dort arbeitete er für sie, leitete den Betrieb als verantwortlicher<br />
Ingenieur. Er hat Furunkel wie jeder, am Halse, Eiterungen an den Fingern, doch dann<br />
wächst ihm ein Furunkel in der Nase. Wir kommen <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> an, er kommt in ein kleines<br />
Z<strong>im</strong>mer. Die Z<strong>im</strong>mergenossen sehen, wie die Nase schwillt, seine Freunde merken die<br />
Entstellung der Gesichtszüge. Wie das Fieber hochsteigt, kommt er in die Infirmerie. Es<br />
gelingt, ein paar Sulfa-Tabletten für ihn zusammenzukratzen. Die Burschen aus dem<br />
Spital verschaffen noch welche. “Der Kopf tut mir weh,” klagt er. Die Nase und die<br />
Stirne sind rot und gedunsen. Die Eiterke<strong>im</strong>e haben ihren Weg zu den Hirnhäuten<br />
gefunden und töten ihn. Die erste Leiche wird zu Grabe getragen, das erste Opfer. De<br />
ganze Schmerz der vielen Unglücklichen konzentriert sich in der Klage um diesen Toten.<br />
Die mannhaft zurückgehaltenen Tränen fließen reichlich. Das Kommando gibt Erlaubnis<br />
für 10 Mann hinauszugehen, um das Grab vorzubereiten, und 20 für den Leichenzug. Die<br />
10 gehen unter Bewachung zum Hügel zwischen <strong>Lager</strong> und Straße, zwischen dreifachem<br />
und einfachem Stacheldraht, dem berühmten Gräberhügel. Nach 2 Stunden folgt das<br />
ganze <strong>Lager</strong> dem Brettersarg. Bis zum Tor dürfen sie gehen, alle paar Schritte wechseln<br />
die Träger, jeder will getragen haben. Der Vorbeter aus Arad singt das Totengebet “Gott<br />
voll Erbarmen” . Er singt es wohl so, wie er es hundertemal in seiner He<strong>im</strong>atstadt<br />
gesungen hat, oder singt er es anders, mit innigerem Gefühl? Ich habe es doch auch schon<br />
oft gehört, und nie hat es so in meiner Brust gezuckt, und nie war mir das Schluchzen so<br />
nahe. <strong>Ein</strong>e laute Klage, ein Meer von Tränen, lautes Schluchzen und Weinen. Die<br />
Gendarmen werden ruhig, sogar ihnen ist das Lachen erstorben. Leise zählen sie 1, 2, 3,<br />
4, bis 20 und schließen gegen die Andrängenden das Tor. Lange schauen wir nach, wir<br />
gehen längs des Stacheldrahtes mit bis zu der Stelle hinter der Latrine, die dem Hügel am<br />
nächsten liegt, und dann kehren wir um, jeder zu seinem Platz. <strong>Ein</strong>ige Wochen später<br />
erscheint als erste amtliche Verfügung seine Rückberufung. Sein Amt hat ihn dringend<br />
reklamiert.<br />
Auch der nächste ist jung. Was war eigentlich bei ihm die Todesursache? Wenn<br />
man Untersuchungsmöglichkeiten hätte, müßte man nachforschen. Man müßte<br />
59
Wassermann machen, andere Blutproben, Druckmessungen an den Beingefäßen und<br />
sogar die Darstellung der Gefäße <strong>im</strong> Röntgenbild. So leicht stirbt ja nicht ein junger<br />
Mensch an aufsteigendem Absterben und Fäulnis der Beine. Er ist ein eigenartiger<br />
Mensch, grob, vertiert, unruhig. Über ihn hatte Dr. Zettel so viel zu klagen. Er schreit bei<br />
Nacht. Bauchschmerzen, sagt er, hat er. Gibt man ihm ein Medikament, so findet man es<br />
nachher versteckt unter seinen Kopfunterlagen, oder er hat dafür bei jemandem ein Stück<br />
Brot eingehandelt. Er stiehlt. Verlangt man von ihm, daß er endlich die Infirmerie<br />
verläßt, dann kann er überhaupt nicht gehen. Wenn die anderen aber schlafen oder zu<br />
schlafen scheinen, dann schleicht er sich an die Pritschen und n<strong>im</strong>mt, was er erreichen<br />
kann, Essen oder Sachen. Darüber gibt es keinen Zweifel. Die Sachen werden in seinem<br />
Bett gefunden, zurückgenommen, er holt sie bei nächster Gelegenheit wieder. Er wird<br />
geschlagen, einfach verprügelt, er heult zum Herzzerbrechen, daß man es weithin <strong>im</strong><br />
<strong>Lager</strong> hört. Es hilft nichts, er stiehlt, und manchmal wird er wild und schlägt zurück. Er<br />
ist trotz seiner Krankheit sehr kräftig. Es heißt, daß er einmal in einer Heilanstalt<br />
interniert war, als geistekrank. Er besitzt einen Militärschein, der ihn vom Dienste wegen<br />
Schwachsinn befreit. So einen Schein konnte er sich kaufen. Auch Codreanu, der<br />
mystische Führer der eisernen Garde, hat diesen Paragraphen in seinem Militärbuch<br />
besessen. Was ist mit diesem Mann los? Verstellt er sich, oder ist dieses Gebrechen<br />
echt? Was fängt man mit ihm an? Die anderen Kranken leiden, zum <strong>Ein</strong>sperren oder<br />
Isolieren gibt es keinen Raum und dann, er sieht von Tag zu Tag schlechter aus. Er wird<br />
mager, hohlwangig, und daß er sich zu anderen Betten schleppen kann, beweist noch<br />
nicht, daß er auch normal gehen kann. Er brüllt über Schmerzen, in den Beinen, nicht<br />
mehr <strong>im</strong> Bauch. Die Beine werden schwarz, von den Zehen steigt die dunkle Farbe<br />
aufwärts. Blasen wachsen auf der verfärbten Haut. Er spürt nicht den Nadelstich in die<br />
Fußsohlen, aber winselt, wenn er nicht mehr schreien kann, vor Schmerzen in den<br />
Sohlen. Das untere Drittel der Unterschenkel ist abgestorben, dann die Hälfte. Er ist zähe,<br />
lebt, trinkt, schluckt Erbsen. Bis zum Knie geht die schwarze Farbe, die Füße sind eine<br />
stinkende Masse, die Körperkräfte lassen nach. Er spricht und trinkt nicht mehr, er<br />
winselt und schreit aus der Agonie. Tagelang kämpft der junge Körper gegen die<br />
Vernichtung an. Das Herz, das noch Jahrzehnte hätte schlagen sollen, hämmert weiter,<br />
und die Lungen ziehen die Atemluft rasselnd ein. Dann wird das Hirn müde, die Atmung<br />
60
flacher, das Rasseln lauter und unregelmäßiger, und zuletzt hört das Herz zu schlagen<br />
auf.<br />
Das haben die Pritschen in so kurzer Zeit gesehen. Und viel Elend ist sonst noch<br />
eingetreten und hat etwas weniger elend den Raum verlassen. Da waren 2 mit<br />
Lungenentzündungen, die Rippenfellentzündung, der ich das Exudat abzapfte, als das<br />
Gesicht blau wurde, die vielen schweren Darmkatarrhe, die ich mit Kostentzug heilte,<br />
und nicht zuletzt die Gallenblasenentzündungen, Magengeschwüre und schweren<br />
Dickdarmentzündungen, die unruhig wurden durch unsere schlechte Kost. Sie bekamen<br />
Ausschaltungskost, die so gut wie alles ausschaltete, und Pfefferminztee mit Kamillen<br />
und Millefolia gemischt. Bald nach <strong>Ein</strong>tritt ins <strong>Lager</strong> hatte ich den Major Murgescu<br />
darum ersucht, uns das <strong>Ein</strong>holen von Pflanzen aus dem gegenüberliegenden Waldgebiet<br />
zu gestatten. Er hatte damals das <strong>Lager</strong> zu einer Inspektion betreten, war leutseliger, und<br />
die Augen wirkten irgendwie weniger trübe, als ob er an diesem Tag noch nicht<br />
getrunken hätte. Wir leben ganz ohne Vitamine, erklärte ich ihm, wir werden Skorbut<br />
bekommen und wir (oder er) können es verhindern, wenn uns gestattet wird, grüne<br />
Pflanzen <strong>im</strong> Walde zu sammeln. Er hatte doch schon getrunken. Er bewilligte nicht nur<br />
diese Ausflüge, sondern er sprach auch von einer Statue, auf hohem Steinsockel, die man<br />
mir stellen würde, und ähnlichem Mist.<br />
Am nächsten Tage startete die Expedition, 2 Gendarmen und 4 von uns. Es gab<br />
reichlich Erdbeerenblätter, Blaubeerenblätter, Hagebutten und vom Waldrand an, in der<br />
Wiese, Beete von Pfefferminz. Große Haufen sammelten wir und stopften sie in<br />
Rucksäcke und Decken. Das ging so lange, bis das erste Bauernhaus in Sicht kam, mit 4<br />
Bäumen, wilden Birnbäumen, <strong>im</strong> Hof. Da warfen die Burschen die Kräuter weg und<br />
sammelten Zwergbirnen. Die Soldaten wurden ungehalten, sie kannten ihre Instruktionen<br />
und rochen das Geschäft. Die Zwergbirnen lieferten keine größere Bestechung. Da kam<br />
noch die Bauernfrau, es gab ein paar Eier einzuhandeln und ein Glas Milch zu trinken.<br />
Disziplin gab es <strong>im</strong> Anfang, nachher nicht. Der Apothekergehilfe, Segall, der<br />
Berufsgenosse, versagte mit den anderen. Bei den Birnen war er noch fest geblieben. Mit<br />
einem vollen Rucksack und ein paar Sträußen zur weit sichtbaren Demonstration kamen<br />
wir zuhause, so heißt schon das <strong>Lager</strong>, an, die Soldaten verst<strong>im</strong>mt, die Ausbeute gering,<br />
kein gutes Resultat.<br />
61
Es gingen nachher noch einige Expeditionen in den Wald, gemischte Expeditionen,<br />
die wenig Kräuter und auch wenig Lebensmittel einbrachten. Aber für die Bedürfnisse<br />
der Kranken reichte es trotzdem, und Millefolia wuchs dazu noch <strong>im</strong> <strong>Lager</strong>, zwischen<br />
den Stacheldrähten, sogar sehr reichlich. Man mußte dazu nur sich des Gendarmen, der in<br />
diesem Häuschen Dienst machte, versichern, damit er nicht schießt, während einer<br />
pflückt. Die Instruktion lautet, auf jeden zu schießen, der näher als 4 Meter an den Draht<br />
herankommt.<br />
Es gilt die Regel, besser ein schlechter <strong>Arzt</strong> als gar keiner. Manche werden<br />
widersprechen, aber in der Not ist es doch so. Und ganz sicher: besser schlechte Pflege<br />
und mangelhafte, aber verständnisvolle Medikation als gar keine. Der Saal war groß für<br />
die wenigen Kranken, und es wäre, meinten viele, besser gewesen, die überladenen<br />
Schlafsäle zu entlasten. Aber der alte Moritz hatte richtig geraten: “Kinder, haltet euch<br />
das große Z<strong>im</strong>mer frei.Man kann niemals nicht wissen, was noch kommt. Für<br />
Flecktyphus ist das der beste Raum. In der Kälte kriechen die Läuse nicht so leicht von<br />
einem zum anderen. Ihr werd’s schon sehen, daß der Alte recht hat.” Er hatte recht, aber<br />
nicht ganz.<br />
Flecktyphus kam nicht zu uns. Vor einem Jahr hatte die Krankheit in der Gegend<br />
gewütet. Hunderttausende waren erkrankt, und in Schichten lagen die Leichen. In<br />
Sammelwagen führte man sie ab. Zu Hunderten schaufelte man sie ein, dann zu<br />
Tausenden, und zuletzt zu Zehntausenden in ein Grab. Wir sollen später sie sehen, diese<br />
Gräber, in Berschad, in Obodovka. Aber jetzt war unsere Umgebung <strong>im</strong>mun. Sie hatten<br />
die Krankheit überstanden oder waren gestorben. Es mußten erst Kinder heranwachsen,<br />
neue Menschen verschickt werden, damit die medizinischen <strong>Ein</strong>zelfälle eine neue<br />
Epidemie entfachen.<br />
“Die Laus,” sagte mir einmal ein dicker, alter Oberst, “ist der treueste Gefährte des<br />
Soldaten. Sie ist <strong>im</strong>mer mit ihm und verläßt ihn erst nach dem letzten Atemzug, wenn der<br />
Körper erkaltet. An jedem Dienstag schrieben wir damals in das Dienstbuch des<br />
Reg<strong>im</strong>entes, das wir bei der genauen Kontrolle das ganze Reg<strong>im</strong>ent frei von Läusen und<br />
ansteckenden Krankheiten gefunden haben. Die Listen gingen vom Reg<strong>im</strong>ent zur<br />
Division, zum Armeekorps und wurden schließlich dem König vorgelegt, der sie wohl<br />
mit großer Genugtuung las. Doch die Armee blieb verlaust.” Wir konnten uns diesen<br />
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Luxus nicht leisten. Läuse bedeuten Epidemie. Unsere Hilfsmittel waren beschränkt, kein<br />
Wasser, wenig Seife, die großen Entlausungskammern in Trümmern und die eine uns zur<br />
Verfügung gestellte fahrbare Kammer zu klein.<br />
“Weißt du, Alter, wenn wir systematisch einen nach dem anderen entlausen,<br />
kommen wir doch zu einem Ziel, oder wenigstens werden es weniger!” “ Kinder, ihr<br />
versteht nichts davon. Wer an Läuse nicht gewöhnt ist, auf den verläuft sich einmal eine,<br />
und er macht sie einfach mit den Fingern tot. Er kriegt keine Läuse. Wir müssen ihm nur<br />
helfen und da ist genug, wenn bei jedem von euch 2 Burschen mit einem Bügeleisen am<br />
Abend herumgehen und ihnen die Nähte an den Unterhosen und Hemd durchbügeln. Die<br />
Bügeleisen kann der Parola in der Klempnerei aus dickem Blech machen, und die<br />
Holzkohle nehme ich von dem, was in der Küche und in der Entlausungskammer<br />
zurückbleibt. Was meint ihr, wenn ich von oben beginne und 30 an einem Tag mache und<br />
340 sind in diesem Z<strong>im</strong>mer, sind sie nicht bis früh wieder voll? Ihr müßt nur die<br />
herausfinden, die voll mit Läusen sind und mir diese <strong>im</strong>mer wieder schicken. Die sind<br />
nicht so viele, und wenn wir die rein haben, dann werden die anderen sich schon leichter<br />
selber helfen können.” Die Verwahrlosten, indolent Verschmutzten lieferten nach kurzem<br />
Widerstand Kleider, Wäsche, Decken ab, wurden in einer Schüssel notdürftig<br />
abgeschrubbt, und bevor noch die unvermeidlichen neuen Läuse, die Rückkehrer von<br />
ihren Nachbarn, es zu mehreren Generationen mit der Schnelligkeit der geometrischen<br />
Progression gebracht hatten, neuerlich dem Verfahren unterworfen. Es half doch. Die<br />
Proportion der Verlausten sank ab ohne die bewußte Täuschung be<strong>im</strong> Soldatenspiel.<br />
Läusefrei sein, das ist ein Luxus für solche mit Badez<strong>im</strong>mer und Wäsche zum Wechseln.<br />
Diese Menschen sind hier in der Minorität.<br />
Die Pritschen in der Infirmerie sind belegt. Im Saale liegen die Männer. Die eine<br />
Ecke ist weiter durch einen Bretterverschlag in Kopfhöhe herausgeschnitten, das ist die<br />
Frauenabteilung. Es ist sehr kalt. Die großen Öfen an beiden Enden ließen sich<br />
reparieren, doch unsere Holzration für eine Woche würde nicht ausreichen, um sie einmal<br />
warm zu bekommen. Der kleine Blechofen in der Mitte wird einmal täglich beheizt. Die<br />
Frauen liegen lieber in ihrem Z<strong>im</strong>mer und der Verschlag dient als Vorratsraum und<br />
Küche.<br />
63
Gegen 11 Uhr, der kleine, schwärzliche Barasch, der höflich-freundliche, stille Jude<br />
(sein Studium konnte er nicht beenden), hat eben mit mir die Kranken angesehen und in<br />
seinem Hefte die Änderungen für die nächsten 24 Stunden notiert. Da öffnet sich eine der<br />
beiden Haupttüren mit einem stürmischen Ruck, und unser Freund Moritz erscheint ohne<br />
Mütze und Mantel, tiefe, breite Furchen <strong>im</strong> braunroten Gesicht und herabhängende<br />
Altersfalten am Hals, aber mit lustigen Augen der Jugend und brummt mit rauher<br />
St<strong>im</strong>me:”Also zeig mir auch, was du da hast!” “ Schau, Alter, da liegt der M., atmet nur<br />
noch ganz flach und ist schneeweiß. Der Stuhl ist seit Tagen pechschwarz. Man tastet<br />
unter dem linken Rippenbogen eine Verhärtung. Ich meine, es ist ganz gleichgültig, ob<br />
man <strong>im</strong> Röntgen den Tumor genauer lokalisiert und feststellt, wieviel Blut er verloren<br />
hat, oder ob er hier stirbt. Die Leute aus dem Z<strong>im</strong>mer wollten ihn nicht herausgeben,<br />
sagten ihm, solang er noch hören konnte, Gemeinheiten. Er war einer der schl<strong>im</strong>msten<br />
Spitzel, und seine Arbeitgeber haben ihn, ebenso wie die anderen, die du kennst,<br />
hergeschickt, um ihn loszuwerden.” “Hast recht, soll er sterben wie ein Mensch. Es<br />
laufen so viele Schweine herum, und es geschieht ihnen nichts. Die Leute, die uns<br />
hergebracht haben, sind jetzt alle hochanständige Menschen. Wenn ich dir einmal sagen<br />
werde, wer die sind, dann wirst du die Augen aufmachen. Ich kenne sie alle. Mein Sohn<br />
hat einmal <strong>im</strong> Cercul (Amt) die Liste gesehen von denen, die von der Siguranza requiriert<br />
sind, und wie der Feldwebel herausgegangen ist, hat er sie abgeschrieben. Wirst staunen,<br />
wer darunter ist,”<br />
“Hier habe ich 2 liegen, die haben Magengeschwüre. Sie vertragen die Erbsen nicht.<br />
Hier bekomme ich doch einige Kartoffeln, und manchmal hat der Major eine milde<br />
Anwandlung und schickt mir ein Schaf für die Kranken. Das ist der mit der Gangrän der<br />
Beine. Ich kann für ihn nichts tun. Wir haben nicht einmal so viel Morphium, um ihn für<br />
einen Tag zu beruhigen. Ich kann mir überhaupt keinen Re<strong>im</strong> zu dieser Geschichte<br />
machen. Ich habe so etwas bei einem jungen Menschen noch nicht gesehen. Den hier<br />
kennst du aus der Ambulanz. Sein Karbunkel hat sich gereinigt. Man sieht die Sehnen<br />
und Knochen freigelegt. Ich habe einmal einen davon sterben gesehen. und daher halte<br />
ich ihn hier. Hör dir die Lungen an, damit du das Abhorchen nicht vergißt. Es hört sich<br />
wie eine Lappenpneumonie an, ist aber nach dem Verlauf eine Tuberkulose..” “Was<br />
machst du mit ihm?” Er liegt in einer Ecke und bekommt besseres Essen, auch manchmal<br />
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ein Glas Milch. Später, denke ich, werde ich das Z<strong>im</strong>mer be<strong>im</strong> <strong>Ein</strong>gang hergestellt<br />
bekommen und die Tuberkulosekranken, alle, auch die aus den Z<strong>im</strong>mern, hinlegen. Ich<br />
habe den Burschen schon gesagt. Man muß bloß ein Fenster einsetzen und den Fußboden<br />
reparieren wegen der Ratten. Dort muß einmal ein Vorratsraum gewesen sein. Nirgends<br />
sind so viele Ratten wie dort. “Bist du schon müde, Alter, oder willst du noch etwas<br />
ansehen?” “Ich muß für einen Augenblick zu den Mädels schauen. Ich habe ihnen<br />
versprochen, die Sachen herauszunehmen be<strong>im</strong> Ordnungmachen. Wirst mir später alles<br />
erzählen.”<br />
Er geht ab, ins kleine Z<strong>im</strong>merchen, wo Polia, Ray und Frau Stein ihr Leben als<br />
Frauen in veränderter Form weiterführen. Er findet dort schon unseren schwarzen Turri,<br />
der seiner Ray, derselben, der er schon am Wege dürftige Medizinkenntnisse beigebracht<br />
hat, treu wie ein Hund in die Augen sieht und wartet, bis sie ihm ein gutes Wort zuwirft.<br />
“Du bist goldig, Turri.” Er erschauert innerlich vor Entzücken und ist an diesem Tage<br />
glücklich. Mann und Frau gehören zusammen. Kurze Trennungen verstärken das<br />
Zusammengehörigkeitsgefühl. Lange und solche auf unbest<strong>im</strong>mte Zeit erschüttern es.<br />
Die Wahl fällt auf das Passendste in zugänglicher Nähe. Nach der Rückkehr wird erst die<br />
Unzulänglichkeit der in der Not eingegangenen Partnerschaft klar empfunden. Doch in<br />
diesem Augenblick ist Turri, der auch sonst wenig philosophiert, glücklich. Er sieht nicht<br />
die Hysterie in ihren Augen, Lachen und Bewegungen, fühlt nicht die Sklaverei, in die<br />
sie ihn einspannt. Er fühlt nur das ihm als Lob und Anerkennung für seine eifrigen<br />
kleinen Dienste zugeworfene Wort.<br />
Die Kranken <strong>im</strong> Saale sind angesehen. Der stille Barasch steckt sein Krankenheft in<br />
die Tasche und bittet schüchtern, seinen alten Vater, der sich nicht wohlfühlt, zu<br />
besuchen. Er liegt <strong>im</strong> oberen, großen Saal des mittleren Hauses. <strong>Ein</strong>e Holzleiter führt in<br />
die obere Pritschenlage. Dort liegt der Alte, rot <strong>im</strong> Gesicht, mit raschem Atem und<br />
stoßweisem Husten. Beide Lungenbasen sind massiv infiltriert. Das Quantum Dagenan,<br />
das Harry für solche Notfälle zurückhält, wird ausreichen.<br />
Am Wege von und zum Kranken werden wir an vielen Stellen angerufen. Wir<br />
wissen ja, warum sie alle mit geblähten Bäuchen und offenen Hosen auf den Pritschen<br />
hocken. Die Luft ist zum Schneiden mit Schwefelgestank erfüllt. Die Schmerzen <strong>im</strong><br />
Bauch fühlen wir auch und wissen keine Abhilfe. Es sind die Futtererbsen, die wir alle<br />
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essen, 400 Gramm großer Erbsen von ungewöhnlicher Form mit dicker Schale. Das treibt<br />
uns alle Augenblicke zum Stuhl, zum Abgang von Gasen, aber auch merkwürdigerweise<br />
zum Urinieren. Vielleicht drückt der volle Bauch auf die Blase. “Doktor, ich kann in der<br />
Nacht nicht schlafen, die Wadenkrämpfe lassen mich nicht ruhen, die Hände und Kiefer<br />
ziehen sich mir zusammen.” Das muß an gewissen Mängeln in der Nahrung liegen. Wir<br />
können dagegen nichts tun. Unsere Leute müssen sich be<strong>im</strong> Kommando bemühen. Man<br />
wird uns vielleicht erlauben, mehr Nahrungsmittel einzukaufen. “<strong>Ein</strong>en Zettel auf Milch<br />
kann ich dir nicht geben, denn es wird so wenig hineingebracht, das es kaum für die<br />
schwersten Kranken reicht. Halte dich, so gut du kannst, zusammen, lies ein Buch, geh<br />
zur Arbeit. Die Hauptsache ist, daß du Geist und Körper nicht verkommen läßt, unter<br />
allen Umständen. Kleider wirst du wieder bekommen, Fett kannst du neu ansetzen.”<br />
Merkwürdig, daß so viele Menschen Muskelkrämpfe haben. Das muß nur an der Nahrung<br />
liegen, oder vielleicht, weil es schon so kalt ist.<br />
In unserem Z<strong>im</strong>mer ist es direkt anhe<strong>im</strong>elnd, warm. Der Holzscheit, den wir als<br />
Tagesration bekommen haben, und der Scheit, den wir für 10 Mark bei den Ukrainern<br />
gekauft haben, verbrennen <strong>im</strong> Blechofen. Darauf siedet ein schwarzer Blechtopf aus<br />
unserer Klempnerei. Gustl wird eine Mamaliga kochen. Er ist Fachmann für<br />
Bauernmamaliga. Das Mehl hat Moritz auf dem Umwege über Bubi, den Chauffeur,<br />
verschafft. Es ist wieder einmal kein frisches Mehl. Es riecht sch<strong>im</strong>melig und ist innen<br />
heiß. Im Kochen verliert sich der Gestank, und der Nährwert bleibt doch unverändert.<br />
Das Mehl wird hineingeschüttet, 2 kg Maismehl, und das kochende Wasser umspült die<br />
Mehlhaufen. Erst wenn das Ganze gut durchhitzt ist, wird der Topf heruntergenommen<br />
und fest durchgerührt, bis der Holzstock trocken herausgezogn werden kann. Dann noch<br />
für einen Augenblick auf den Herd, und der Topf kann umgestülpt werden. Die<br />
Mamaliga fällt als ganze, wie eine Torte, auf den Teller. Zerlegung in 6 gleiche Teile.<br />
Aufleger hat eine Zwiebel in Öl geröstet. Die Zwiebel n<strong>im</strong>mt dem Bauernöl den<br />
Beigeschmack. Der Alte hat eine Kasserole, ich ein Töpfel, die anderen sogar Blechteller,<br />
Holzlöffel. Turri und der kleine Aufleger legen Bluse und Hemd ab, der Schweiß trieft<br />
von ihrem Oberkörper und sie essen mit Begeisterung. Roll kostet, ißt schmatzend und<br />
beleckt seine Lippen, Gustl ißt, stöhnt, und ißt mit unglückseligem Gesicht weiter, und<br />
ehe wir uns umsehen, ertönt ein lautes metallisches Kratzen, ein Zeichen, daß der Alte<br />
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den Grund seines Gefäßes erreicht hat. “Alter,” schreit der Kleine und hüpft lustig, “friß<br />
nicht die Kasserole auf.” “No, was soll ich machen, wenn ich nichts mehr hab’?” Gustl<br />
bietet ihm seinen Rest an, er kann 1 kg Maisbrei nicht auf einmal herunterschlingen.<br />
Moritz will es nicht, n<strong>im</strong>mt schließlich doch an, kratzt bald wieder sein Gefäß aus und<br />
sinkt zufrieden auf seine <strong>Lager</strong>stätte. Das gute Essen hat uns warm und lustig gemacht.<br />
Im Nebenz<strong>im</strong>mer wird wieder einmal das Brot lizitiert. Die Teile sind als gleich<br />
anerkannt, der Z<strong>im</strong>mervorstand liest die Nummern, und der blinde Advokat ergreift und<br />
übergibt jedem einen Teil. Die Individualisten in unserem Z<strong>im</strong>mer haben sich noch<br />
<strong>im</strong>mer nicht zu einer Gemeinschaft <strong>im</strong> Essen zusammengefunden. Essenfeld kocht sein<br />
Töpfchen und melkt die Ölflasche, der Tierdoktor ißt seinen Brotteil, Harry mit seinen<br />
Landsleuten zehren von eingeschmuggelten Resten. Seine Eltern geben Unsummen aus,<br />
und ein kleiner Teil erreicht ihn doch. Als er das letzte Mal Lebensmittel bekam, ging er<br />
Kohlen schaufeln, traf richtig den gehe<strong>im</strong>en Boten und verstaute die Päckchen zwischen<br />
seinen doppelten Hosen. <strong>Ein</strong> Honigtiegel ging am Wege auf. Die anderen Sachen wurden<br />
dadurch nur besser, von Honig durchtränkt, aber die Hosen litten, und der Schmerz war<br />
groß über diesen Verlust. Die Hosen hingen einige Tage auf dem Strick, der durch das<br />
Z<strong>im</strong>mer ging, und so mancher führte sie zu seinen Lippen. Bis wieder Wasser kam,<br />
waren sie bretthart verkrustet. Im Wasser lösten sich die Krusten, und die Hosen dienten<br />
ihrem Zweck weiter.<br />
Wir sind satt und zufrieden. Moritz hänselt den Kleinen. Die Latrinengerüchte<br />
berichten wieder von einer Kommission, die uns befreien soll. Der Zahntechniker hat den<br />
Chauffeur des Obersten gesprochen, und der hat es <strong>im</strong> Kommando gehört. Der Tierarzt<br />
bestätigt es aus sicherer Quelle. Der Müller <strong>im</strong> Orte hat es ihm ezählt—zu ihm hat er<br />
Vertrauen, denn er spricht zu ihm tief russisch—er hat ihm also <strong>im</strong> Vertrauen erzählt, daß<br />
<strong>im</strong> Ortshotel Z<strong>im</strong>mer reserviert wurden. Das kann nur für die Kommission sein. Und<br />
dann ist der rote Bubi, als Chauffeur verkleidet, mit dem Major in Jassy gewesen und hat<br />
von dort einen Zeitungsausschnitt mitgebracht. Da steht ganz deutlich, daß<br />
Kommissionen die <strong>Lager</strong> besuchen werden und alle Fälle unschuldig Verschickter neu<br />
untersucht werden. Man glaubt gern, was man gern will. Sogar die Skeptiker hören diese<br />
Gespräche gern.<br />
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Moritz fragt den Kleinen, ob er schon alle Vorbereitungen für die He<strong>im</strong>kehr<br />
getroffen hat, gibt ihm Ratschläge für die erste Nacht. Seine Erfahrungen sind reich. Er<br />
geht in seinen Erzählungen <strong>im</strong>mer weiter zurück. Er wandert zu Fuß durch Schnee in<br />
verseuchte ukrainische Dörfer und schläft dort mit der Inspektorin, die ihn in diesen<br />
schweren Dienst hineingehetzt hat, er tröstet Mädchen und Witwen. Es endet in Liedern.<br />
Es ertönt “Die Wirtin an der Lahn”, es folgen andere Studentenweisen <strong>im</strong> Chore und<br />
schließlich als Solo das lustige Alphabet, der Adler fällt vom Büchsenschuß bis zum Zulu<br />
<strong>im</strong> Kreis der Brüder. Dann wird man müde und traurig. Gustl singt mit zitternder St<strong>im</strong>me<br />
das Lied vom Mädchen, das <strong>im</strong> Wäldchen be<strong>im</strong> Teiche Margariten suchte, von einem<br />
schwarzen Jungen gefunden wurde, trotz der bösen Mutter dort blieb, und dann allein<br />
zurückblieb. Stolper produziert russische Lieder aus dem heiteren Birobidjan, wo<br />
Menschen sich dauernd verbrüdern, und in all diese Lustigkeit und Trauer schaltet sich<br />
Harry ein mit einem lauten “Pardon”, öffnet das Fenster, läßt seine Gase laut abgehen<br />
und singt dazu das Lied: “Schlagt euch aus dem Kopf die Befreiung, fügt euch in das<br />
Herumsitzen, denn wir lassen unsere Knochen am Ende doch hier.” Der Schalk und Narr<br />
hat <strong>im</strong>mer das letzte Wort. Hinter seinen Scherzen liegt Verständnis, Absicht, und<br />
dirigiertes System.<br />
Es wird 4 Uhr pm. Die 2. Portion Erbsen ist gebracht worden. Die Fliegenschicht<br />
wird abgeschöpft. Die Fliegen sind starr und fallen haufenweise in die Kübel. Jeder hat<br />
sein System, die Erbsen zu genießen und möglichst wenig zu leiden. <strong>Ein</strong>er n<strong>im</strong>mt mehr<br />
Flüssigkeit, der andere nur Frucht und passiert sie durch eine Konservendose mit Löchern<br />
am Boden, der dritte spuckt die Schalen aus. Am Ende sind alle gleich gebläht und<br />
verpesten die Luft mit dem Gestank fauler Eier. Essenfeld n<strong>im</strong>mt ein zweites Mal und<br />
hebt es für den Abend auf. Vielleicht wird er noch einmal Hunger bekommen. “Wenn sie<br />
uns Bohnen geben würden, weiße Bohnen, dann würden wir sehr gut leben können. In<br />
Bohnen ist doch alles da, was der Mensch zum Leben braucht. Diese Erbsen aber sind<br />
sehr schwer zu verdauen. Die Hosen gehen nicht zu, und dann. . .” er tänzelt von einem<br />
Bein auf das andere und verschwindet zur Latrine. Er hat schon oft angedeutet, daß er<br />
seinen zweireihigen Anzug verkaufen und sich, so wie wir, Zusatzessen kaufen wird.<br />
Soweit ist er aber psychisch noch nicht reif.<br />
68
Den Schal umgebunden, die Mütze über die Ohren und noch einmal in die<br />
Infirmerie. Die Kranken liegen schweigend unter der Last ihrer Decken und Kleider. Da<br />
ein gutes Wort, dort eine kleine Hilfereichung, eine Frage, die nur das Interesse bekunden<br />
soll, und der Durchgang ist zu Ende. Es gibt gewisse Formen, die unter allen Umständen<br />
aufrecht zu erhalten sind. Der Inhalt fehlt zur Zeit. Die Erhaltung der Form überbrückt<br />
die Zeit, erhält das Gerüst der gleichmäßigen, geordneten Arbeit. Die Nachmittagsvisite<br />
ist vorbei. Die Kranken haben ihren <strong>Arzt</strong> erwartet und haben ihn gesehen. Man erzählt<br />
von Engländern <strong>im</strong> Kolonialdienst, die tief in der Wildnis täglich zum Dinner sich<br />
rasieren lassen, Abendkleider anlegen, die Speisenfolge in Ruhe absolvieren, dann die<br />
Nummer der T<strong>im</strong>es, nur eine Nummer von dem Rest, den das letzte Schiff gebracht hat,<br />
sich vornehmen und so tun, als wären sie <strong>im</strong> Herzen ihres Landes. Sie handeln richtig.<br />
Sie wahren die Form.<br />
Zurück ins Z<strong>im</strong>mer. Die Dämmerstunde ist die schwerste Zeit des Tages. Es ist zu<br />
dunkel, um zu lesen und noch zu hell, um Licht anzuzünden. Wir haben doch so wenig<br />
Petroleum. So sitzt nun jeder auf seinem Platz und grübelt zwangsweise. Die Gedanken<br />
drehen sich um das He<strong>im</strong>, um Frau und Kinder, und werden quälend und zermürbend.<br />
Wenn zwei zu reden beginnen, dann geschieht es <strong>im</strong> Flüsterton, als ob das schwindende<br />
Licht die St<strong>im</strong>me dämpfe. Hie und da ertönt ein Lachen aus der gegenüberliegenden<br />
Ecke, wo Stolper und Lezi, die Jüngsten, ihre unverdauten Bubenerlebnisse austauschen.<br />
Von dort aus bricht auch manchmal die Jugend durch, und ein Lied erfüllt den Raum.<br />
Doch dieses Lied entspringt nicht mehr dem mit warmem Brei gefüllten Bauch. Die<br />
papierenen Kinder, die Traurigkeit der jüdischen Mutter, die nur Bilder von ihren<br />
Kindern besitzt, Bilder an den Wänden und in der Lade, erfüllt den Raum. “Papier ist<br />
geworden mein Fleisch und mein Blut,” schluchzt der Sänger. Hände greifen in die<br />
Taschen, wo die Bildchen aufbewahrt sind. Im Raum ist es merkwürdig still, einige<br />
schlucken und schneuzen wie zufällig.<br />
“Sing noch was, kleiner Rotzbub,” läßt sich der Alte vernehmen. Sein Schlager ist<br />
das Lied aus der Ukraine vom Schneiderlein, das eine schöne Tochter besaß, schön wie<br />
sein Augenlicht. Schwere Wolken ballen sich zusammen, die Progromisten ziehen ins<br />
Städtchen, töten und schänden. Und als sie das Häuschen des Schneiderleins erreichen,<br />
69
da n<strong>im</strong>mt er seine große Schneiderschere und durchsticht ihr das Herz. Jetzt wandelt er<br />
als Verrückter durch die Straßen und spricht mit Gott.<br />
Das Lied vom Schneiderlein verklingt <strong>im</strong> stillen Raum, der nun schon ganz dunkel<br />
geworden ist. Zwei Decken werden vorgehängt, damit die Wachen keinen Lichtsch<strong>im</strong>mer<br />
sehen, das “Funzel”, eine Konservenbüchse mit dickem Wollfaden, vorgeholt. Im<br />
flackernden Lichtschein zeichnen sich die Schatten der auf den Pritschen Hockenden<br />
groß an den Wänden ab. Die St<strong>im</strong>mung will nicht wiederkehren. Die dösenden,<br />
halbwachen Gedanken eines jeden drehen sich um Menschen und Dinge weit weg vom<br />
Orte, die Gemeinschaft durch den Zwang des Elends ist gelockert.<br />
Harry löst den Zwang, stößt mehrmals laut auf, sagt “Pardon” und bringt einen<br />
neuen Vorschlag: “Wer geht in den großen Saal, dort ist sicher Vorstellung?” Die<br />
Vorstellung ist in vollem Gange. Der Ansager erklärt eben No. 4. Benesch sitzt am<br />
Boden in Hockstellung und reproduziert ein gemischt arabisch-polnisches Lied mit<br />
orientalischer Melodie. Dann rezitiert Rottenberg ein Gedicht bis zu einem Punkt, wo er<br />
erklärt, daß er die Fortsetzung vergessen habe, eine Gruppe singt inzwischen Lieder, ein<br />
Pfeifkonzert, und so fort in buntem Wechsel. Uner Tausenden gibt es <strong>im</strong>mer Talente.<br />
Die ersten Schläfer haben sich zur Ruhe gebettet, Decken und Mäntel kunstvoll<br />
gelegt, um den Wind durch die Bretterritzen weniger zu fühlen. Das Licht flackert in<br />
einer Ecke. Bercu sitzt ruhig und löst mathematische Probleme. Das hat er alle Jahre in<br />
vielen Gefängnissen getan und sich durch seinen Gleichmut, seine Güte, die Liebe der<br />
Gefängnisgenossen, ob es nun Politische, Schwarzbörsianer oder Totschläger waren,<br />
erworben. Ich rücke in seine Nähe und lese. <strong>Ein</strong> gutes Buch mit schlechtem Druck und<br />
auf schlechtem Papier. Der Krieg hat es den Verlegern möglich gemacht, französische<br />
und englische Werke zu übersetzen und nachzudrucken, ohne die Autoren dafür zu<br />
bezahlen. Die sind ja Feinde auf der anderen Seite der Front. So gibt es gute Bücher in<br />
schlechter Ausstattung. Es ist ja Krieg.<br />
Wir übersehen die ersten Krankheitssymptome. Die Furunkel haben wir vom<br />
Schmutz und von der Mangelkost, die fieberhaften Darmkatharrhe hat einer ins <strong>Lager</strong><br />
mitgebracht, und die Fliegen haben sie verbreitet, der Bauch ist gespannt von den Erbsen,<br />
und <strong>im</strong> Übrigen sind wir Menschen, wie alle, und können eine Grippe oder<br />
Lungenentzündung und auch einen tuberkulösen Schub bekommen. Viele haben ihre<br />
70
Blase erkältet und laufen Tag und Nacht. Kein Wunder, wenn man überlegt, wie wir <strong>im</strong><br />
Freien auf den eisbedeckten Balken der Feldlatrine hocken, stundenlang hocken, bis die<br />
Gase abgegangen sind. Man muß nur einen Blick auf den freigelegten Körperteil des<br />
Nachbarn richten, auf die blaugefrorene Haut, und kann alles verstehen. Über “Carcei”<br />
klagen so viele, das heißt Wadenkrämpfe, wie mir ein Kollege erklärt. Ja, aber andere<br />
klagen über dieselben Krämpfe in den Armen, <strong>im</strong> Bauch, <strong>im</strong> Gesicht, werden in der<br />
Nacht steif und stöhnen aus dem Schlafe. Es wird nichts Besonderes sein. Wie viele<br />
Menschen haben unter normalen Umständen Muskelschmerzen, geschweige denn wir,<br />
verdreckt, unterernährt und so mangelhaft bekleidet <strong>im</strong> kalten russischen Winter. Es wäre<br />
eher zu verwundern, wenn unsere Muskeln durch die Kälte sich nicht<br />
zusammenkrampfen und versteifen würden.<br />
Dann kommt eines Tages der Alte und sagt: “Hör mal, ich hab’ da bei meinen<br />
Ukrainern einen Alten, der geht so merkwürdig. Komm, schau ihn dir einmal an.”<br />
Der Alte mit seinen Ukrainern. Er liebt sie direkt. Sie erinnern ihn wohl an die<br />
Bauern in seinem Bezirk. Wir haben ihm daher die medizinische Versorgung der<br />
Ukrainer anvertraut, und er versieht diese Arbeit, wie jede, mit Freude. Sie machen ihm<br />
das Leben nicht leicht. Es gibt allerhand Sektierer unter ihnen, manche aus pr<strong>im</strong>itiven<br />
Sekten, die mit ihren Frauen und Kindern in Ecken hocken und nichts wissen wollen von<br />
Waschen, Wäschewechsel oder Entlausung. Es sind Gewohnheitsverbrecher darunter,<br />
Kriegsgefangene, politisch Verdächtige und Spitzel, die absichtlich diesen beigemengt<br />
wurden, kurz, ein inhomogenes Menschenmaterial, mit dem es sich schwer arbeiten läßt.<br />
Der Kranke gehört zu den Sektierern und will von Ärzten nichts wissen. Er läßt erst<br />
jetzt, wo er sich nicht wehren und nicht davonlaufen kann, den <strong>Arzt</strong> an sich heran. Da<br />
liegt nun auf einem Haufen von Lumpen ein verdorrter Greis mit verschmutztem<br />
Stoppelbart, wirrem, ungekämmtem Kopfhaar, faltigem Hals und blickt böse durch die<br />
halbgeschlossenen Lider. Mit Mühe und auf Zureden der Familie gelingt es, einige<br />
Schnüre und Knöpfe zu öffnen und einen Teil des Körpers freizulegen. Er ist mager, der<br />
Bauch eingefallen, die Haare an der Brust grau, die Beine hält er leicht angezogen, sie<br />
sind mager bis zum Skelett. Es gibt soviele Läuse am Körper und in den herumliegenden<br />
Lumpen, daß der bloße Anblick schon Jucken auslöst. “Schau dir rasch an, was du sehen<br />
willst und komm weg, sonst kriegen wir voll Läuse. Bei ihm haben sie ja keinen Platz<br />
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mehr, wo zu trinken,” fordert mich der Alte auf. “Ich geh’ schon, Alter, ich will nur<br />
einen Blick auf das Herz werfen und rasch nachsehen, warum er nicht gehen kann.” Die<br />
langen Gummiröhren des Phonendoskops schützen vor direkter Berührung. Die Knie-<br />
und Fußreflexe springen bei Beklopfen und hüpfen, die Großzehen erheben sich bei<br />
Bestreichen der Fußsohle. Das genügt fürs Erste. “Hör’, Alter, Es ist eine spastische<br />
Lähmung der Beine, und bei unseren diagnostischen Möglichkeiten würde ich dir raten,<br />
es einfach als Lues zu nehmen und gleich mit Jod und Bismut anzufangen. Erholt er sich,<br />
dann haben wir Zeit, weiter nachzudenken.” Er hat sich nicht erholt. Wir sahen ihn noch<br />
einmal zusammen, da sprach er merkwürdig gurgelnd, und das Essen ging ihm durch die<br />
Nase zurück. Dann starb er den vielen anderen nach.<br />
Schon nach einigen Tagen kommt der Alte wieder. “Du, hör mal, die Sache ist nicht<br />
so einfach. Ich hab’ da unter meinen Ukrainern 3 Leute, die gehen schlecht. Es fängt bei<br />
ihnen so an wie be<strong>im</strong> Alten, der gestorben ist..”<br />
Er hat recht. Unter den Dreien sind 2 Kriegsgefangene, die bereitwilligst zur<br />
Untersuchung kommen. Sie gehen steif, kreisen die Beine unbeholfen, ermüden rasch.<br />
Die Reflexe an den Beinen sind hochgradig gesteigert, klopft man auf die Achillessehne,<br />
so springt das Bein hoch und zuckt lange nach, die Reflexe der Großzehe zeigen deutlich<br />
die Schädigung best<strong>im</strong>mter Rückenmarksstränge. 4 Kranke mit spastischer Lähmung der<br />
Beine in einer so kleinen Menschengruppe zu gleicher Zeit, das ist sehr merkwürdig.<br />
Es folgen in kurzen Abständen weitere, unter diesen auch ganz junge. Vasile<br />
Bogdanoff ist 20, Grigore Horodnik nur 17, und bald sind es schon 7 und 8 Gelähmte<br />
unter den Insassen des dritten Pavillons. Diese, Ukrainer und Russen, kamen 3 Monate<br />
vor uns in das <strong>Lager</strong>, 30 Frauen sind unter ihnen. Sie waren verschiedener Herkunft,<br />
stammten aus Leningrad, aus Sibirien und aus der nahen Ukraine, waren<br />
Kriegsgefangene und gemeine Verbrecher. Das Gemeinsame waren die Wadenkrämpfe,<br />
die Blasenstörungen und der unsichere, schwankende Gang. Sie hatten alle von Juli an<br />
die Futtererbsen gegessen. Unsere Aufmerksamkeit und die Befragung der<br />
<strong>Ein</strong>he<strong>im</strong>ischen ging in die Richtung dieser Nahrung.<br />
Am 20. Dezember 1942 erscheint unser Freund und Genosse Solomowicz. Er geht<br />
unsicher, wie der <strong>im</strong> Anfang verstorbene alte Ukrainer und die am Leben gebliebenen, er<br />
muß Tag und Nacht dauernd zur Latrine, kann den Urin nicht zurückhalten, schläft nicht<br />
72
in den Nächten, da sich seine Muskeln schmerzhaft zusammenkrampfen, er kann die<br />
steifen Beine nicht gebrauchen, nicht heben und nicht auseinandergeben, er bemüht sich<br />
zu gehen, doch er schwankt und fällt. Am nächsten Tag kommt ein zweiter, ein dritter,<br />
und dann steigt die Zahl der Gelähmten unter uns rasch auf über hundert. Die ersten<br />
werden die schwersten. Nach 3 Tagen ist Solomowicz unfähig, auch mit Stütze bis zur<br />
Latrine oder zum Faß zu kommen. Seine Beine sind spastisch, sie überkreuzen sich <strong>im</strong><br />
Gehversuch, die Reflexe der Beine sind <strong>im</strong> höchsten Grade gesteigert, die Großzehen<br />
geben die Reflexe, die eine Schädigung der Pyramidenbahnen anzeigen. Er muß gepflegt<br />
werden. Die anderen sind unbeholfen, gehen wie die Enten, watschelnd, breitspurig, die<br />
Beine kreisend, fallen, stützen sich an dem Rand der Fenster, am Tischchen, an den<br />
Säulen, versuchen es mit Stock und fallen schließlich als Pflegefälle auf die Pritschen.<br />
Die liebe Regina kommt aus der Frauenabteilung. Sie hat Erfahrung. Ihr Mann war<br />
lange und schwer krank, und sie weiß etwas von Krankenpflege. Sie bringt andere mit<br />
und übern<strong>im</strong>mt die Leitung der Pflege, Fütterung, Urinentleerung, Hautversorgung gegen<br />
das Aufliegen, wird zur Hauptschwester. Alle Pritschen sind jetzt voll belegt, auch 2 und<br />
3 auf einem <strong>Lager</strong>. <strong>Ein</strong>e Nachtwache wird eingeführt, um die Flaschen zu wechseln und<br />
den unter Muskelkrämpfen Stöhnenden menschlichen Trost und Hilfe zu geben. Es ist<br />
klar, wir stehen in der Mitte einer gehe<strong>im</strong>nisvollen Epidemie. <strong>Ein</strong>e Ansteckung ist es<br />
nicht. Es sind Ukrainer und Russen erkrankt, die schon vor uns da waren, Juden aus<br />
unserer Gruppe, doch hörten wir von keinem Erkrankungsfall unter der<br />
Bewachungsmannschaft oder <strong>Lager</strong>leitung. Es muß an unseren Lebensbedingungen<br />
liegen, denn Bakterien machen keinen Halt. Das Wasser kann es auch nicht sein, das<br />
trinken alle, auch nicht das Brot. <strong>Ein</strong>e Mangelkrankheit dieser Art ist uns nicht bekannt.<br />
Was uns von den anderen unterscheidet, ist die Ernährung mit den Futtererbsen. Die<br />
Gelähmten unter den Russen und Ukrainern aßen sie schon länger und sind als erste<br />
erkrankt, und unter uns sind es die Jungen, die größten Esser, die aus Gefängnissen und<br />
Straflagern kamen, ausgehungert die zurückgebliebenen Portionen und Reste<br />
verschlangen, die als erste der Epidemie zum Opfer fielen. Unter den Frauen sind<br />
weniger und leichtere Erkrankungsfälle. Je länger und je mehr einer ißt, desto schwerer<br />
wird sein Zustand. Es muß die Erbsenkost sein. Erst einmal die Erbsen untersuchen nach<br />
Be<strong>im</strong>engungen, Verunreinigungen, Gemisch mit anderen Früchten, schwarzen,<br />
73
pilzdurchwachsenen Körnern von Ergot oder absichtlichen, willkürlichen Zugaben. Es<br />
sind einige dunkle Samenkörner, Pflanzenfasern, Steinchen zu finden, nichts<br />
Verdächtiges. In der Erinnerung gibt es Pflanzengifte in Hülsenfrüchten, die ähnliche<br />
Krankheitsbilder hervorrufen. Versuche, diese durch 3 Stunden längeres Kochen zu<br />
zerstören, Karenztage ohne Erbsen für Gefährdete einzuhalten, waren nicht beweisend.<br />
Solche, die vor acht Tagen schwere Reflexsteigerungen aufwiesen, sind heute gelähmt.<br />
Also die Erbsen selbst. Sie sind eine besondere Art, größer, ungleichmäßig geformt,<br />
kantig, nicht unsere gute Gemüseerbse, pisum sativum. Wir essen Gift und werden daran<br />
zu Grunde gehen. Es muß sofort etwas geschehen.<br />
Wie steht es um uns, wie sieht es <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> aus? Jeder der 7 Ärzte übern<strong>im</strong>mt die<br />
Untersuchung einer Gruppe von 100 bis 200, Moritz die Ukrainer. Wir fragen und<br />
untersuchen nach <strong>im</strong>perativem, häufigem Urindrang, Muskelkrämpfen, Reflexen und<br />
Gehstörungen. Die Resultate sind verheerend. Über 70% aller Insassen zeigen Zeichen<br />
oder Vorzeichen der Erkrankung.<br />
Wir sitzen zu Rate, diesmal gehören auch die Ärzte zum Kommittee <strong>im</strong> ersten<br />
Stock. Wir erklären, fassen zusammen, begründen unsere Vermutungen über die Ursache<br />
der alarmierenden Situation. Wir sind uns einig. Es besteht die Gefahr der Vernichtung.<br />
Wir müssen die <strong>Lager</strong>leitung unter höchsten Druck setzen, wir müssen das<br />
Zentralkommittee in Bukarest alarmieren, die offiziellen Behörden benachrichtigen und<br />
vor den Folgen warnen.<br />
<strong>Ein</strong>e Delegation zum diensthabenden Kommandanten des <strong>Lager</strong>s, Hauptmann<br />
Buradescu, geht ab. Wir sind 3 Ärzte, und ich soll das Wort führen. In ernster Form<br />
schildere ich die verzweifelte Lage, Hunderte vollständig und teilweise Gelähmter,<br />
hilflos, bei einer Raumtemperatur von unter 0 Grad Celsius, ohne <strong>Lager</strong>stätte, Strohsack,<br />
Decken <strong>im</strong> schweren russischen Winter, schrecklicher Hunger, gemildert durch<br />
ungenießbares Brot und seltene Zugaben vom Fleisch eines gefallenen Pferdes. Ich<br />
erkläre ihm, daß wir Gefangene in einem <strong>Lager</strong> in einer Kriegszeit seien, daß wir durch<br />
Bombenangriffe, Epidemien vernichtet werden können, daß jedoch es gegen das<br />
Völkerrecht und Pflicht des Staates sei, uns bewußt zu vergiften. Im <strong>Lager</strong> sind bereits<br />
120 vollständig Gelähmte und über 1000 am Wege dazu. Ursache ist die Ernährung mit<br />
einer giftigen Erbsenfrucht. Diese Nahrung ist sofort abzusetzen und eine andere Art von<br />
74
Ernährung einzuführen, medizinische Hilfe, Medikamente, Überführung in<br />
Krankenhäuser für die schwersten Fälle ist unmittelbar notwendig. Er hört mit<br />
verkniffenem Gesicht ruhig zu und äußert am Ende ganz kurz: “Woher weißt du, daß wir<br />
an der Erhaltung eures Lebens interessiert sind?” Die Vorsprache ist damit zu Ende.<br />
Im Kommittee wird beraten und beschlossen, Appelle dringender Natur mit<br />
Schilderung der Lage in alle Richtungen auszusenden. In krasser Form und mit vielen<br />
Superlativen wird der Ausbruch der Epidemie, das rasche Umsichgreifen, die<br />
Verkrüppelung beschrieben und sofortige Hilfe zur Errettung gefordert. Wahr und richtig,<br />
doch, wende ich ein, diese Worte werden in einem Meer des Elends, nach einem Winter<br />
1941/42 mit hunderttausenden von Opfern, Epidemien, Massengräbern, Erschießungen<br />
jenseits des Bugflusses verhallen. Trocken und klar ist auszuführen: Wir brauchen<br />
dringend 500 Paar Krücken und 50 Wägelchen für Gelähmte. Wir brauchen B- und C-<br />
Vitamine in großen Mengen, Nahrungsmittel, Salben und Verbandstoffe für<br />
Druckgeschwüre und Brandwunden. Kommt dies nicht bald, so wird unser <strong>Lager</strong> mit den<br />
vielen, z.T. allgemein bekannten Insassen leer werden und nur ein paar Krüppel<br />
zurückbleiben. Sie sehen es ein, das ist klarer und spricht an. Die Appelle gehen auf<br />
Wegen und Umwegen ab. Die an das <strong>Lager</strong>kommando zur Weiterleitung übergebenen<br />
Gesuche und Telegramme werden uns nach 10 Tagen mit dem Vermerk<br />
“Zurückzustellen” durch die <strong>Lager</strong>representanten zurückgeschickt.<br />
Die Situation <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> wird inzwischen noch schwerer. Im großen Saal der<br />
Infirmerie sind alle Pritschen voll und jetzt auch schon die Zwischenräume belegt. Es ist<br />
sehr kalt. Um den kleinen Blechofen sitzen die noch Beweglichen <strong>im</strong> Kreise, halten die<br />
Hände über die Wärme ausstrahlende Deckplatte, die Beine hüpfen <strong>im</strong> Dauertremor. Sie<br />
stützen sich <strong>im</strong> Gehen auf Stöcke, fallen und versuchen weiter. Es sind bei vielen neue<br />
Erscheinungen aufgetreten, Blasen an den Zehen, an den Fersen und am Fußrand, dunkle<br />
Blasen, die sich öffnen und nässen. Die Füße sind blaß, kalt und gefühllos. Bei einigen<br />
ist die Verfärbung bis zum Knie aufgestiegen, und die Zehen sind brandig geworden. Sie<br />
werden fiebrig, die Füße blau, wund, eitrig. Sie litten an ungeheueren Schmerzen und<br />
starben an aufsteigendem Brand. Andere verloren Zehen und behielten ihre Beine. Es war<br />
ein höllenhaftes, nicht ausmalbares Bild, hunderte Kranke, Gelähmte, gangränöse Beine,<br />
Urinabgang bevor die Fässer erreicht wurden, verkrümmte Haltungen durch<br />
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Muskelkrämpfe in Armen, Rücken, Bauch und Beinen und dazu noch das traurige,<br />
naturgemäße Geschehen des Absterbens der Alten, Tuberkulösen, Zuckerkranken, die der<br />
Eschöpfung nicht gewachsen waren. Die Versorgung einer stinkenden Gangränwunde,<br />
Erwärmung einer kalten, blutlosen Extremität, die <strong>Lager</strong>ung eines Gelähmten und<br />
Reinigung seines <strong>Lager</strong>s von Exkrementen waren unlösbare Probleme.<br />
Schließlich kam doch eine Inspektion von der Außenwelt. Am 16. Januar 43 traf ein<br />
Regierungsrat vom Gouvernement in Odessa zur Routine-Inspektion wegen der<br />
Fleckfiebergefahr <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> ein. Es wurden ihm Kranke und Gelähmte vorgeführt. Er<br />
erfaßte die Situation, sprach einigermaßen menschlich mit uns und versprach die<br />
Entsendung eines Nervenarztes zur fachmännischen Untersuchung für die allernächste<br />
Zeit.<br />
Wir kämpften weiter für die Erhaltung des Lebens, flößten den Kranken<br />
eingeschmuggelte Nahrung, Milch in kleinen Mengen, Brot, Maisbrei ein, verbanden mit<br />
reinen, gekochten Fetzen die Wunden und sprachen Mut zu. Nur Leben erhalten, alles<br />
andere ist reversibel. Aus einem schmalen Schatten kann ein Normalmensch regeneriert<br />
werden, kann ein nützlicher Mensch für sich und seine Familie erhalten bleiben.<br />
Die Erbsen gingen zum großen Teil in die Küche zurück, kein Streik, doch<br />
Enthaltsamkeit bis zum Äußersten. Erst Ende Januar wurden uns Säcke mit Trockenobst<br />
und versch<strong>im</strong>melten Schweinekartoffeln anstelle der Erbsen ins <strong>Lager</strong> gebracht. Anstelle<br />
des Giftes trat Hunger.<br />
Am 30. Januar 43 traf der Nervenarzt ein, sah flüchtig einige der Gelähmten, hatte<br />
den <strong>Ein</strong>druck einer Virusinfektion und verlangte Liquorproben und genaue Tabellen mit<br />
Personalangaben, Vorgeschichte und Befundaufnahmen. <strong>Ein</strong>e Liste von 117 Gelähmten<br />
mit den gewünschten Angaben und 4 Liquorproben wurden am 4. Februar übermittelt,<br />
begleitet von einer Denkschrift der internierten Ärze, des Inhaltes, daß die Giftwirkung<br />
der als Nahrung verabreichten Futtererbse die alleinige Ursache der Erkrankung sei und<br />
eine Infektion nach epidemiologischen Gründen, Ausbreitung und Verlauf nicht in Frage<br />
komme. <strong>Ein</strong>e Probe der giftigen Frucht wurde beigeschlossen mit der Bitte um<br />
Identifizierung, Untersuchung und um Mitteilung der Resultate und der<br />
Gegenmaßnahmen. Briefe und Appelle gingen weiter auf jedem möglichen Weg und an<br />
jede maßgebende Stelle ab.<br />
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Irgendwo haben unsere Berichte eine Stelle erreicht, die begriff, daß hier ein<br />
außergewöhlicher Zustand besteht, nicht Flecktyphus, nicht Hungerödem, sondern<br />
merkwürdige Lähmungen in Massen, und schließlich kann es doch eine Epidemie sein,<br />
die die Bevölkerung und die eigenen Truppen ergreift. Das ist schon großen Feldherren<br />
passiert und hat sie zur Aufgabe ihrer Ideale gezwungen.<br />
Und dann, am 22. Februar 43, erschien eine richtige ärztliche<br />
Untersuchungskommission <strong>im</strong> <strong>Lager</strong>, geführt von dem Nervenarzt, der am 30. Januar hier<br />
war, in Begleitung eines zweiten <strong>Arzt</strong>es in Hauptmannsuniform, mit Laboranten,<br />
Mikroskop, Meerschweinchen, Mäusen und sterilen Gefäßen. <strong>Ein</strong>e Reihe von Kranken<br />
wurde neurologisch untersucht, Blut- und Urinproben abgenommen, Liquor und Serum<br />
den Versuchstieren eingespritzt. Sie trafen alle Vorsichtsmaßregeln wie bei <strong>Ein</strong>tritt in ein<br />
infektiöses Epidemiegebiet, Nasensalbe, Maske, Mäntel, Subl<strong>im</strong>atdesinfektion. Das<br />
Gespräch mit den internierten Ärzten war sehr einseitig. Wir waren Ausgestoßene, <strong>im</strong><br />
besten Fall Untermenschen. Immerhin sprechen wir die Sprache der Ärzte und bemerken<br />
mit der nötigen Vorsicht, daß alles gegen eine infektiöse Erkrankung und für einen<br />
Nährschaden spricht, bringen auch 4 Fälle von symmetrischer Gangrän zur<br />
Untersuchung. Wir geben ihnen wieder eine Probe der Futtererbse mit, eine ergänzende<br />
Liste der inzwischen neu Erkrankten, ein Gesuch an die Behörden, uns Nahrung,<br />
Vitamine, entgiftende Medikamente, Betten, Decken und Krücken zu schicken. Unsere<br />
Bemerkungen scheinen doch einigen <strong>Ein</strong>druck gemacht zu haben. Die Erbsenproben<br />
werden mitgenommen. Die unmittelbare Antwort ist abweisend. Was wisset ihr von den<br />
Formen der Myelitis. Habet ihr eine Ahnung davon, daß der Liquor von Schizophrenen,<br />
Versuchstieren injiziert, toxisch ist? und noch ein paar ähnliche, etwas hochmütige und<br />
abweisende Belehrungen. Es heißt schweigen, nicht debattieren. Die Tatsache, daß sie<br />
kamen, bedeutet doch schon einen gewaltigen Fortschritt. Sie beendigten ihre Arbeit,<br />
legten Masken und Mäntel ab, verpackten Liquor- und Urinproben für weitere<br />
Untersuchungen und verschwanden. <strong>Ein</strong>e Nachricht über die Resultate haben wir nie<br />
bekommen.<br />
Im <strong>Lager</strong> herrscht Hunger. Das schlechte Trockenobst ist ohne Nähr- und<br />
Sättigungswert, und die kleinen faulen Kartoffeln, in der Schale gekocht, um Abfall zu<br />
vermeiden, schmecken wie schmutzige Erde. 40 Pferde, die erkrankt oder verkrüppelt<br />
77
von den Trainkolonnen ausgeschieden waren, wurden uns zugesprochen. Unser Tierarzt,<br />
den wir das Pferd riefen, bekam eine wichtige Funktion, täglich ein altes und ein junges<br />
Pferd auszuwählen, zu schlachten und die Zerlegung zu überwachen. Dabei mußte er auf<br />
die Hygiene achten und auf die Psychologie unserer <strong>Lager</strong>freunde Rücksicht nehmen.<br />
Wenn das Pferd auf die Hinterfüße fiel, dann blieb viel gestockes Blut <strong>im</strong> Kadaver, und<br />
die Suppe wurde schwarz und von vielen verweigert. Alle Teile wurden verbraucht und<br />
gerecht verteilt, nur der Kopf mit seinen großen Kiefern in der Suppe erregte<br />
Assoziationen, manche begannen zu wiehern, andere hatten Ekelgefühle, und wir lernten,<br />
auf diese Knochen zu verzichten. Das alles war viel zu wenig. Für den Ankauf<br />
eingeschmuggelter Lebensmittel fehlte das Geld, das Wenige wurde auf die am<br />
schwersten Erkrankten verteilt. Das Brot war Gerste und Häcksel, hatte tiefe Sprünge und<br />
zerbröckelte be<strong>im</strong> Schneiden. Auch von der kleinen Ration wurde durch die Soldaten<br />
gestohlen und uns für Geld verkauft. Manchmal näherte sich mir der Tierarzt<br />
gehe<strong>im</strong>nisvoll, zog aus der Tasche ein Stückchen Leber und steckte es mir in den Mund.<br />
Roh gegessen gab es einem das Gefühl einer Durchströmung von vermehrter Kraft und<br />
Ausdauer. Es war schon sehr schwer, sich auf den Beinen zu halten. Doch die Disziplin<br />
kam irgendwie von oben und blieb unter den düstersten Umständen erhalten.<br />
<strong>Ein</strong>mal kam auch kirchlicher Besuch. Wir wurden aufgefordert, uns zu reinigen und<br />
eine Inspektion durch einen kirchlichen Funktionär zu erwarten. Gegen 11 Uhr standen<br />
wir zu beiden Seiten Spalier. Wieder gab es eine Beratung <strong>im</strong> ersten Stock, wer soll<br />
sprechen, was sagen, welche Bittschriften überreichen, und wieder suchte ich zu dämpfen<br />
und kam damit durch. Nichts sagen, nichts erbitten, nur stumm demonstrieren. Wir stehen<br />
alle ruhig, auf Krücken und Stöcke gestützt, alle Kranken, die zur Not noch gehen<br />
können, lassen ihn durchgehen, und auf ein gegebenes Zeichen heben sie die Stützen vom<br />
Boden ab. Er trat zwischen den Reihen ein, der Tracht nach ein hoher katholischer<br />
Priester, winkte gnädig mit wohlwollendem Gesichtsausdruck nach rechts und links, und<br />
<strong>im</strong> gegebenen Moment begann ein Fallen und Durcheinanderstürzen der vielen Menschen<br />
mit Stöcken und Krücken hoch in die Luft gehalten, ein grausames Bild. Er wich zurück,<br />
sah sich um, hielt die Hand vor seine Augen und schritt rasch durch den von den Soldaten<br />
freigehaltenen Weg zum Ausgang. Auch von ihm haben wir weiter nichts gehört.<br />
78
Inzwischen traten wir in den Monat März, längere Tage, einzelne Sonnenstunden,<br />
weniger neue Lähmungsfälle und ein leichtes Auftauen der erstarrten Glieder. Es gab<br />
sogar einige, die, von der Kältestarre erlöst, die Pritschen verlassen und herumhumpeln<br />
konnten. Der Höhepunkt der Epidemie war offensichtlich überschritten. Nur die ersten,<br />
die schwersten, blieben steif und unbeweglich. Jeder Fortschritt wurde lebhaft begrüßt,<br />
besprochen und flößte den anderen Mut ein. Die bedrückende St<strong>im</strong>mung hellte sich leicht<br />
auf, ein fröhlicheres Wort war zu vernehmen. Man begann wieder, von Wunschträumen,<br />
von Kommissionen, von Aussichten auf Befreiung der unschuldig Verdächtigten zu<br />
sprechen. Es kamen auch Medikamente für uns aus dem Land. Zwei Siebenbürger-<br />
Gemeinden zeichneten sich besonders aus. Wir bekamen Vitaminpräparate, Kalzium-<br />
Ampullen, Schmerzstillungs- und Gefäßerweiterungsmittel. Symbolisch oder echt, das<br />
Gefühl, das etwas geschieht, war beruhigend. Nur die Ernährungslage blieb schwer. Die<br />
Erbsen enthielten einen kalorischen Wert und ein Gift, die Abfallkartoffeln und das Brot<br />
waren ungenießbar und die 50g Trockenobst pro Kopf wertlos. Es herrschte Hunger <strong>im</strong><br />
<strong>Lager</strong>.<br />
Doch auch die <strong>Lager</strong>leitung zeigt jetzt mehr Interesse für die Kranken. Sogar der<br />
Kommandant der Region besucht die Infirmerie, gestattet die Errichtung von Betten,<br />
schenkt uns in Abständen 3mal einen Hammel, das sind 20kg Hammelfleisch, für die<br />
Kranken und läßt einige Male die am <strong>Ein</strong>gangstor konfiszierte Butter, Zwiebeln und<br />
Mehl in die Infirmerie überführen. Das ist alles, was von den offiziellen Behörden<br />
geschieht. Die Selbsthilfe ist tätig. Zwei Gemeinden, Arad und Temesvar, schicken<br />
reichlich wertvolle Lebensmittel, auch Decken, Polster, Kleidungsstücke, und ein Teil<br />
erreicht uns und bringt greifbare Erleicherung.<br />
<strong>Ein</strong>zelfälle von Lähmungen erscheinen <strong>im</strong>mer noch zur Aufnahme und Pflege. Sie<br />
rekrutieren sich aus der Gruppe von Kranken, die vorher viel an Harnblasenstörungen<br />
und Muskelkrämpfen gelitten hatten, sind wohl eine Fortsetzung oder Steigerung der<br />
Giftwirkung. Neue Lähmungsfälle bei vorher ganz Gesunden kommen jetzt nicht mehr<br />
hinzu, ein Beweis für die Erbsenfrucht als Ursache. Unter den Spätfällen sind relativ<br />
mehr Frauen.<br />
Dunkle Blasen an Zehen, Fußrand und Fersen, blauviolette Verfärbung der Füße,<br />
Gefühllosigkeit der Zehen treten trotz der besseren Wetterlage noch reichlich neu auf.<br />
79
Überlebende Frühfälle von Beingangrän sind abgegrenzt und stoßen abgestorbene Zehen<br />
und Zehenteile allmählich ab.<br />
Im März 1943 kam auch die Erkenntnis. <strong>Ein</strong> Russe, ein gewesener Agronom, weiß<br />
über die Erbse zu berichten. Er nennt sie in seiner Sprache Tschina. Sie wurde den<br />
Schweinen mit Gerste, Kleie und Mais gemischt als Futter gegeben. Menschen aßen sie<br />
nicht. Auch Schweine und Pferde vertrugen sie in Mischung nur bis zu 50%. Die<br />
Futtererbse wurde in der Gegend gepflanzt anstelle der anspruchsvolleren Sojabohne, da<br />
sie auf jedem Boden gedeiht, und da die Frucht gegen Parasiten resistent ist. Nach Abzug<br />
der Armee blieben große Mengen in den Kolchosen zurück, während wertvolle<br />
Nahrungsmittel mitgenommen oder vernichtet wurden. Das war die Quelle unserer<br />
Nahrung.<br />
Dann kam als Resultat unserer Berichte an die Außenwelt durch einen <strong>Arzt</strong> und<br />
Freund die Abschrift einer Arbeit aus dem 13-bändigen Handbuch der Neurologie aus<br />
dem Jahre 1936, durch Boten eingeschmuggelt, in unsere Hände. Wir wissen nun, daß<br />
wir lathyrus sativus-Früchte gegessen haben und an Neuro-Lathyrismus erkrankt sind.<br />
Der Author, Hofrat Schlesinger, faßt ausführlich die Beriche von Hippokrates bis in die<br />
zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen, die Exper<strong>im</strong>ente an Mensch und Tier, die<br />
Erfahrungen in den Kabylendörfern, wo alle Männer auf den Knien rutschen, in Algerien,<br />
wo alle mit den Lähmungen Spontangangrän bekamen, in den Hungerjahren in Indien<br />
und zuletzt in Rußland, in Saratow, gegen Ende des Jahrhunderts. Hunger und<br />
Lathyrismus gingen <strong>im</strong>mer zusammen. In unserem Jahrhundert gab es keine Epidemie<br />
dieses Ausmaßes. Die Krankheitserscheinungen, die Abhängigkeit von der Menge der<br />
genossenen Frucht, von der Dauer der <strong>Ein</strong>nahme und der Resistenzherabsetzung durch<br />
Hunger und Kälte, die Vorzeichen der Erkrankung als Muskelkrämpfe in allen<br />
Körperteilen und Störungen der Harnblasenfunktion, die symmetrische Gangrän der<br />
Beine und schließlich das Endbild der schweren, unheilbaren Lähmung st<strong>im</strong>men mit den<br />
Schilderungen überein.<br />
Und <strong>im</strong> März erscheint wirklich auch die lang erträumte politisch-juridische<br />
Kommission aus dem Lande mit Vertretern der Gehe<strong>im</strong>polizei, des Innenministeriums<br />
und des obersten Kriegsgerichtes. Am ersten Tag wird ihnen, den Nichtärzten, mit<br />
dramatischer Wucht eine Reihe von Gelähmten und gangränösen Beinkrüppeln<br />
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vorgeführt. Der <strong>Ein</strong>druck ist niederschmetternd. Sie verlangen und erhalten eine Liste<br />
von 600 Kranken, 140 vollständig Gelähmten und 15 schwer durch Gangrän<br />
Verunstalteten. Sie übernehmen Gesuche an die verantwortlichen Gendarmerie-<br />
Behörden, an die Judenzentrale um Wägelchen, Betten, Verbandzeug, Nahrungsmittel<br />
und Medikamente und versprechen die Weiterleitung. Sie empfangen Deputationen <strong>im</strong><br />
Beisein der <strong>Lager</strong>- und Ortskommandanten und lassen sogar uns Ärzte dabei sein. Die<br />
Kranken fühlen, daß eine Wendung eingetreten ist, daß etwas <strong>im</strong> Gange ist, sind uns, den<br />
Ärzten, dankbar und erscheinen nacher mit Danksagungen und Überbringung von<br />
handangefertigten, aus Tellern geschnitzten kleinen symbolischen Geschenken und<br />
Zeugnissen ihrer Zeichenkunst.<br />
Sie blieben 3 Tage. Wir erfuhren, daß Dokumente durchgesehen werden,<br />
Beratungen stattfinden. Wunschgedanken und Hoffnungen verdrängten die Apathie;<br />
Hunger, Durst und Schmerzen wurden leichter ertragen. Wir hörten von Listen, von<br />
Gruppen, von Befreiungen. Dann reisten sie ab und hinterließen uns in zweifelhafter<br />
St<strong>im</strong>mung. Wer wird dabei sein? Wer wird frei kommen, werden wir zu unseren<br />
Familien zurückkehren können?<br />
Der schwere Winter war vorbei, April gab mehr Wärme und einigen Regen, und <strong>im</strong><br />
Mai kam der Auftrag. <strong>Ein</strong>ige Hunderte von uns, in drei Gruppen verteilt, werden das<br />
<strong>Lager</strong> Vapniarka verlassen und in drei Dörfer <strong>im</strong> Deportationsgebiet überführt. Wir sind<br />
die erste Gruppe, und unser Best<strong>im</strong>mungsort ist das Ghetto Oligopol. Wir bekommen<br />
Gelähmte mit, doch <strong>im</strong> Durchschnitt weniger als uns zukommt, denn die, die vorher in<br />
Arbeitslagern und Gefängnissen saßen, erkrankten in bedeutend größerem Ausmaß, und<br />
gerade diese werden <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> zurückbehalten.<br />
81
Im Ghetto<br />
Im Frühling 1943 öffneten sich die Tore des <strong>Lager</strong>s für drei kleine Gruppen, nicht<br />
zurück in die He<strong>im</strong>at, doch in Ghettos in Bezirken, in welche (mit der Endlösung) alle<br />
Juden gebracht werden sollten. Dort können wir auf unsere Familien warten. Immerhin,<br />
es bedeutet mehr Freiheit, eine neue Art des Lebens. Wir werden Angst und Spannung<br />
abschütteln, Hunger und Durst vergessen, unsere Fähigkeiten und Kenntnisse aktiv<br />
einsetzen, Dörfer, Städte, Menschen sehen, mit russischen Menschen zusammentreffen.<br />
Im <strong>Lager</strong> sahen wir nur Mannschaft und Stacheldraht, auf der langen Fahrt <strong>im</strong><br />
Viehwagen waren wir zu hungrig, schmutzig und stumpf, um an die Umgebung zu<br />
denken.<br />
Über den Abschied in gehobener St<strong>im</strong>mung mit Reden, Gesang, großen Worten und<br />
auch Tränen erzählt das Tagebuch. Der Oberst in Person erscheint am Bahnhof, gibt<br />
Instruktionen, <strong>Ein</strong>waggonierung in 2 offene Lastwagen und Abfahrt. Stundenlanges<br />
Herumsitzen in Rudniza. In Tschitschelnik, wo die Kleinbahnfahrt endet, sehen wir<br />
Ghettojuden, zerlumpt, verängstigt, an die Hauswände gedrückt. Die Nacht <strong>im</strong> Waggon,<br />
ausgetrocknet, schmutzig und müde, dann der graue nächste Tag und endlich mittags mit<br />
Wägelchen voll Gepäck am Weg nach Oligopol.<br />
Niedrige, schiefe Ghettohäuschen, Strohdach, winzige Fenster, halbnackte,<br />
schmutzige Judenkinder, deklassierte Juden, betrunkener Bürgermeister, übermütige<br />
Gendarmen, Schmutz, Elend, Kulturrückstand. Wo sind die Spuren 23-jähriger<br />
Sowjetarbeit, kein gemauertes Haus, kein Klosett, außer guten Ortsstraßen alles elend.<br />
Herr des Ghettos ist ein Sergeant, der den wilden Mann spielt, der Ortsarzt, ein alter<br />
Russe mit großem Schnurrbart, hält sich abseits, der Judenarzt, ein bessarabischer jungr<br />
<strong>Arzt</strong>, der um seine Stelle mit 50 RM zittert, eine Apotheke ohne Medikamente,<br />
Stacheldraht um ein Elendsviertel = Ghetto, doch Nahrungsmittel erreichbar.<br />
Die erste Nacht <strong>im</strong> kalten Tempel, ohne Fenster, die Decke abgestützt, eine Wand<br />
weit offen, der Boden vom Regen feucht. Am nächsten Tag beginnt die Suche nach<br />
Unterkunft <strong>im</strong> Ghetto. Kontakt mit betrunkenen Honoratioren, Gemeindesekretär,<br />
Bürgermeister, Agronom, die Ehrbezeugung, Gruß und Respekt verlangen. Drei zerstörte<br />
Gebäude werden ausgesucht und mit der Ausräumung des Schuttes begonnen.<br />
82
Die Nacht zum 1. Juni <strong>im</strong> Vorraum eines <strong>Ein</strong>geborenenhäuschens. Die Frau ist<br />
einfach, doch klug, erzählt über jetzt und vorher, der Mann und die Brüder weit weg in<br />
der Armee, ein Leben in ständiger Not, stundenlanges Anstellen um Lebensmittel,<br />
Fahrten ins Donbas um ein Stück Leinwand, Autobiographie, die nach Jahren<br />
Lebensstellungen zerstört. Enttäuschung in den Gesichtern der Zuhörer. Doch sie erklärt:<br />
alles geschah nur für die Armee. Die guten Elemente ziehen fort, in die Städte. Die<br />
Jugend, die blieb und heranwächst, ist ungebildet, verwahrlost. Trotzdem, der Abgrund<br />
zwischen Theorie und Praxis ist zu scharf.<br />
Die <strong>Ein</strong>he<strong>im</strong>ischen, Ghettojuden, erwarten rasche Taten, wir sind bedacht,<br />
diszipliniert, abwartend. Wir studieren die Machthaber und schätzen sie ein. Die Herren<br />
<strong>im</strong> Dorfe sind der Prätor, der Postenchef und der Chefagronom. Sie haben viele schlechte<br />
Eigenschaften, wie Brutalität, Gier nach allem, Pr<strong>im</strong>itivität, Bildungsmangel, doch zwei<br />
gute, die Sucht nach Geld und Geldwerten und die Angst vor Krankheit. In ihrer He<strong>im</strong>at<br />
waren sie schlecht angeschriebene, unzuverlässige, unerwünschte Elemente, und deshalb<br />
wurden sie weit weggeschickt und isoliert. Hier waren sie die Herren der Schöpfung, die<br />
Machthaber über Leben und Tod für <strong>Ein</strong>he<strong>im</strong>ische und Verschickte. Wir konnten sie in<br />
Hinkunft beherrschen kraft der psychologischen Erkenntnis ihrer Schwächen, und sie<br />
taten uns weniger Übel als manche der eingeborenen Ortsautoritäten.<br />
Schon eine Woche sind wir hier. Die üblichen Bekanntschaften mit überheblichen<br />
Gendarmen, Ortshonoratioren sind uns gewohnt, sie verlangen alle Gruß und Respekt,<br />
dahinter steckt Bestechung durch Münze. Die schiefen, strohgedeckten Häuschen,<br />
einzelstehend und aneinander gelehnt, gestützt, mit niedrigen Z<strong>im</strong>merchen werden uns<br />
langsam vertraut. <strong>Ein</strong>e gewisse Lebensform beginnt. <strong>Ein</strong>e Kantine wird eingerichtet und<br />
mit Lebensmitteln versorgt. Wir müssen uns eine Existenzbasis verschaffen, nicht mit<br />
Hilfe der Ansässigen, sondern für uns und für die Ansässigen. Wir sehen uns um, denken<br />
an Erzeugung von Seife, Wurst, Glukose, Medikamenten. Die kleinen Erpressungen sind<br />
tragbar, jedoch auch größere sind unvermeidbar. Der Prätor wurde nicht gegrüßt! Er läßt<br />
10 Leute aufschreiben für ein Jahr Waldarbeit. Das kostet schon mehr.<br />
Doch über allem schwebt der Angstschrei der Toten. In diesem Tempel ohne<br />
Fenster, mit geborstenem Dach, sind hunderte Tote gelegen, wurden auf Wagen<br />
verladen, nackt ausgezogen von Juden und anderen, und zum Verscharren geführt. Durch<br />
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diese kleine Ortschaft wurden Tausende getrieben und mit Absicht so gejagt, daß sie<br />
Koffer und Pakete wegwerfen mußten, um ihren Körper den Prügeln zu entziehen. Die<br />
Gepäckstücke verschwanden in den Häusern der <strong>Ein</strong>he<strong>im</strong>ischen und in den Z<strong>im</strong>mern der<br />
Juden. Juden-Repräsentanten wurden zu Kompagnons der Gendarmen. Traurig, wie weit<br />
das Absinken zu menschlichen Urtrieben gehen kann. Auf den Hügel be<strong>im</strong> Ort wurden<br />
Hunderte hinaufgeführt, erschossen und begraben, sinnlos vernichtete Menschenleben<br />
wegen des bißchens verbliebener Habe. Geblieben ist die Angst vor der Uniform bei den<br />
in den niedrigen Stuben eingepferchten Menschen.<br />
Die ganze Gegend ist mit jüdischem Elend getränkt. Der kleine Gittelmann, ein<br />
Ansässiger, der sich seine Würde erhalten hat, war <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> Vartujeni in Haft. Dort war<br />
unser alter Bekannter, Hauptmann Buradescu, Kommandant. <strong>Ein</strong> Glas Wasser kostete<br />
einen Ring, eine goldene Uhr, Erpressung um jeden Dreck. Bei uns <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> spielte er<br />
den kalten Sadisten. Die Truppe, die gestern hier durchzog, sah uns mit scheelen Augen<br />
an. “Wenn die hier bleiben, erschießen wir sie auch,” war eine Bemerkung, und die<br />
Offiziere dieser Truppe sind den <strong>Ein</strong>he<strong>im</strong>ischen bekannt. Vor einem Jahr ließ sich der<br />
Kommandant für den Abend 2 junge Jüdinnen kommen. Sie waren, wie alle, verlaust. Er<br />
ließ sie deparasitieren. Sie behielten beide einen gemischten Schanker und blieben krank.<br />
Unter den Ortsgendarmen sind noch 3, die die böse Zeit miterlebten. Da hieß es: Führ’<br />
ihn in die Familie des Popen. Das bedeutete ausziehen, Schaufel auf den Rücken,<br />
erschießen. Diese leben heute noch in alter Form. <strong>Ein</strong>er läßt 30 Frauen zur Arbeit auf<br />
seinem Anwesen ausheben, läßt sie seinem Wagen nachlaufen, peitscht die Pferde,<br />
einfach aus tierischem Übermut. Diese Umgebung macht das Individuum zum Freiwild.<br />
Der Mensch kann allem Widerstand aus Selbsterhaltungstrieb gegenübersetzen, Prügel,<br />
Deportation, Entbehrungen, Krankheiten waren zu überwinden. Der Kampf ums Leben<br />
hört jedoch (<strong>im</strong> Moment) auf, wo einem eine Kugel in den Bauch geschickt wird. Dieses<br />
Argument ist zu stark, läßt alles erlöschen. Die 3 Gendarmen, Überbliebene der<br />
Soldateska von gestern, aus der Blutzeit, wo die Wägelchen täglich ausgeschickt wurden,<br />
um die Toten vom Wegrand aufzuklauben, sind noch in Funktion. Sie sind für uns und<br />
für alle gefährlich. Sie haben eine Gruppe vom Wasser abgeschnitten. Der Offizier hat<br />
das Trinken verboten. <strong>Ein</strong> Kind hat vor Durst geschrieen. <strong>Ein</strong> Mann ist bis ans Wasser<br />
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gegangen, und da haben sie ihn erschossen. Das Kind ist gestorben. Unfaßbar, nicht mehr<br />
Übermut, Enthemmung, Sadismus.<br />
Der ukrainische Bürgermeister hat uns die 3 zerstörten Häuschen angewiesen. Der<br />
Schutt aus dem Kellerraum wird ausgeräumt, die Wände werden repariert und gekalkt,<br />
der Fußboden abgekratzt, nur bald heraus aus dem nassen Tempel und dem kalten,<br />
fauligen Strohlager. Fachleute gibt es unter uns einfach für alles, ungeachtet des früheren<br />
Berufes. Der Rechtsanwalt kann anstreichen, der Geflügelhändler kann Ofen setzen,<br />
wenn wir einen Seiltänzer gebraucht hätten, ich glaube, wir hätten ihn liefern können.<br />
Gruppe nach Gruppe verlassen wir die Synagoge. <strong>Ein</strong>e unsichtbare Hand sorgt dafür, daß<br />
keine in sich geschlossenen Kreise entstehen, und daß Vertrauensleute in jedem Raum<br />
mitwohnen. Wir bekommen den langen Seifensieder aus Siebenbürgen ins Z<strong>im</strong>mer. Wir<br />
bleiben 7 Männer <strong>im</strong> Vorderraum und 4 Frauen <strong>im</strong> Hinterz<strong>im</strong>mer. Diese <strong>Ein</strong>teilung ist<br />
die Regel und dient zum Schutze der Frauen bei eventuellen Überfällen. Die 4 Frauen<br />
sind wieder reichlich gemischt worden. Unsere Dola ist dabei, die kleine Paula aus Jassy<br />
mit ihrem Kinderlachen und Grübchen in einer Wange und Cillika, die rote, dicke Kleine,<br />
die noch <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> fiel und den Fuß brach. Das Fußgelenk war steif geblieben trotz aller<br />
Massage und Übungen. Sie hinkt, leidet an Schmerzen, geht daher wenig, n<strong>im</strong>mt deshalb<br />
noch mehr zu und wird so <strong>im</strong>mer schwerfälliger. Die 4. ist eine feste, einfache Frau, die<br />
keine Sprache richtig sprechen oder gar schreiben, dafür aber richtig arbeiten kann. Wir<br />
bekommen 3 Pritschen, die für 6 von uns Schlafraum bieten, und eine lange<br />
<strong>Ein</strong>zelpritsche für den Seifensieder. Die Mädchen ließen sich eine breite Pritsche für alle<br />
4 anfertigen, legten ein paar Decken und Deckchen darauf, und schon sieht es in ihrem<br />
Raum wohnlich aus. Bei uns blieb der sachliche Charakter, so zwischen Kaserne und<br />
Gefängnis, durch Unordnung und Schmutz gewahrt. Versuche es einmal einer, in einem<br />
Raum, in dem geschlafen, gegessen, gekocht und geraucht wird, besser. Die Kleider und<br />
Lebensmittel hängen auf festen Nägeln an den Wänden, Papier ist stellenweise<br />
untergeschlagen, da der Kalkanstrich sich leicht abwischt. Der Straßenkot wird direkt ins<br />
Haus getragen. Der Holzboden wird früh mit einer Blechschaufel abgekratzt und dann<br />
erst gewaschen. Diese Arbeit übernehmen die Frauen. Zwar hätte es Logan auch gerne<br />
unserer Dola abgenommen, aber er muß sich darauf beschränken, das Wasser vom<br />
Brunnen zu holen, die Fetzen auszuwringen und durch zust<strong>im</strong>mende Bemerkungen über<br />
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unsere unerhörte Schweinerei die St<strong>im</strong>mung zu verbessern. Hie und da drückt er einen<br />
zarten Kuß auf den sich verbreiternden Hals. Der Fußboden sieht nach dieser<br />
gemeinsamen Arbeit feucht aus, ist auch sicher weniger schmutzig als vorher, doch am<br />
gleichen Tag kommt neuer Kot ins Haus..<br />
Unser Häuschen liegt am Rande des Ghettos, das nächste schon außerhalb, auch<br />
dieses ist zur Hälfte zerstört. Im Reste wohnt eine ukrainische Bauernfamilie. Er ist<br />
Kutscher be<strong>im</strong> Prätor, dem höchsten zivilen Beamten des Ortes. Seine Nase leuchtet in<br />
einem slawischen Bauernschädel vom Schweig-Typus. Sie hat ein feines Gesicht mit<br />
klaren Zügen und eine schlanke Gestalt. Im schmutzigen, langen Kleid, das ewige<br />
Kopftuch über dem gescheitelten glatten Haar, steckt sie in ihrer Hausarbeit, füttert die<br />
Ziege und ihre paar Hühner, säubert Getreide und Bohnen von Schmutzbe<strong>im</strong>engungen,<br />
oder kocht die Suppe, den Inbegriff einer jeden warmen Mahlzeit. Die Kinder hängen,<br />
wenn die Großmutter sie nicht gerade mitgenommen hat, an ihrem Rock. Die Tochter<br />
sieht mit ihren 4 Jahren wie eine Bäuerin in Miniatur aus. Sie hat des Vaters Gesicht. Der<br />
kleine Junge lernt unter unseren Augen das Gehen. Er wäre ein hübsches Kind, munter<br />
und zutraulich. Er steckt in einem zerrissenen Hemd, ist niemals von uns rein gesehen<br />
worden. Wir sahen ihn auch keinmal waschen. Der Vater ist dauernd müde, trinkt wohl<br />
auch. Sie muß fürs Essen sorgen und auch für den Winter Reserven anlegen. Den Weizen<br />
und die Sonnenblumen, die er he<strong>im</strong>bringt, säubert sie und versteckt sie an einem Ort. Die<br />
Kartoffeln, die sie <strong>im</strong> Felde hinter dem Hause gepflanzt hat, begräbt sie unter einem<br />
Baum. Das ist nun einmal sicher, das kann niemand finden. Wir werden das Versteck<br />
sicher nicht verraten. In der Hinterstube wohnt noch Lussia, eine dicke, große Person mit<br />
kreischendem Organ und hurenhaftem Benehmen. Sie wird oft von ihrer Cousine Liuba<br />
besucht. Diese ist schon ein feinerer Typ. Sie hat Schulbildung, Veterinär-Feldscher, ist<br />
Komsomolzin, sieht nett aus und kleidet sich mit den dürftigen Mitteln geschmackvoll.<br />
Sie versorgt das Haus des Prätors mit allem, was eine Frau bieten kann. Er leidet, wie wir<br />
bald erfahren, an einer besonders hartnäckigen Gonorrhöe. Er absolviert Sulfamid-Kuren<br />
in kurzen Abständen, ergänzt sie durch tägliche Spülungen und wird doch nicht gesund.<br />
Ihre Behandlung ist schwierig und durch ihren Leichtsinn erschwert.<br />
Feldarbeit, Ausrupfen von Unkraut in Weizenfeldern, und Straßenarbeit,<br />
Entfernung größerer Disteln vom Straßenrand, in unserer eigenen Gesellschaft und ohne<br />
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Gendarmen, ist einfach. Nur die Aushebung, das Geschreie und Getue der<br />
Ordnungshüter, ist ekelhaft und entwürdigend. Der Marsch, auch wenn es einige<br />
Kilometer mehr sind, in Feldern und Wiesen, die Sonne, der frische Geruch, der<br />
Vogelsang, ist nach der <strong>Lager</strong>haft ein Genuß. Die Kinder der einhe<strong>im</strong>ischen Juden, die<br />
unserem Zug nachlaufen, halbnackt, schmutzig, schön und frech zugleich, sind<br />
lernbegierig. Sie wollen von uns lernen. Sie haben die Esti, die Turnlehrerin, schon ins<br />
Herz geschlossen und turnen geschickt mit Eifer und viel Lärm.<br />
Das viele Unglück <strong>im</strong> Lande jenseits des Dniester-Flusses erzeugen die Gendarmen.<br />
Der Jude ist ein Gefangener, untersteht ganz der Gendarmerie, die ihn in<br />
Massenquartieren, genannt Ghettos, erhält und überwacht. Jeder Gefreite der<br />
Gendarmerie, zumeistens ein pr<strong>im</strong>itiver Lümmel, ist hier ein Herr, und da es davon so<br />
viele gibt, ist denen schwer beizukommen. Die Aushebung zur Arbeit hat sich daher noch<br />
nicht geändert. Gestern schlug einer um 4 Uhr früh die Trommel, weckte alles, <strong>im</strong> Regen<br />
standen wir <strong>im</strong> Feld, es gab Schreie, Schläge, bis eine Gruppe sich in Bewegung setzte,<br />
um nach 10 bis 20 km langem Marsch irgendwo <strong>im</strong> Gras zu schlafen oder einige<br />
Unkräuter auszurupfen. Im Prinzip ist es nur Schikane und Übermut kleiner,<br />
beschränkter, denkunfähiger Menschen in Uniform. Die Großen geben den Ton an, der<br />
Prätor schreit, der Agronom geht nie ohne Peitsche, schlägt auf der Straße und dringt in<br />
die Häuser, der ukrainische Hilfsgendarm schlägt, er darf ja auch. Mittelpunkt der<br />
Staatsgewalt ist das Gefängnis, die Tiurma, gleichzeitig Durchgangsstation und<br />
Nachtquartier für Aufgegriffene, aus den Ghettos der Umgebung Geflüchtete, für<br />
durchgehende Angeklagte und Zeugen zu den Gerichten in Balta und Tiraspol, für<br />
durchziehende Arbeitergruppen und für Sünder aller Art. Die Anklagen: Verlassen des<br />
Ghettos, Besitz verbotener Dinge, Korrespondenz. Wir tragen Essen in die Tiurma. Der<br />
Gang ist schwer: alte Baracken, Pestilenz auf Distanz, Konkremente rings herum, und am<br />
schl<strong>im</strong>msten, die stehenden Gerippe mit verglasten Augen. Fäulnis, Tod, Hungerödem,<br />
Raub an unglücklichen Menschen in Händen der rumänischen Gendarmerie.<br />
Trotz der Jagd sind <strong>im</strong>mer noch Menschen unterwegs. Sie kommen aus bedrohten<br />
Ortschaften am Bug, wo Untermenschen Aktionen durchführen, suchen in Ortschaften<br />
unterzutauchen, wo mehr Juden sind. Auch das ist schwer. <strong>Ein</strong> Paar kommt aus Savgni,<br />
kam bis Tschitschelnik durch, dort hieß es: “Gebet 2 Goldstücke, dann könnet ihr<br />
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leiben.” Sie kamen zurück, erkrankten und verschwanden vom Schauplatz des Lebens.<br />
Es kamen 2 Knaben, 8 und 10 Jahre alt, Waisenkinder: “Zuerst wir gehen Essen suchen.”<br />
Sie wußten sich zu verstecken und kamen durch, 30 km vom Standort.<br />
Doch am 28.6.43, dem Monatstag unserer Befreiung aus dem <strong>Lager</strong>, kam der erste<br />
große Zug durch. Dieser Zug von 150 aus dem Ghetto Berschad kam aus Nikolajew<br />
zurück, vom Brückenbau. Die Unterbringung in der Tiurma mit Schreien, Prügeln,<br />
Gendarmen zu Pferd und zu Fuß mit Lederpeitschen, ganz früh das gleiche, aufregende<br />
Bild, zerlumpte Menschen, entwurzelt, jeder Menschenwürde beraubt, gejagt und<br />
geprügelt, schl<strong>im</strong>mer als Vieh. <strong>Ein</strong>en Suppenkessel, Brotschnitten und Zigaretten hatten<br />
wir vorbereitet.<br />
An diesem Tag, wo ich das Elend so greifbar aus den zerrissenen Kleiderfetzen, den<br />
nässenden, pellagrösen Händen und Füßen, den nach Petroleum stinkenden Wunden vor<br />
mir sah und ohne Pause stundenlang verschmutzte Abszesse und Wunden verbunden<br />
hatte, doch dauernd neue, in Fetzen gehüllte Schatten erschienen, schrieb ich einen<br />
unbestellbaren Brief, der lautete:<br />
Angehöriger der Herrennation, du wirst einmal sagen, ich bin nicht dabei<br />
gewesen, ich weiß von nichts. Doch wisse, du bist schuldig. Du befiehlst<br />
es und billigst es durch dein Schweigen und durch dein Profitieren an<br />
diesem Zustand, der solche Verbrechen schafft. Ich sah heute vertierte<br />
Menschen, die sich den Mund mit heißer Suppe schwer verbrannten, weil sie<br />
Angst hatten zu warten, Angst, man werde ihnen diesen ungewohnten Göttergenuß<br />
bald rauben, Menschen, die Salz lecken wie Ziegen, Menschen, die ihre Hosen<br />
nicht hochzogen, weil sie sie gleich wieder hinunterlassen mußten, Menschen,<br />
die keine Körperstelle mehr ganz hatten, wo Wunden und Schmutzkrusten alles<br />
Sichtbare bedeckten, Menschen, die nicht mehr wissen, wie ein Hemd aussieht,<br />
und die aus Löchern ihrer zerlumpten Säcke, die Beine und Rücken verhüllen,<br />
ihr Geschlecht ohne Schamgefühl heraussehen lassen. Wer hat sie vertiert? Du,<br />
Angehöriger des Herrenvolkes, jeder von euch. Sie werden zu sich kommen,<br />
sie werden die Erinnerung an die, die nicht bis her kamen, an die Gehenkten,<br />
weil sie <strong>im</strong> Zuge sprachen, an die Erschossenen, weil sie noch ein Wertstück<br />
bei sich hatten, an die Ertrunkenen, weil ein Stiefel ihnen auf die Hände, mit<br />
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denen sie sich noch am Gerüst festhielten, trat, an die Verhungerten, die be<strong>im</strong><br />
Öffnen der Waggons hinausfielen, mit sich tragen, und eines Tages werden<br />
sie sprechen und Vergeltung verlangen. Ich weiß, daß Rache nicht aufbaut,<br />
sondern nur die Zerstörung weiterführt. Sie aber werden anders denken,<br />
einfacher. Sie werden das ihnen Zugestoßene laut in die Welt schreien, und<br />
was wirst du sagen?<br />
Später kamen weitere Züge durch. Wir sahen sie auf dem Wege von Berschad nach<br />
Nikolajew, beladen mit den Lebensnotwendigkeiten, einfach und schlecht gekleidet, doch<br />
die Blößen verhüllt, niedergedrückt durch die Trennung von Familie und Freunden. Wir<br />
sahen sie zurückkehren, mit hohlen Wangen, spärliche Fetzen am nackten Leib, Wunden<br />
an Händen und Füßen, ausgehungert, das Denken ausgelöscht, Winseln um eine<br />
Zigarette, um einen warmen Schluck. Viele sind dort geblieben, verscharrt.<br />
<strong>Ein</strong>e Gruppe kam am 30.8. durch. Die deutsche ärztliche Kommission hatte sie als<br />
arbeitsunfähig ausgeschieden. <strong>Ein</strong>er zeigt die Hände, die er selbst in siedendes Wasser<br />
getan hat, um mit dabei zu sein, andere haben Petroleum gebraucht, um ihre Hände zu<br />
entstellen. Was machte man in kurzer Zeit aus diesen Durchschnittsmenschen! <strong>Ein</strong>e<br />
schwarze, vertierte Masse, ohne Willen, ohne Denken, körperlich gebrochen, die vom<br />
Stock getrieben weiterhinkt. Den Stock verstehen sie zu gebrauchen, die Anführer aus<br />
dem Herrenvolk und ihre Helfer, wie auch unser Sergeant Sarbu und die einhe<strong>im</strong>ische,<br />
ukrainische Polizei. Die Wachtruppen, die sie von dort brachten, hatten dafür die Flinte.<br />
Es war die aus gefangenen Donkosaken und eingeborenen Deutschen gebildete Truppe.<br />
Sie schlugen und mordeten. In wessen Auftrag? (Christentum? Vaterlandsliebe?)<br />
Aus <strong>Ein</strong>zelschicksalen setzt sich alles Weltgeschehen zusammen. Mensch und<br />
Mensch und Mensch gibt Masse. Tausende, die hier in Massengräbern an Bauch und<br />
Rücken kreuz und quer durcheinanderliegen, die am Weg verreckten und verscharrt<br />
wurden, starben nicht durch Kriegsereignisse, sondern durch die Erweckung der<br />
pr<strong>im</strong>itiven Urtriebe, durch Raublust und Sadismus. Verantwortlich sind die, die diese<br />
sündige Mentalität aufnahmen und in die Tat umsetzten. Sie schufen die Grundlage und<br />
die Gelegenheit für die Enthemmung. Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sondern auch<br />
Räuber und Mörder, und dazu wurden die Anhänger und Mitläufer. Denket ihr alle, ihr<br />
Mitschuldigen, nur eine Sekunde an das Grauen, das ihr in Tausende He<strong>im</strong>e<br />
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hineingetragen habet, könnet ihr noch essen und schlafen? Die Schar der Verelendeten,<br />
die mehr Herz und Geist und Wissen besaßen als ihr, und die jetzt gejagt unter Prügeln<br />
von West nach Ost und von Nord nach Süd getrieben werden, krank, verhungert, <strong>im</strong>mer<br />
noch zählend, wer von den Lieben übrig blieb, sie werden euch vor Augen stehen und<br />
euch ewig zurufen: Du bist schuldig.<br />
Am 22.9. kam ein dritter Zug aus Nikolajew zurück. Das Tagebuch enthält die<br />
gleiche Schilderung, verschmutzt, verlaust, in Lumpen, barfuß. <strong>Ein</strong>er hat eine vereiterte<br />
Kopfschußwunde, <strong>Ein</strong>schuß nahe der Stirnmitte, Ausschuß rechts temporal. Er wurde vor<br />
14 Tagen, als er 3 Schritte aus dem Glied austrat, von dem Begleitkosaken angeschossen,<br />
fiel bewußtlos zusammen, doch wurde er ausnahmsweise nicht erledigt. Kosaken der<br />
Vlassovarmee begleiten, mißhandeln, vernichten diese Gruppe. Sie wissen nur von<br />
Hunger, schwerer Arbeit <strong>im</strong> Wasser und Todesgefahr zu berichten. Arbeitgeber sind<br />
Beamte einer deutschen Firma. Die Behandlung ist menschenunwürdig. Die Ingenieure<br />
gingen mit ihnen härter um als die Meister, die sie doch hie und da ruhen ließen. Die<br />
Aufseher bei der Arbeit gehören zur Organisation Todt, und diese betrachten die Juden<br />
nicht als Menchen. Sie zeigen uns lange noch rote und weiße Narbenstreifen von Schulter<br />
bis über den Rücken und über beide Oberarme, Reste von Schlägen mit Peitschen aus<br />
dicken, mit Stoff überzogenen elektrischen Drähten. Früh wurden sie zum Bug getrieben,<br />
zum Waschen, dann 10 km zurück zur Arbeitsstelle, zum Hafen- und Brückenbau, <strong>im</strong><br />
Wasser, Schwerarbeit, Sonnenbrand, Überwachung jeder Bewegung und gleich Prügel,,<br />
als Nahrung Maisbrei, ohne Salz, in kleinen Portionen, dann Schlaf von 600 in einer<br />
Scheune, sodaß einer auf dem anderen lag in Mist und Ungeziefer. Man muß solche<br />
Menschen gesehen haben, denn Beschreibung ist nicht kraß genug, und der<br />
Menschenverstand sträubt sich dagegen, sich dieses Bild so auszumalen, wie es ist,<br />
zerlumpter, verhungerter, verprügelter als wir je Vagabunden, Straßenbettler, Zigeuner,<br />
Verbrecher <strong>im</strong> Leben oder Film gesehen haben.<br />
Unbarmherzig setzt das Tagebuch die Schilderung fort. Am 25.11.1943 erreicht<br />
unseren Ort wieder ein Zug unglücklicher Kreaturen, die aus Nikolajew zurückgeschickt<br />
wurden, barfuß in der Winterkälte, Reste von Sackfetzen am Körper, verlaust, hungrig,<br />
dreckig, von Wunden übersät, erschöpft. Sie betteln um Essen. Selten ist noch einer<br />
fähig, Auskunft über das Durchlebte zu geben. Schwere Arbeit, Prügel, Angst,<br />
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Erschießungen. Nachts erscheint die Wache: “Wer wollte hier fliehen?” Zwei werden<br />
herausgenommen, schaufeln ihr Grab und werden erschossen. Am Wege wird nicht<br />
gesprochen, einer hustet—Erschießung. So wird der Mensch geknechtet, das Leben<br />
bedroht, bis die Kreatur nicht mehr denkt, nicht mehr fühlt, an<strong>im</strong>alisch ist.<br />
Am 6.12.43 geht eine Truppe von 180 Kranken auf dem Rückweg von Nikolajew<br />
durch. Es herrscht Winterkälte, Schnee und Eis. Sie sind barfuß, dem fehlt ein Ärmel,<br />
dem eine halbe Hose. Die nackte Haut is voller Wunden, zum großen Teil selbst mutiliert<br />
mit Essigessenz, mit Messer, mit Verbrennung, stinkender Eiter, 11 starben am Weg, 7<br />
waren tot, als der Wagen entleert wurde, dazu Prügel, Hunger, Frieren, Weinen, Gier<br />
nach warmem Trunk, Essen und Salz.<br />
Die Beziehung zu den Behörden hat sich gebessert, Die Spitzen, der Prätor und der<br />
Postenchef, sind bestochen, und der <strong>Ein</strong>fluß macht sich nach unten bemerkbar. Der<br />
ukrainische Bürgermeister ist ausgeschaltet. Wir dürfen hinter dem Haus Latrinen graben<br />
und mit Schilf vom nahen Bach umstellen. Wir dürfen sogar das öffentliche Bad des<br />
Ortes an 2 Tagen der Woche benützen, ein altes russisches Bad, Betonboden mit<br />
Holzstegen, Röhren mit heißem und kaltem Wasser, Duschen, Holzscheffel, die man<br />
sich, mit heißem Wasser gefüllt, über den Kopf gießt und Bündel von Weidenruten zur<br />
Pflege der Haut.<br />
Auch dieses Bad hat seine Geschichte. Das Jahr 41 sah hier täglich die Soldateska<br />
wüten. “Stell dich auf alle viere, dreckiger Jude, als Schemel, zieh mir die Stiefel .<br />
Kannst du, Sohn, bis 3 fertig sein,” sonst Schlag, Stoß in das Geschlechtsorgan, Prügel,<br />
Verletzungen und Entwürdigung. Jüdische Mädchen wurden hergebracht, in Gegenwart<br />
des Unteroffiziers geschrubbt, gebraucht, und angesteckt. Der <strong>Arzt</strong> soll sofort kommen.<br />
Er liegt <strong>im</strong> Fieber, Drohung mit Erschießen. Er schickt die Frau, erklären. 10 Gendarme<br />
auf eine Frau, bis sie, hin- und hergeschmissen, verletzt liegen bleibt. Zu viele Bilder<br />
knüpfen sich an diesen Ort.<br />
Die <strong>Ein</strong>he<strong>im</strong>ischen müssen mit Überredung oder mit Zwang gebadet werden. Läuse<br />
kennen keine Grenzen. Sie sind durch Übertragung des Fleckfiebers der Todfeind des<br />
Deportierten. Unsere Mädchen ziehen mit Parolen aus, versprechen Wunder, Heilung von<br />
Hämorrhoiden und Rheumatismus durch das heiße Wasser. Bald erscheinen zögernd die<br />
ersten <strong>im</strong> christlichen Bad.<br />
91
Das Verhalten der einhe<strong>im</strong>ischen Juden war <strong>im</strong> Anfang feindselig, zumindest<br />
mißtrauisch. Sie erhoffen durch uns eine Verbesserung ihres jämmerlich-ärmlichen und<br />
gefährdeten Daseins, sie hatten aber ein schlechtes Gewissen. In ihren Stuben versteckt<br />
liegt Raubgut. In der Zeit des Durchzuges der unglücklichen Verschickten wurden sie zu<br />
Partnern der Unterdrücker. Als wir in die Synagoge stiegen, standen die Alten zu beiden<br />
Seiten und schauten. Wenn sie näher herantraten, befühlten sie unsere abgetragenen,<br />
geflickten Kleider und sprachen bewundernd untereinander über ihre Qualität. Wir waren<br />
ihnen fremd, kamen aus einer anderen Welt. Ausnahmen gab es. Der alte Gittelmann<br />
öffnete uns sehr bald sein Haus, die herzensgute Ärztin Tweg suchte und fand Anschluß.<br />
Diese gaben uns Ratschläge, belehrten uns über die Rangordnung und Schwächen der<br />
Herschenden. Von diesen hörten wir persönliche, selbsterlebte Schilderungen aus den 2<br />
letzten, bösen Jahren. Mädchen aus Gittelmanns Familie singen wehmütige russische<br />
Lieder.<br />
Wir sind wenige, müssen uns bewähren, müssen mehr leisten, jeder soviel als er nur<br />
kann. <strong>Ein</strong>iges ist uns schon gelungen. Der Fleischer gibt uns den Rindstalg, der<br />
Seifensieder hat die geeigneten Gefäße zusammengestellt und erzeugt Seife. Mit<br />
Blaupapier erhält diese die traditionellen Streifen, die der Bauer liebt, und durchgeknetet,<br />
in eine Holzform gepreßt, mit dem Ebenbild eines Elefanten aufgeklopft und mit einem<br />
Tropfen Eau de Cologne parfümiert, entsteht sogar eine Toilettenseife. Dieser<br />
Handelsartikel geht fließend ab. In Feld und Wald gibt es Kräuter und Wurzeln. Galen<br />
wußte vor 1800 Jahren daraus heilende Stoffe zu extrahieren. Alkohol ist nicht zu<br />
bekommen, doch läßt sich erzeugen. Trinken doch alle Bauern ihren Samogonka, aus<br />
gegorenen Kartoffeln mit pr<strong>im</strong>itiven Mitteln destilliert. Die Vorrichtungen sind leicht mit<br />
Hilfe unserer Fachleute herzustellen. Das Produkt ist nicht ganz rein, stink reichlich nach<br />
Fuselölen, doch, wenn es zum Trinken gut ist, dann sicher zur Extraktion von<br />
Digitalisblättern, Baldrianwurzeln u.a. Die alte Kräuterfrau, die zum Wochenmarkt <strong>im</strong><br />
Dorf erscheint und wie eine Hexe aussieht, hat Dutzende Bündel getrockneter Kräuter<br />
vor sich, wertvolles Ausgangsmaterial für uns. Doch als wir uns ihr einmal näherten und<br />
unvorsichtig fragten, wieviel sie für ihre ganze Ware will, raffte sie eiligst alles in ihr<br />
Tuch zusammen und lief davon. Auf Spazierwegen in der nahen Umgebung, die gestattet<br />
wurden, lassen sich genügend Kräuter sammeln. Mit Alkohol extrahiert gaben sie<br />
92
galenische Präparate, die den pr<strong>im</strong>itiven Anforderungen genügten. Der wertvolle<br />
Digitalisextrakt findet weniger Anklang als die kräftig stinkende Baldriantinktur.<br />
Doch sehr bald schon beginnt eine medizinische, ärztliche Betätigung <strong>im</strong> Ghetto<br />
mit <strong>im</strong>mer weiteren Kreisen in naher und ferner Umgebung.<br />
Auf der Durchfahrt in Tschitschelnik, wo die Schmalspurbahn endete, machten wir<br />
einige Bekanntschaften. Die Ortsgewaltigen sahen uns mißtrauisch an, der jüdische<br />
Ghettoarzt, der uns aus der He<strong>im</strong>at gut kannte, ließ sich entschuldigen, er hatte gerade<br />
persönliche Sorgen. Die Sekretärin der Gemeinde, rothaarig und lebhaft, mit der wir<br />
einige belanglose Worte gewechselt haben, hat uns nicht vergessen.<br />
<strong>Ein</strong>e kranke Frau erscheint mit einem Brief in der Hand. Darin steht: Die Genossin<br />
X (Pavlovna), die Frau eines Helden, der sein Blut <strong>im</strong> Kampfe gegen die Faschisten<br />
vergießt, und die Mutter von 3 künftigen Helden, ist krank, und ich müßte ihr unbedingt<br />
helfen. Die junge Frau wird vom Wägelchen gehoben. Sie ist blaß und mager und<br />
krümmt sich vor Schmerzen <strong>im</strong> ganzen Bauch. <strong>Ein</strong> Fingerling auf den Zeigefinger, in den<br />
Mastdarm eingeführt—es sieht böse aus. Harte Krebsmassen mit tiefen Zerfallsherden<br />
durchsetzen die Darmwand, starr und unbeweglich, mit der Umgebung verwachsenes<br />
parasitäres Gewebe. Trostworte und Schmerzberuhigungsmittel, mehr kann ihr nicht<br />
gegeben werden. Späterhin treffe ich die rote Sekretärin, frage sie, wie sie dazu kommt,<br />
<strong>im</strong> engsten Frontgebiet derartige Briefe zu schreiben und voll zu adressieren. Sie spricht<br />
mit Begeisterung und Lautstärke. <strong>Ein</strong>e schlechte und gefährliche Bekanntschaft.<br />
<strong>Ein</strong> Kellerraum wird ausgeräumt, gereinigt, gekalkt und 4 Eisenbetten mit<br />
Strohmatratzen hineingestellt. <strong>Ein</strong> jüdisches Mädchen mit weißer Schürze dient als Hilfe.<br />
Dieses kleine Spital erfüllt seine Pflicht. <strong>Ein</strong>e uralte Frau wird aufgenommen und bis zu<br />
ihrem Ende gepflegt, ein Träger von zahllosen Abszessen wird, solange es noch Eiter zu<br />
entleeren gibt, erleichtert und geheilt, Kinder mit schweren Lungenentzündungen finden<br />
Pflege, die am Wege aufgelesenen, halbnackten und verhungerten Krüppel aus Nikolajew<br />
werden in besseren Zustand gebracht. <strong>Ein</strong> Kind hat hohes Fieber und einen steifen<br />
Nacken. Die liebe Dr. Tweg ist besorgt. Das Kind ist schwer krank. <strong>Ein</strong>e einfache Nadel<br />
wird ausgekocht, Lumbalpunktion, eitriger Liquor, Aufnahme <strong>im</strong> kleinen, sauberen<br />
Spital. Serum gibt es nicht, aber Sulfamide geben die Soldaten aus ihren Beständen für<br />
Reichskreditkassenscheine ab, gestohlene Sulfamide aus dem Besitz des<br />
93
Wehrmachtssanitätsparkes Nr. XII, deshalb nicht weniger wirksam. Das Kind ist nach 4<br />
Tagen reichlicher <strong>Ein</strong>nahme dieses Wundermittels gesund, ohne Serum, ohne neuerliche<br />
Punktion und ohne jeden Restschaden. Der <strong>Arzt</strong> hat ein gutes Gefühl. Vergessen und<br />
verdrängt sind die Gedanken an das He<strong>im</strong>.<br />
<strong>Ein</strong> alter Mann ist mit leichtem Fieber herumgegangen, jetzt ist sein Enkelkind hoch<br />
fieberhaft erkrankt. Der Vater ist irgendwo an der Front, die Mutter am Flecktyphus<br />
gestorben, die Großmutter weint unter der Bürde der Verantwortung. Wieder erscheint<br />
die gute Dr. Tweg auf dem Gesichtsfeld. Was tun? Es ist eine Bauchtyphusinfektion.<br />
Kein Aufsehen machen, die betrunkene Vassilena Vassilevna Krupezkin, die<br />
Sanitätsärztin des <strong>Lager</strong>s, aus dem Spiele lassen, die Wohnung desinfizieren, den Alten<br />
und das Kind isolieren, Stühle und Urin desinfizieren. Der Alte hat es schon hinter sich<br />
und das Kind ist jung, hat Resistenz. Es vergehen ein paar Wochen, kein neuer Fall<br />
erscheint. Wir haben gewonnen.<br />
<strong>Ein</strong> ganzes Dorf scheint Trachom-krank zu sein. Zuerst erscheint ein stupides<br />
Mädchen, von der Mutter geführt, eine Blinde. Der Pannus, der die durchsichtige<br />
Hornhaut bedeckt, ist alt und dick. Und doch kam es noch zu einer Aufhellung, nachdem<br />
die Körner der Bindehaut ausgequetscht und ausgebrannt waren, und ein par<br />
Sulfatabletten eingenommen wurden. Sie begann zu sehen, ging allein durchs Dorf. <strong>Ein</strong><br />
Wunder war geschehen. So schien es wenigstens den einfältigen Dorfbewohnern. Nun<br />
kamen sie alle, von weit und breit, Blinde, denen als Kinder beide Augen ausgeeitert<br />
waren, aber auch Kranke, denen noch Hilfe gegeben werden konnte. Die Küche füllte<br />
sich mit Milch und Eiern. Butter, Würste, Honig, Früchte, Mehl, Hühner und Enten liefen<br />
in großen Mengen ein. Runde Weißbrote in Kränzen, geweiht und nicht geweiht, wurden<br />
uns feierlich überreicht.<br />
Pfosten werden <strong>im</strong> Hof aufgerichtet und mit einem Dach gedeckt. <strong>Ein</strong> Tisch wird<br />
zusammengenagelt und mit einer Decke und Leintuch eingedeckt. <strong>Ein</strong>ige Instrumente<br />
sind zusammengetragen, und der alte Moritz mit seinem praktischen Sinn ist die Seele<br />
der Improvisation. Was man da nicht alles tun kann! <strong>Ein</strong>e Anästhesie liefert ein<br />
Novokainpulver, das er von zuhause mitnahm. <strong>Ein</strong>e hochprozentige Lösung wirkt<br />
eingetropft, lerne ich, wie Kokain. Überhaupt äußert M. so oft als möglich: “Wenn meine<br />
Augen jünger wären oder ich meine gute Brille mithätte, würde ich es besser machen als<br />
94
du und alle anderen.” Wir brennen mit Höllenstein und Kupferstift, erweitern verklebte<br />
Pupillen mit Atropin, kratzen Fremdkörper aus, am häufigsten Pulverstaub, und<br />
extrahieren Dornen aus schwer entzündeten Augen. <strong>Ein</strong>e Milchinjektion in den<br />
Gesäßmuskel zur Erhöhung der Abwehrkraft gegen die Infektion schließt die Behandlung<br />
ab. Wir haben auf verschiedenen Wegen einige wirksame Medikamente erworben.<br />
Sparsam und gezielt angewendet zeigt sich hier, <strong>im</strong> Notzustand, ihr offensichtlicher Wert.<br />
Unser Ruf steigt, und Mengen von Nahrungsmitteln für uns und unsere Genossen<br />
wandern in die gemeinsame Kantine. Unsere Gefährten genießen unbeschränkte Hilfe,<br />
bekommen die notwendigsten Medikamente und fragen nicht, woher diese kommen.<br />
Es gab 6 Apotheker <strong>im</strong> Ghetto, 3 vorgefundene und 3 von uns mitgebrachte. Die 3<br />
einhe<strong>im</strong>ischen mußten so postiert werden, daß sie sich überwachten und ergänzten, denn<br />
der eine war schlau und stahl, der zweite war anständig, aber dumm, und die dritte, die<br />
kleine, nette, affektierte, liebenswürdige Mascha, unwissend und aus Leichtsinn<br />
unzuverlässig. Von unseren 3 <strong>Lager</strong>menschen war einer sehr tüchtig. Er wußte viel,<br />
sprach viel und tat nichts. Der zweite war sehr anständig und sehr faul und tat nichts.<br />
Aber der dritte war ein Original mit Seele und Berufung. Der kleine, auch in der<br />
schl<strong>im</strong>msten Zeit rundliche Harry (Goldstein) mit seiner langen, gebogenen Nase, den<br />
sinnlichen Lippen und dem tief in die Stirne gewachsenen Haar sah aus wie ein<br />
armenischer Straßenhändler. Kein anständiges Wort kam aus seinem Munde. Früh<br />
erwachte er mit einem Grunzen, und dann ging es mit Flüchen, groben Anzüglichkeiten,<br />
Unanständigkeiten bis in die Nacht. Er war die Seele der Apotheke, sorgte und versorgte,<br />
war die Hilfe für <strong>Arzt</strong> und Kranke.<br />
Die ersten Besuche in Nachbarorten sind mit Emotion verbunden. In Balta ist der<br />
Oberst in persona erkrankt. <strong>Ein</strong> guter Vorwand. Der besorgte Ortsarzt verlangt die<br />
Zuziehung eines Internisten. Der Postenchef stellt eine Bewilligung, eine Potiovka, aus,<br />
Pferde, Wagen und ein Kutscher werden zur Verfügung gestellt. Die Fahrt geht durch das<br />
weite, reiche, menschenleere Land. Inzwischen ist die Angina abgeheilt, die Kleider sind<br />
<strong>im</strong> Regenguß durchnäßt, doch Freunde erscheinen, bringen Nachrichten aus der He<strong>im</strong>at,<br />
sogar die gehe<strong>im</strong>e Übersendung eines Lebenszeichens wird ermöglicht. <strong>Ein</strong>ige<br />
Medikamente werden einem zugesteckt und eine gute, gekochte Mahlzeit vorbereitet. Es<br />
gibt Berichte über Freunde, die über den Bug in einen Steinbruch geschickt wurden,<br />
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umkamen, krank wurden, zurückkamen, Kinder, die allein blieben, Abstumpfung gegen<br />
menschliches Elend und doch auch Gemeinschaftsgefühl. Immer noch Unrast,<br />
Unsicherheit, der ewige Ahasver, Rucksack und weiter, von Berschad nach Balta, nach<br />
Ladigin, in die Carriera, in die Hände der Deutschen, Übersiedlung, Räumung, zur Arbeit<br />
geschickt, ausgehoben und ausgekauft, Spannung und Verelendung, durch fremde Schuld<br />
deklassierte Menschen. Die Leitung des Ghettos liegt in ehrlichen Händen, Paul M. führt.<br />
Für eine Aussprache gibt es diesmal keine Zeit, vor <strong>Ein</strong>bruch der Dunkelheit müssen wir<br />
in Oligopol zurück sein.<br />
In einem Bauernhaus am Rande des Ghettos haben wir ein Z<strong>im</strong>mer gemietet. Zu 7<br />
in einem notdürftig restaurierten Kellerraum war es doch nicht leicht. Schmutz und<br />
Unordnung wirken auf Geist und Gemüt degradierend. Die Bauernfamilie ist freundlich<br />
und achtet uns um unserer Bildung willen. Wir stellen 3 Eisenbetten ein, und unter den<br />
Betten und an den Nägeln in den Wänden ist Platz für alle unsere Besitztümer. Der<br />
Boden ist rein, fest gestampfte Lehmerde, eine Wand geht zum Ofen, zum Petsch, auf<br />
dem der Bauer und die Bäuerin <strong>im</strong> Nebenraum schlafen. Der Petsch ist das Zentrum des<br />
Bauernhauses, und jeder Raum in der Runde hat eine warme Wand. Mein Bett wird an<br />
die warme Wand gestellt, Roll und Muniu bekommen die beiden anderen. In einer<br />
kleinen Küche, die uns der Bauer dazugab, wird Polia untergebracht. <strong>Ein</strong> dicker Pfosten<br />
in der Mitte stützt das Dach, ein Holzschemel ergänzt die <strong>Ein</strong>richtung. Die beiden Fenster<br />
sind nach außen mit Holzläden verschlossen, dicke Bretter mit einem viereckigen<br />
Querbalken, der durch Bolzen nach innen verankert ist. So sind wir gegen <strong>Ein</strong>bruch und<br />
Diebstahl gesichert, jedoch nicht vor Krieg. Das Häuschen liegt abseits vom Hauptweg,<br />
und doch klopfen nachts Truppen auf dem Durchmarsch an die Fensterläden und<br />
verlangen Quartier. Mit <strong>Ein</strong>bruch der Dunkelheit wird das Dorf leer. Der Bauer schläft,<br />
wir reden, denken, lesen. Licht is uns verboten. Im Anfang wurde streng darauf gesehen.<br />
Der Unteroffizier Sarbu schlug uns eigenhändig die Scheiben ein und prahlte damit, daß<br />
er es war. Jetzt gestatten wir uns ein Lämpchen und ziehen den Docht ein, wenn Gefahr<br />
in Verzug ist.<br />
<strong>Ein</strong> rauhes, böses Klopfen. “Aufmachen!” Rasch das Licht aus. <strong>Ein</strong> Sch<strong>im</strong>mer ist<br />
wohl durch die Ritze durchgekommen und hat Leben <strong>im</strong> Dunkel gezeigt. Doch es ist zu<br />
spät. Aufmachen, oder es wird geschossen. Wir machen wieder die Lampe groß, P.<br />
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schließt sich in ihre Kammer ein, und wir öffnen langsam die Tür. Hinein stürzen 6<br />
Gestalten in verdreckten Soldatenmänteln, lehmgelben Stiefeln, verbundenen Ohren und<br />
undefinierbaren Kopfbedeckungen. Als erstes legen sie Handgranaten auf den Schemel,<br />
lehnen die Gewehre an die Wand, schauen um sich, mißtrauisch, <strong>im</strong> Feindesland. Moritz,<br />
unser Z<strong>im</strong>merältester, ergreift mit seiner tiefen, weichen, sakkadierten St<strong>im</strong>me und<br />
ziterndem Kopf das Wort. “Sie sind sicher sehr müde und wollen etwas Warmes trinken.”<br />
“Wieso sprichst du deutsch?” ist die erste Reaktion. “Weil ich das mein Leben lang als<br />
Muttersprache spreche <strong>im</strong> Haus, Schule und Universität.” “Wieso kommst du her?”<br />
“Weil man mich in meiner He<strong>im</strong>at festgenommen und verschickt hat.” “Das hat Hitler<br />
gemacht, nicht wir.” Das Eis ist gebrochen. Wir beteiligen uns am Gespräch. Sie sind<br />
begierig, sich mitzuteilen, auszuschütten, die Spannung, Abscheu, Furcht und Müdigkeit<br />
in Körper und Seele abzureagieren. Wir lassen sie reden, sie sch<strong>im</strong>pfen auf die Führung,<br />
den Führer, den Staat, den Krieg, die Kälte, den Schmutz, die Ratten und das Essen. Jeder<br />
von ihnen hat seine Geschichte, erzählt sie breit und flicht Flüche und Verwünschungen<br />
für die, die ihn in diese Situation gebracht haben, ein. Die heldenhafte Begeisterung, der<br />
Patriotismus sind in Stalingrad erstorben. Was blieb ist pr<strong>im</strong>itiver Selbsterhaltungstrieb<br />
und der innige Wunsch, aus dem Dreck herauszukommen. Inzwischen ist der Tee<br />
gebrüht, der Kessel brodelt, und die Schalen werden ein zweites Mal eingefüllt. Die<br />
St<strong>im</strong>mung wird weich, Jugenderlebnisse werden erzählt, Bilder aus verschwitzten<br />
Taschen hervorgeholt und gezeigt. Gleiche Menschen, gleiche Bedürfnisse und<br />
Sehnsüchte, obwohl von der anderen Seite. Wo ist das Feindsein, der Haß, der<br />
Vernichtungsgeist? <strong>Ein</strong>er stammt aus dem Sudetenland. Wir waren Nachbarn in Wald<br />
und Feld und Schule, besuchten unter Führung unserer Lehrer dieselben<br />
Tropfsteingrotten, bewunderten die Stalagmiten und Stalaktiten der Mazocha, gingen die<br />
gleichen Spazierwege. Liebevoll wird jeder Blickpunkt erzählt und <strong>Ein</strong>drücke<br />
ausgetauscht. <strong>Ein</strong> anderer hat sein Handwerk an einem Ort erlernt, in dem einer von uns<br />
jahrelang gelebt hat. Zuletzt erzählen sie schon Witze. “Haben Sie schon gehört (das du<br />
ist inzwischen auf ein Sie übergegangen), warum unsere Kleider so schäbig sind? Das<br />
liegt an dem Grundmaterial, denn unsere Stoffe werden erzeugt aus den Spitzen der<br />
Partei, den Lumpen der Bewegung und dem nie endenden Geduldsfaden des deutschen<br />
Volkes. Und wißt ihr, wo sich unser Führer am wohlsten fühlt und am längsten aufhält?<br />
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Im Klo, denn dort hat er die ganze braune Masse unter sich.” Dann wieder Erinnerungen<br />
an die He<strong>im</strong>at, Loblieder auf Frau und Kinder und was die letzten Briefe über sie<br />
erzählten. Und so geht es fort, bis sie müde am Boden Mann an Mann ruhig und furchtlos<br />
einschlafen. Als es in der Stube finster wurde, und man die Mordwaffen am Schemel und<br />
der Wand nicht mehr sah und nur das ruhige, regelmäßige Schnarchen hörte, war es<br />
schwer zu glauben, daß Menschen verschiedener Art hier schliefen. Am nächsten Morgen<br />
zogen sie weiter.<br />
An unserem Keller mit den 4 Krankenbetten geht ein deutscher Offizier vorbei. Er<br />
geht auf und ab, scheint zu suchen. Das ist auffällig, und ich trete in den Türrahmen. Er<br />
bleibt stehen. “Gibt es hier einen <strong>Arzt</strong>?” “Ja, ich bin der <strong>Arzt</strong>.” “Was habe ich hier?” Er<br />
öffnet einen Spalt in der Uniformjacke und zeigt eine zerkratze, unreine Haut. “Das ist<br />
Scabies, Krätze, eine unschuldige, mit der Kriegsverschmutzung zusammenhängende,<br />
parasitäre Erkrankung. Sie ist gut bekämpfbar. Hier ist eine Salbe. Wenn Sie damit den<br />
Körper von Hals bis Fuß 3 Tage hintereinander einfetten und dann baden, sind Sie so gut<br />
wie geheilt.” Er knöpft die Jacke zu und wirft einen hohen Rentenmarkschein hinein.<br />
“<strong>Ein</strong>en Augenblick, wir behandeln hier nicht für Geld, nehmen Sie das bitte zurück.” Die<br />
Reaktion ist heftig und mit Gefühlsausbruch. “Mensch, verstehst du nicht, daß ich nur<br />
einen Anlaß suche, irgend etwas zu tun, daß mir die ganze Scheiße, in die man uns<br />
hineinführt, hoch kommt und man zum Verzweifeln machtlos ist. Wer kann das mit<br />
ansehen!” Es war Monate nach Stalingrad.<br />
Milde Spätsommertage. Die Bauern holen die Ernte ein, wir warten auf<br />
Nachrichten, auf Lebenszeichen von zuhause, auf Wunder, Kriegsende und He<strong>im</strong>kehr.<br />
Gerüchte gehen dauernd um, Aktionen zu unseren Gunsten,<br />
Repatriierungsmöglichkeiten, Schiffe nach Palästina, Revolution in Deutschland.<br />
Jedesmal folgt der Enttäuschung Abstumpfung und doch bald wieder Hoffnung.<br />
Zeitungen gibt es für uns nicht, nur entstellte Berichte durch <strong>Lager</strong>genossen, die mit<br />
amtlichen Personen in Berührung kamen, und hie und da erreicht uns ein bezahlter<br />
Kurier, der wenigstens einen Teil des Geldes und kurze, kleingeschriebene Gruppenbriefe<br />
übergibt, die gelesen und gleich wieder verbrannt werden. Diese seltenen Ereignisse sind<br />
der Höhepunkt <strong>im</strong> einsamen Leben. Am Tage läßt die Arbeit am kranken Menschen alles<br />
andere vergessen.<br />
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Wir sitzen am Abend hinter dem Hause, P. M. und ich. Roll ist <strong>im</strong> Hauptquartier<br />
des Dorfes oder sonst irgendwo unterwegs. Er hat <strong>im</strong>mer zu tun. Der Prätor ist jung,<br />
wahrscheinlich von zu Hause arm, schlecht beleumdet und daher in das Niemandsland<br />
abgeschoben. Er fühlt, daß jetzt seine Chance gekommen ist. Er schickt Koffer mit<br />
ungezähltem Geld, deutschen Reichskassenscheinen, und läßt in den Dörfern Schmuck,<br />
Goldstücke, Pelzmäntel und alle möglichen Wertgegenstände zusammenkaufen. Seine<br />
Schwester, eine Lehrerin in Siebenbürgen, besucht ihren Bruder alle 2 bis 3 Wochen und<br />
fährt mit mehreren Mänteln behängt, mit Ringen, Ketten und Ohrgehängen geschmückt<br />
he<strong>im</strong>. Er stellt Wagen, Pferde und einen Kutscher zur Verfügung, und R. fährt auf die<br />
Suche nach käuflichen Schätzen. Wir bekommen durch ihn manchmal wichtige,<br />
meistens falsche Nachrichten und sehr selten auch ein altes Zeitungsblatt, aus dem wir<br />
Kriegslage und Fronten zu rekonstruieren suchen. Eigentlich müßten wir schon längst<br />
schlafen. Bei Sonnenuntergang, so verlangt es die Ghettopolizei, haben wir in die Betten<br />
zu gehen, Fenster und Türen zu schließen. Licht in jeder Form ist uns verboten. Im Dorfe<br />
gibt es für einige Stunden elektrisches Licht, <strong>im</strong> Ghetto ist es untersagt. Die<br />
gegenüberliegende Seite des Hauses bekommt Strom. Wir finden später einen Ausweg.<br />
<strong>Ein</strong>e schwache Birne baumelt in unserem Teil an einem langen Draht. Wir ziehen sie<br />
nach Gebrauch in den Nebenraum, in die kleine Küche, in den “Damensalon”. Gegen 9<br />
Uhr wird es für alle finster. Er zwinkert schon, sagt der alte M., wenn der Mechaniker des<br />
kleinen Werkes das erste Zeichen gibt, 3 kurze Unterbrechungen. Nach einer halben<br />
Stunde gibt er wieder das Zeichen, und 5 Minuten später ist es dunkel. Nur wenn der<br />
Prätor oder der Postenchef Gäste hat und Verlängerung verlangt, dann gibt es Licht bis<br />
spät in die Nacht. Der kleine Motor hat seine Mucken, oft versagt er, und dann setzt das<br />
Licht für Stunden aus. Es gibt auch Störungen anderer Art, wenn der Treibstoff ausgeht,<br />
wenn der russische Mechaniker glaubt, die Zeit sei gekommen, um aus einem<br />
Kollaborateur zu einem Partisanen zu werden und in den Wald geht, oder auch, wenn<br />
sein Gehilfe, der Jude Fabrikant, wegen Konspiration mit Partisanen eingesperrt wird.<br />
Zur Vorsicht gibt es in unserem Z<strong>im</strong>mer auch die kleine Petroleumlampe nach<br />
Großmutterart.<br />
Heute war ein warmer Spätsommertag, ein ruhiger Tag. Das Z<strong>im</strong>mer liegt <strong>im</strong><br />
Dunkel, die Abendluft ist kühl und würzig, ein glänzender Mondschein, ein strahlender<br />
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Sternenh<strong>im</strong>mel und von weither die eintönige Melodie einer Mundtrommel. . . Alle sind<br />
100<br />
still. An ihrem Gesichtsausdruck sind ihre Gedanken abzulesen. Sie gehen in eine<br />
Richtung.<br />
Der Sommer geht zu Ende, nur der Mais steht noch auf den Feldern, <strong>im</strong> Dorfe wird<br />
Holz für den Winter eingeführt. <strong>Ein</strong> Kind erkrankt, hat Fieber und Kopfschmerzen und<br />
stirbt nach 5 Tagen. Und dann beginnt ein Kindersterben da und dort, <strong>im</strong> Dorf und unter<br />
den wenigen verbliebenen Ghettokindern. Die arme, alte Ghettoärztin bittet um Hilfe.<br />
Der Befund ist klar, bei allen Kindern das gleiche Krankheitsbild einer epidemischen,<br />
eitrigen (Meningitis) Hirnhautentzündung. Es gibt ein Mittel, Sulfa-Tabletten, doch<br />
woher diese in ausreichender Menge bekommen? Der russische Ortsarzt ist nicht<br />
kooperativ. Hilfe durch Verbindungen mit dem Altreich ist mit Zeitverlust verbunden und<br />
inzwischen sterben Kinder. Der Weg führt in das nächste Städtchen, nach Balta. Für Geld<br />
und gute Worte liefert der Ortskommandant einen Passierschein, eine Potiovka, ohne die<br />
es keinen Schritt gibt, und ein Fuhrmann mit Wagen und 2 Pferden wird gefunden. Er<br />
nennt sie seine beiden Löwen, davon sind die Klepper weit entfernt, doch <strong>im</strong>stande, das<br />
Wägelchen auf 20 km durch flaches Land zu ziehen. In Balta ist Kriegsst<strong>im</strong>mung.<br />
Fallschirmabspringer wurden in der Nähe gemeldet, es herrscht Alarmzustand. Im<br />
Ghetto, das durch eine Brücke über den Bach abgegrenzt wird, ist man bedrückt. Jede<br />
Spannung ist gefährlich, und Juden sind <strong>im</strong>mer in Gefahr. In einem Hause wird Essen<br />
gekocht, gutes Essen für Eigene und Fremde. Der Gast wird begrüßt und gefragt, ob er<br />
das Huhn gekocht aus der Suppe oder leicht angebraten wünscht. Er wird aufmerksam<br />
gemacht, daß die dreieckigen Teigtaschen, die Pirogen, mit Kartoffeln und Zwiebeln<br />
gefüllt zur Fleischspeise zu essen sind, die runden mit eingerolltem Rand als süße<br />
Nachspeise. Nachher geht es in den Ort zur Erfüllung der Aufgabe. Dort ist etwas<br />
geschehen. <strong>Ein</strong> Mann ist in das Wasser gesprungen, an der Stelle, wo der Bach etwas<br />
breit wird, ist unter Wasser gechwommen und verschwunden. Ehe man sich umsieht, ist<br />
die Gegend abgesperrt und die Menschen, darunter ich, <strong>im</strong> Gefängnis.<br />
Die Augen der Freunde haben den Vorgang verfolgt. Paul M. sitzt bereits be<strong>im</strong><br />
Oberst und bekommt nach kurzem die Entlassungserlaubnis. Nach einer Stunde <strong>im</strong> engen<br />
Raum mit dem Lesen einiger Blätter aus einem alten Telefonbuch verbracht—woher das
wohl kommt?—öffnet sich die Tür und der Weg führt ins Freie. Nun erst beginnt die<br />
Suche.<br />
Balta hat, wie alle kleinen Städtchen, eine Hauptstraße mit ein paar Läden,<br />
Schänken, Alkohol, Süßigkeiten und Mädchen. Hier spielt sich das Leben des Ortes ab,<br />
Soldaten genießen ihre Freizeit, <strong>Ein</strong>he<strong>im</strong>ische und auch Juden mit Bewilligung besorgen<br />
ihre Angelegenheiten. Hier beginnt die Ausschau. <strong>Ein</strong> deutscher Unteroffizier mit<br />
Abzeichen als Sanitätssoldat wird eine zeitlang beobachtet, seine Gangart,<br />
Gesichtsausdruck, Benehmen studiert und dann angesprochen. Die übliche Frage ist:<br />
“Wie spät ist es?” Die übliche überraschte Reaktion: “Woher sprichst du denn deutsch?”<br />
und daraus ergibt sich ein Gespräch. Die Wahl war glücklich. Der Mann stammt aus<br />
Eger, wir haben gemeinsame Sprache und geistigen Hintergrund. Das Gespräch geht aus<br />
allgemeinen Bemerkungen in <strong>Ein</strong>zelheiten über, in Politik, Kriegsaussichten und endet in<br />
der Schilderung der Meningitisepidemie unter Kindern ohne Arzneien zur Stoppung. Er<br />
versteht und verspricht: “Warte eine Stunde, bleibe hier in der Nähe, und ich will<br />
versuchen, euch zu helfen.” nach weniger als einer Stunde bringt er ein Paket, das so<br />
aussieht wie ein Paket Kerzen in unserer Kindheit. Je 10 Sulfa-Tabletten sind in einer<br />
Rolle, je 10 Rollen in einer Reihe und je 10 solcher Reihen übereinander in einem Paket<br />
zusammengepackt. Mit einem unbeschreiblichen Hochgefühl und sehr herzlichem Dank<br />
verlasse ich den Platz, finde das Wägelchen und bin bereits am Wege nach Oligopol. Die<br />
kranken Kinder erhalten die entsprechende Anzahl von Tabletten, die gesunden eine<br />
prophylaktische Dosis. Die Epidemie erlischt schon nach wenigen Tagen. Nach 2<br />
Wochen gibt es keinen frischen Fall. <strong>Ein</strong> gutes Gefühl, die liebe Dr. Tweg vergießt<br />
Tränen.<br />
Zu dritt in einem sauberen Z<strong>im</strong>mer, regelmäßige Mahlzeiten, das ist ein Leben in<br />
einer höheren Kulturstufe. Sogar einige Bücher gibt es, die uns ein alter Russe leiht, in<br />
englischer Sprache und schon einmal gelesen, wie Charles Dickens, David Copperfield,<br />
doch <strong>im</strong>merhin bedrucktes Papier und eindrucksvoller Inhalt. Auch <strong>im</strong> Bauernhaus ist es<br />
jedoch nicht <strong>im</strong>mer ruhig und gefahrlos.<br />
Anschließend an die kleine Küche, die Polia bewohnt, ist ein Z<strong>im</strong>mer mit großem<br />
Bett und Spiegel. Das bewohnt Anna, die Tochter des Hausherrn. Sie trägt ein Kind vom<br />
Korporal, der vor Monaten versetzt wurde, und den sie ehrlich liebte. Er schreibt ihr<br />
101
sogar noch, und sie schickt ihm Kisten mit Äpfeln. In diesem Z<strong>im</strong>mer ist Besuch,<br />
deutscher Besuch. Liuba, des Prätors Liebste, und Anna empfangen. Der Herr<br />
Unteroffizier, in Begleitung eines seiner Leute und eines ortsansässigen Interpreters, sind<br />
zu Gast. Anna bringt Samogonka, selbstgebrannten Rübenschnaps. Wir hören, wie<br />
eingefüllt wird. Der Feldwebel beginnt mit der Unterhaltung. “Also, wie heißt du,<br />
Mädchen, Liuba, und du?” “ Anna.” “Anna, das klingt ja gut, ein richtiger deutscher<br />
Name. Sag ihr das!” Der Interpreter übersetzt: “Er sagt du bist ein Deutsch.” Die<br />
Mädchen kichern. “Also, sagt mal, wie gefallen wir euch eigentlich? Frag sie!” Der<br />
Interpreter hat nicht verstanden, gibt weiter: “Er ist sehr zufrieden” und die Mädchen<br />
kichern, stoßen einander und sagen auf ukrainisch “zur Gesundheit” und ähnliches, das er<br />
wieder nicht versteht. Wir stehen eng aneinandergedrückt an der geschlossenen<br />
Verbindungstür und lauschen verhaltenen Atems. Man kann nie wissen, wozu so ein<br />
Besuch führt. Er kann in Trunkenheit schießen, es können Patrouillen kommen, und wir<br />
werden sicher dabei mitverwickelt und mitgenommen. Wir müssen dann rechtzeitig<br />
durch. Das niedrige Fenster in unserem Z<strong>im</strong>mer steht bereit, halb offen. Im Nebenraum<br />
wird es lauter, er spricht teutonisch, der Übersetzer hat es aufgegeben, die Mädchen<br />
kreischen und trinken. Anna ist berechnend, will viel Schnaps verkaufen, Liuba sucht das<br />
Vergnügen. Wir müssen nicht mehr fürchten, das das Knarren der Diele unter unseren<br />
Füßen drüben gehört wird, dazu ist der Lärm der Menschen und der Gläser schon zu laut.<br />
Da plötzlich eine Störung, ein Ukrainer erscheint, ein Dorfpolizist. Wir hören deutlich,<br />
wie er dem Interpreter sagt: “Der Herr Oberfeldwebel hat mich geschickt, daß der Herr<br />
Feldwebel gleich kommen soll zu ihm.” Der Feldwebel wird richtig böse: “Also, sag ihm,<br />
daß er ausrichten soll, daß er mich nicht gefunden hat, oder daß ich beschäftigt bin und<br />
nicht kommen kann.” Wirklich dumm. Der Ukrainer geht ab. “Und jetzt, Kinder, geht ihr<br />
mal alle hinaus und du, Kleine, wie heißt du nur mal, ja Liuba, Liuba heißt du, bleibst<br />
hier. Ja also, da fangen wir einmal an.” Es wird wieder ganz still. Wir halten Atem an.<br />
Die Diele knirscht, wenn wir nur von einem Fuß auf den anderen treten. Er schnaubt ein<br />
wenig, sie hört man gar nicht. “So, jetzt machen wir das Licht wieder groß.” <strong>Ein</strong> paar<br />
Stiefel trampeln laut auf, eine Tür geht. Von weitem hören wir Verhandlungen. Er zahlt<br />
wohl für das Genossene. Und dann wird es ruhig. Wir gehen jeder zu seiner <strong>Lager</strong>stätte<br />
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und kleiden uns endlich aus. Polia schluchzt ein paarmal leise. M., verschwindet, um sie<br />
zu trösten.<br />
Am nächsten Tage erscheint Liuba bei mir. Der Prätor hat sie geschickt, zur<br />
Untersuchung. Sein Tripper heilt trotz energischer Behandlung nicht aus. Er hat schon<br />
viele Tuben Sulfamide eingenommen und ist weiter krank. Er will wissen, ob sie nicht<br />
behandelt werden muß. Sie ist natürlich krank, hat bereits eine Ausbreitung des<br />
Entzündungsprozesses in den linken Eierstock, und er wird rückinfiziert. Ich sage ihr,<br />
was sie tun soll und frage sie so nebenbei um ihre Ansicht über die Deutschen. Sie ist<br />
nicht zufrieden. Sie taugen nicht, sagt sie, macht ein ernstes Gesicht und schüttelt den<br />
aschblonden Bubenkopf.<br />
Als Anna einige Monate später in die Wehen kam, da durften wir davon nichts<br />
wissen. Sie schämten sich vor uns. 3 Tage hörten wir ein Jammern und Stöhnen aus dem<br />
Nebenraum. Sie hat es mit den Lungen zu tun, sagte uns die alte Mutter und ließ uns<br />
nicht zu ihr. Dann wurde es plötzlich totenstill. 3 Tage später erzählte uns Vera, die nie<br />
ewas für sich behalten konnte, daß sie die arme Anna zu einem allein in seinen Feldern<br />
wohnenden Verwandten gebracht haben, und sie dort ein totes Kind geboren hat. Sie kam<br />
später zurück, blaß, mager und hustete viel. Jetzt waren es wirklich die Lungen. Die<br />
Arme saß stundenlang ruhig.<br />
Sonst ruht niemand <strong>im</strong> Bauernhaus. Der Alte fuhr schon vortags den Prätor mit<br />
Wagen zum nächsten Ort, kam abends betrunken, küßte jeden von uns und versicherte<br />
ihn seiner Liebe. Dann flüsterte er mir das Gehe<strong>im</strong>nis ins Ohr, daß ich ihm PIllen zur<br />
Auffrischung seiner Männlichkeit verschaffen müsse und versprach mir dafür Butter und<br />
Honig. Am Sonntag strich er seinen langen Schnurrbart, sang zwei Stunden lang mit<br />
fettem Baß Kirchen- und Liebeslieder durcheinander. Die Alte sang und trank mit ihm,<br />
am Ende erklang ein Lied mit unzähligen Dosvidanis. Zuletzt verprügelte er sie, <strong>im</strong>mer<br />
nur sie, denn Anna gab ihm die Samogonka. Schließlich schritt Vera energisch ein,<br />
schleppte die betrunkenen Alten aus dem Z<strong>im</strong>mer, schrie sie an, daß er große Augen<br />
machte, und hieß ihn hinlegen. So endete jedesmal das Sonntagsidyll in allgemeinem<br />
Frieden. Der kleine Sohn von Veras verstorbenem Mann, der kleine Wolodja, konnte<br />
einschlafen, und der Bräutigam, ein Schuster aus dem Dorfe, kam zu seiner Mutter. Vera<br />
war eine nüchterne, vernünftige, handgreifliche Person. Sie liebte auch <strong>im</strong> Krieg die<br />
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Realitäten. Sie bediente uns, nahm dafür Geld, kochte uns manchmal und aß mit, beerbte<br />
uns, als wir durchgingen, mit dem, was wir ihr ließen und ihr zur Übergabe an Andere<br />
anvertrauten.<br />
Der Bauer schichtet Holz und stellt Maisstroh an die Wetterwand des Hauses. Die<br />
warme Wand genügt nicht zur Erwärmung unseres Z<strong>im</strong>mers <strong>im</strong> kalten russischen Winter.<br />
Wir müssen einen kleinen Ofen aufstellen und Holz vorbereiten. Wir kauften Holz in<br />
Bündeln zu je 5 kg, das kam uns sehr teuer. Dann erkrankte der Forstmeister, wurde<br />
gesund und mit uns befreundet. Wir besuchten ihn öfters. Er bewohnte ein Häuschen<br />
nahe der Prätur. Es war einfach eingerichtet, sehr rein gehalten. Sie hatte ein blindes<br />
Auge durch eine Hornhautnarbe. Infolge einer verunglückten kosmetischen Operation litt<br />
sie dauernd an Schmerzen und Entzündungen. Man hatte versucht, die weißen Narben<br />
dunkel zu tätowieren, und das Resultat war eine Verdünnung der Hornhaut. Die<br />
geschädigten Stellen wölbten sich vor, und das Auge kam nicht zur Ruhe. Sie war nicht<br />
alt, über 40, doch sah sie wie eine Greisin aus. Bilder aus der Jugend zeigten sie als<br />
Sängerin und Schauspielerin einer Truppe in Nationaltracht und in verschiedenen<br />
Tanzpositionen. Jetzt hielt sie die Wohnung in Ordnung, versorgte das Vieh <strong>im</strong> Stall und<br />
die kleine Bauernwirtschaft. Immer gab es dort frische Kürbiskerne, in Salz gebraten,<br />
gute Kuchen und Schnaps. Wir besuchten die Förstersleute meistens zu dritt, M., P. und<br />
ich, aßen viel Kuchen und stopften uns die Taschen mit Kürbiskernen voll. M., als<br />
gewesener Bauerndoktor in ukrainischer Gegend, konnte sich am besten mit ihnen<br />
verständigen. Das Gespräch drehte sich um die vergangenen guten Zeiten, um Krieg und<br />
um die Front. Er hatte als Forstmeister mit den Behörden zu tun und erzählte uns<br />
manchmal Neuigkeiten aus erster Hand. <strong>Ein</strong>e Übersicht über die Weltlage hatten diese<br />
Leute nicht. Als von Landungen zur Bildung einer zweiten Front einmal die Rede war,<br />
fiel auch das Wort Dänemark. Was das ist, wollten sie gerne wissen. Er führte das<br />
Gespräch eine Weile fort und fragte dann so nebenbei, was Dänemark eigentlich bedeute.<br />
Wenn mehr Schnaps getrunken worden war, sang sie uns Lieder aus ihrer Jugendzeit, er<br />
hörte mit zufriedenem Lächeln zu. Dann machten wir Pläne für den Fall des Rückzugs<br />
der deutschen und rumänischen Armee, wählten einen stillen Platz <strong>im</strong> Walde aus, ein<br />
Wächterhäuschen abseits von allen Wegen, und besprachen, welche Lebensmittel und<br />
Bedarfsgegenstände hingeschickt werden müssen,<br />
104
Die schwere Zeit dieser Menschen trat erst ein, als er einmal gelegentlich einer<br />
Waldinspektion in einen Partisanenkampf geriet. Die Soldaten hießen ihn hinlegen. Er<br />
lag über 2 Stunden mit dem Gesicht <strong>im</strong> Kot, wurde dann zum nächsten Posten geführt<br />
und als Partisan gefangen gehalten. Versicherungen, daß er auf dem üblichen<br />
Inspektionsweg war, garnicht wußte, daß die Gegend von Partisanen besetzt sei, halfen<br />
nichts. Die Freunde und Arbeitsgenossen, Vorgesetzte, die ihn alle gut kannten, seine<br />
Gastfreundschaf genossen hatten und von seiner Harmlosigkeit überzeugt waren,<br />
machten sich unsichtbar. Die Frau kam allein auf den richtigen Weg. Mit 1,000 RM in<br />
der Tasche begab sie sich zum Gendarmerieposten, fand ihn nicht mehr, ging zum<br />
Kommando des Sektors, bestach den Feldwebel, den Zugführer, und kaufte ihn<br />
schließlich aus. Er kam nach Hause um Jahre gealtert. Vor dem <strong>Ein</strong>gang zu diesem<br />
Posten lagen noch einige Tage zu beiden Seiten je drei erschossene Partisanen. Als<br />
abschreckendes Beispiel ließen sie sie dort, wo jeder vorbeigehen mußte, liegen. Dieser<br />
Forstingenieur gab uns Anweisungen auf Holz.<br />
Das Holz war billig, doch der Transport vom Wald bis zu uns sehr teuer, viel teurer<br />
als der Holzpreis. Da kam ein alter Bekannter von uns und bot sich an, uns das Holz aus<br />
dem Walde zu bringen. Er hatte keine Angst vor den Partisanen. Diese nahmen nämlich<br />
den Bauern nur die Kolchospferde weg und schickten sie nach Hause. Die Bekanntschaft<br />
mit unserem Freund rührte noch vom Sommer her. Da kam er einmal mit seinem Sohn,<br />
der, wie er uns sagte, vom Pferd gefallen sei und seither nicht mehr gehen könne. Wir<br />
hoben ihn vom Wagen, legten ihn auf dem Boden nieder und begannen eine sorgfältige<br />
Untersuchung. Die Beine waren ganz, nicht einmal die Weichteile verletzt, dagegen die<br />
Genitalgegend schmerzhaft, der eine Hoden gechwollen. Munius <strong>Ein</strong>gebung führte rasch<br />
auf den richtigen Weg. Es bestand ein frischer Tripper mit Entzündung der<br />
Anhangsorgane. Er war also nicht vom Pferd gefallen. Er bekam Sulfamide und wurde<br />
bald gesund. Von daher stammte die Freundschaft und Anhänglichkeit der Familie. Wir<br />
gaben ihm unsere Holzzettel, er wagte sich in den Wald, hatte wohl auch dort Freunde,<br />
und brachte uns mehrmals je 1 Kubikmeter Holz. Wir sahen bald, das er bei uns nicht nur<br />
viel Geld nahm, sondern auch das Holz mit uns teilte. Er blieb trotzdem unser<br />
Holzlieferant. Seine Beredsamkeit, besonders in angeheitertem Zustand, überzeugte uns<br />
<strong>im</strong>mer wieder davon, daß kein anderer es besser machen könnte.<br />
105
Roll schwitzt, zieht laut den Atem durch die Nase ein—also, wir fahren. Er kommt<br />
aus Balta, der Bezirkshauptstadt, und ist begierig, die Neuigkeiten weiterzugeben. “Roll,<br />
setz dich, leg ab und erzähle in Ruhe, was du erfahren hast.” “Mit Vintila habe ich<br />
gesprochen, er sagt, es geht. Du bist zwar ein Hindernis, denn der Oberst kennt dich, und<br />
es kann ihm der Name auffallen, aber sonst geht es. Er will nicht mehr als 5 Personen<br />
nehmen und verlangt 15,000 pro Kopf. Der Plutonier muß die Listen aufstellen, und er<br />
wird sie dem Oberst zur Unterschrift vorlegen. Wenn wir erst einmal in Dorohoi sind,<br />
dann werden wir schon weiterkommen.” Die Sonderaktion der Repatriierung der<br />
gewesenen <strong>Ein</strong>wohner aus dem Bezirk ist <strong>im</strong> Gange. Die Gendarmeriekommandanten der<br />
Ghettos haben den Auftrag bekommen, Listen mit Angabe der Personaldaten aufzustellen<br />
und diese der Zentrale Balta einzusenden. Täglich kommen Gruppen von 20 bis 50<br />
Menschen durch den Ort. Sie fahren auf Wagen, machen Station <strong>im</strong> Ort, denn mehr als<br />
20-25 km kann ein Wagengefährt am Tage nicht zurücklegen. Roll ist nach Balta<br />
gefahren, um die Möglichkeit eines <strong>Ein</strong>schmuggelns einer kleinen Gruppe von nicht aus<br />
diesem Bezirk Gebürtigen zu studieren und kommt mit positivem Resultat zurück.<br />
Gleichzeitig hat er Salz für die Kantine gekauft, Zahnpaste besorgt, Medikamente bestellt<br />
und zahlreiche andere Aufträge erledigt. Roll ist ein Hans Dampf (ein Gechäftigtuer), gut<br />
zu gebrauchen für Wege und Aufträge, die einige Schlauheit erfordern, doch in<br />
lebenswichtigen Fragen ist bedachte Vorsicht am Platze. “Roll, warst du vorsichig? Hast<br />
du mit niemandem sonst dort gesprochen? Hat dich keiner von den Spitzeln gesehen?”<br />
“Es ist alles in Ordnung. Ich muß nur die Wagen bestellen und es unserem Prätor sagen.<br />
Der Feldwebel wird uns sicher alles geben. Das Geld muß man absammeln, für den einen<br />
und für den anderen.” Am nächsten Morgen spricht man in Balta und bald auch bei uns<br />
von der Abfahrt einer Gruppe. In Balta erfährt man alles. Dort gibt es einen Ghischer, der<br />
hat eine Schwester als Möbelstück <strong>im</strong> Polizeikommando, dort gibt es einen Joel Grauer<br />
und schließlich auch Paul mit seinen eigenen Verbindungen. Die Großen wechseln, es<br />
amtiert bereits der dritte Polizeikommandant, die Zuträger bleiben. Inzwischen wurde der<br />
Repatriierungsauftrag widerrufen, und das ganze Projekt fiel ins Wasser. Nicht<br />
nachtrauern, nicht Schicksal spielen. (Line missing?)<br />
In Obodovka gab es eine Schießerei mit toten und verwundeten Soldaten und<br />
Gendarmen. Am 1. Oktober werde ich hingeschafft. Anlaß ist der Zustand eines<br />
106
Gendarmen, der durch einen Lungenschuß ein mächtiges Hautemphysem entwickelt hat,<br />
unförmig geschwollen, schreckenerregend aussieht. Die Ortsärzte verlangten dringende<br />
Hilfe. Andere Gendarmen wurden so getroffen, daß sie auf der Stelle tot waren. Der<br />
zweitägige Aufenthalt gibt <strong>Ein</strong>blick in eine neue Seite des Ghettolebens. Im Ort ist<br />
gerade Menschenjagd. Das gibt es so ungefähr zwe<strong>im</strong>al <strong>im</strong> Monat. Dahinter steckt ein<br />
Jude, Moishe Grünberg. Dieser stiehlt, raubt, befiehlt, denunziert jeden, der sich<br />
widersetzt. Dieser Mann erfand die Methode, die Anforderung von Menschen für<br />
Arbeiten auf weite Entfernung, benutzte dazu die bestechlichen Amtspersonen, dann<br />
taten diese es allein, und zuletzt erpreßt jeder Gendarm auf eigene Rechnung. Diesmal ist<br />
es Ernst. Man verlangt 50 Menschen für den Bau eines Flughafens. Alles Männliche<br />
flüchtet, versteckt sich. Aus 50 werden 100 und 150, Lösegeld wird gezahlt, Schrecken in<br />
den Häusern derjenigen, denen M.G. es zurückzahlt, jeder zeigt jeden an, daß dieser Geld<br />
besitzt, jener Dollar, daß dieser einen Brief erhalten hat, als Folge Untersuchungen,<br />
Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und am Ende Bestechungen der Behörden. Besuche<br />
der höheren Funktionäre, die ihren Teil abschöpfen, sind in dieser Ortschaft häufig.<br />
<strong>Ein</strong> schwunghafter Handel in Gold, Valuten, Wertgegenständen und Medikamenten<br />
blüht. Dabei leben die Menschen, die Wertgegenstände besitzen, in größtem Elend, so<br />
elend, wie es nur ein Augenzeuge selbst mitfühlen kann, Lehmboden, Bank, kein Topf<br />
und kein Teller, Schmutz und Finsternis, um nur nicht aufzufallen.<br />
Das Ghetto hat einen neuen Vorsteher (J. Rössler). Sie sagen, er habe eine kurze<br />
Hand. Seine Sparsamkeit erstreckt sich auf viele Gebiete. Das Spital leidet darunter<br />
besonders schwer. Es gibt <strong>im</strong>mer noch Typhus-Kranke, doch keinen Tropfen Lysol, kein<br />
Licht, keinen Fetzen. Er sagt, er hat zu den Ärzten kein Vertrauen. Die nehmen für jede<br />
Injektion 15 Dollar, für ein Medikament ein Goldstück, haben Geld angehäuft und jede<br />
gewissenhafte, ärztliche <strong>Ein</strong>stellung zum Kranken verloren, denken nur an Gold und<br />
Dollar. Sie sind für ihn diskreditiert. Richtig oder falsch, die armen Kranken sind die<br />
Opfer.<br />
In dieser Nacht sitzen um mich herum die überlebenden Landsleute und erzählen<br />
alle als erstes von ihren Verlusten, hier der Mann, dort die Kinder, Frau, Eltern, 40,000<br />
Tote in Massengräbern. Man sammelte sie täglich ab, lud sie auf Karren und schaffte sie<br />
fort. Von 14 Menschen in kleinem Raum wurden 10 hinausgetragen. Das Elend von<br />
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41/42, Hunger, Krankheit und tausende Opfer, hat sie verändert, hat sie kalt und grausam<br />
gemacht. Sie verstehen es nicht mehr anders. Sie setzen den damals natürlichen<br />
biologischen Kampf um das nackte Leben in dieser Zeit fort, in der Betrug, Erpressung,<br />
Denunziation und rücksichtslose Ausbeutung alltäglich sind. Sie verstehen nicht, daß sie<br />
ohne Gold und Dollar nicht so erpreßt werden würden, sich gegenseitig nicht so fürchten<br />
und hassen müßten. Die vielen Erzählungen sind alle Anklagen und laufen daraus hinauf:<br />
Als die Kleider von der Zentrale kamen, da nahm M.G. die besten Sachen und verkaufte<br />
sie. Die Unzufriedenen zeigten ihn an, der Plutonier konfiszierte alles und nahm seinen<br />
Teil. Den Rest übergab er einigen Verbrechern zum Verkauf. Die Bedürftigen bekamen<br />
nichts. Als Medikamente in der bösesten Zeit eintrafen, führte derselbe Weg zu Gaunern<br />
und Verbrechern und nicht zu den Kranken. Organisation, Belehrung, brutale<br />
Unterdrückung (p.19 of this section missing)<br />
In Balta gibt es 2 Brücken über den kleinen Fluß. Über die eine führt die Straße<br />
zum Bahnhof, sie ist für Normalmenschen best<strong>im</strong>mt. Da steht ein Posten auf Wache. Die<br />
andere ist für Ghettoinsassen. Am <strong>Ein</strong>gang in das Ghetto, gleich wenn man die Brücke<br />
überschritten hat, steht ein kleines Haus. Der Hofflügel des Hauses ist zerstört, die Wand,<br />
die noch steht, wird als Pissoir benützt. Das Vorderhaus hat einige zur Not erhaltene<br />
Räume. Hier tagt die Ghettoverwaltung, und in einem größeren leeren, scheunenartigen<br />
Raum mit verfaultem Boden, eingesunkener Decke, gibt es einen Holzverschlag mit Tür<br />
und Schloß, da waltet Paul seines Amtes. Er wurde seinerzeit aus dem <strong>Lager</strong> entlassen,<br />
um diese Funktion, die Organisierung der Arbeit der Ghettobewohner, zu übernehmen.<br />
Die Freundin des Gouverneurs in Odessa, eine Fliegerin, hatte wieder eine Freundin , und<br />
durch diese wurde die Sache arrangiert. Er war als Anwalt in Kommunistenprozessen zur<br />
Deportation und Haft verurteilt, und dieses Amt bedeutete teilweise Freiheit. In der ersten<br />
Zeit versagte er, ließ alles seinen Lauf nehmen. Bestechung, Erpressung, Aushebung und<br />
Auslösung der hilflosen Menschen ging weiter und wurde noch durch seinen Namen<br />
gedeckt. Seine Nerven versagten. Der einst große Anwalt, Denker und Redner hatte<br />
Zuckungen um den Mund und war in tiefer Depression. Doch dann riß er sich zusammen,<br />
und seine <strong>im</strong> Innern aufrechte, ehrliche Art kam zum Vorschein. Die kleinen Schieber<br />
und Gauner unterordneten sich ihm willig, die anständigen Elemente ließen sich gerne<br />
zum Guten führen. Jetzt saß er in seinem Büro, dem Bretterverschlag, und arbeitete an<br />
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seinen Akten. <strong>Ein</strong>e große Sendung war angekommen, Hemden, Anzüge, Schuhe,<br />
Hosenträger, Hüte, Zylinder und Fräcke, und eine ganze Waggonladung Medikamente.<br />
Paul ließ kein Hemd hinausgehen ohne 3-fachen Akt: Protokoll aufgenommen am so und<br />
sovielten, ich, Paul M., als Übergeber, das Ghetto X als Empfänger, Unterschrift des<br />
Empfängers, des Ausfolgers, in 3 Exemplaren, für das Zentrum Bukarest, für sein Amt<br />
und für den Empfänger. Inzwischen waren die russischen Armeen bis Jitomir<br />
vorgestoßen. Um uns war ein Drängen und Laufen. Wir hörten, Mannerhe<strong>im</strong> habe sie<br />
wieder bis Kiew zurückgedrängt. In zäher Beharrlichkeit gingen die Armeen der Russen<br />
ein zweites Mal in dieselbe Richung vor, kamen bis an die Sümpfe und drangen nach<br />
Süden vor, wieder Aufregung, Laufen, Räumung, fast schon Fluchtst<strong>im</strong>mung. Paul<br />
schreibt Akten, dicke Bücher, wird mit seiner Arbeit nicht fertig, traut niemandem,<br />
schreibt und schreibt. Die Medikamente können nicht verteilt werden, denn die Inventare<br />
aus Bukarest sind noch nicht eingetroffen. “Paul! Inzwischen werden sie uns<br />
weggenommen werden. Verteilen wir sie und vergleichen wir nachher unseren Befund<br />
mit den Inventaren, die nach Monaten eintreffen können. Alle Ghettos warten doch auf<br />
die Medikamente. Es kann dir passieren, daß plötzlich alles drunter und drüber geht, und<br />
du mit den Medikamenten dastehst. Glaub mir, die rote Armee braucht unsere paar<br />
Aspirine nicht, und für die Gemeinden ist es ein Schatz, eine Lebensfrage. Also?” “Nein,<br />
ohne Inventar arbeite ich nicht.” “Paul, ich will dir eine Geschichte erzählen, und dann<br />
lasse ich dich arbeiten. Weißt du, wie die österreichische Monarchie auseinandergefallen<br />
ist, da hat man einem Hofrat in einem Ministerium bedeutet, nach Hause zu gehen. Der<br />
hat dem Führer der bewaffneten <strong>Ein</strong>dringlinge gesagt: ‘Aber meine Herren, das ist doch<br />
ganz unmöglich, ich habe noch eine Menge Akten nicht aufgearbeitet.’ So wird es dir<br />
ergehen. Du wirst in den Akten stecken, Bestandsaufnahmen, Abrechnungen, die keiner<br />
von dir verlangt, machen, und dann wirst du aufschauen und sehen, daß alles<br />
davongelaufen ist.” “Schon gut, ich weiß, was ich zu tun habe. Mir hilft niemand, alles<br />
muß ich allein machen, und du störst mich auch noch.” Erst mittags in seiner<br />
bescheidenen Stube, wenn Sonja ihm milde ihre Hand über den Kopf fährt, ändert sich<br />
sein Gesichtsausdruck und der Ton. Er kann lächeln, er denkt ruhig. “Ich muß mit den<br />
Banditen auskommen, von denen wir abhängig sind, und muß zusehen, daß das Gesindel,<br />
das mich umgibt, nicht stiehlt. Ich weiß von jedem, in wessen Dienst er als Agent steht.<br />
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Die Großen wissen, daß ich ehrlich bin, darum achten sie mich und behandeln mich<br />
anders als den Ghischer, Willens und Joel Grauer. Du kennst sie ja alle. Willens is ein<br />
Bandit, ein Verbrecher. Ich habe ihm unlängst wieder einmal gesagt: ‘Du gehörst für<br />
deine Verbrechen aufgehängt und wirst aufgehängt werden.’ Doch ist der Zeitpunkt nicht<br />
opportun, denn es könnte schlechte St<strong>im</strong>mung für uns alle machen. Ghischer’s Methode<br />
ist einfacher. Willens schickt eine fremde Frau zu dem Offizier. Ghischer ist der ständige<br />
Schwager des Gendarmerie-Inspektors. Jetzt ist der vierte schon hier <strong>im</strong> Dienst, und<br />
wenn er den Dienstraum betritt, so findet er die Akten am Schreibtisch und Ghischers<br />
Schwester als Möbelstück vor. Er ist dann der Zuträger und macht die Geschäfte. Gegen<br />
die alle kann man nicht auftreten. Ich kann auch wegen Moishe Grünberg nichts tun. Er<br />
richtet die Leute in Obodovka zu Grunde, fingiert Aushebungen, erpreßt sie, sperrt<br />
zusammen mit dem Gendarmerie-Kommandanten Menschen, bei denen er Geld<br />
vermutet, ein, delogiert Leute und läßt sie ins <strong>Lager</strong> sperren und erzieht die Gendarmerie<br />
zur Erpressung. Ich weiß auch, was er früher getan hat, daß er den Leuten, die gestorben<br />
sind, die Zähne mit dem Stiefel aus dem Mund geschlagen hat, um das Stückchen Gold<br />
herunterzunehmen, daß er sie erfrieren ließ, um zu den Zähnen zu kommen. Alles weiß<br />
ich und kann nichts tun, denn er liefert dem Oberst Gavot einen Teil ab, hat von ihm<br />
einen Schein und kann frei in Transnistrien reisen. Der Prätor und die Ortsgendarmen<br />
haben vor ihm Angst. Übrigens hat er sich unlängst etwas echt Amerikanisches geleistet.<br />
Es wurden bei einem Juden 2,000 Dollar gefunden. Sie wurden beschlagnahmt und der<br />
Mann wegen Nichtablieferung ausländischer Valuten ins Kriegsgericht Tiraspol gebracht.<br />
M.G. hat davon erfahren. Prompt fährt er hin und macht mit dem Gerichtsbeamten, der<br />
den Akt aufbewahrt, ein Geschäft. Die 2,000 Dollar aus den Akten werden gegen falsche<br />
Dollarnoten, die G. mitgebracht hat, eingetauscht. Alle Beteiligten sind zufrieden und<br />
auch der Angeklagte. Er kann sagen, daß er diese falschen Dollar gar nicht abliefern<br />
mußte. Das sind die Leute, gegen die ich aufkommen muß. Jetzt schickt mir die Zentrale<br />
diese vorlaute Kommitteedame, Frau Pa., und das Fräulein Po. auf den Kopf. Die geht in<br />
das Ghetto und findet ein bloßfüßiges, halb erfrorenes Kind, n<strong>im</strong>mt es mit, streichelt es,<br />
läßt es von Kopf bis Fuß anziehen und meint wer weiß, was sie damit getan hat. Dann<br />
kommen hundert andere Kinder und rennen mir die Tür ein und lassen mich nicht<br />
arbeiten. Wenn ich über die Straße gehe und sie mir nachlaufen, stoße ich mit den Füßen<br />
110
nach ihnen. So desorganisiert sie mir die ganze Arbeit mit sent<strong>im</strong>entalen <strong>Ein</strong>zelaktionen.<br />
Ich will die genaue Situation erfassen, ins Gendarmerie-Kommando gehen, den<br />
unmöglichen Zustand vortragen und versuchen, so viele wie möglich von den<br />
unglücklichen Waisenkindern, die auf den Straßen herumliegen, zu retten. Keiner hilft<br />
mir, alle stören mich nur dabei. Darum habe ich dich kommen lassen.” “Weißt du, Paul,<br />
es ist hier ein solcher Wirbel, daß ich mich überhaupt nicht mehr auskenne. Du machst<br />
Listen, Willens macht Listen, die Gendarmerie macht Listen, es strömen tausende Leute<br />
zusammen, ganze Familien, der Vater auf der Liste als Bub unter 15 Jahren, die Mutter<br />
als junges Mädchen und die Kinder als Waisenkinder, man handelt um Plätze und zahlt<br />
für ein rotes Plus auf deiner Liste Geld.” “Ich weiß genau, was los ist. Nur kann ich<br />
gegen unsere Verbrecher nicht aufkommen. Sie arbeiten mit den Gendarmerie-Offizieren<br />
zusammen und teilen mit ihnen das erpreßte Geld. Dem Willens habe ich gestern noch<br />
einmal gesagt, daß er ein ganz gemeiner Bandit ist. Ich sagte ihm wörtlich: ‘Willens, du<br />
mußt aufgehängt werden.’ Doch scheint mir unsere jetzige Situation nicht dafür geeignet.<br />
Die Umstände sind, daß ich sie derzeit sogar schützen werde. Ich weiß nicht, ob ihr mich<br />
versteht.”<br />
In diesem Milieu mußte Paul arbeiten. Sein Amt stand vor einer großen Aufgabe,<br />
der Repatriierung der alleingebliebenen Waisenkinder. Die Angelegenheit hatte sich<br />
folgendermaßen entwickelt. Die gütige Königinmutter hatte monatelang nach Stalingrad<br />
ihr warmes Herz entdeckt und die Bitte des Zentralkommittees erhört, Kinder aus<br />
Transnistrien, die Vater und Mutter durch Terror und Typhus verloren hatten und<br />
seelenallein herumirrten, in die He<strong>im</strong>atgemeinden zurückzunehmen. Ihre Anregung<br />
wurde von der Regierung gnädigst bewilligt.<br />
Im August kamen 2 junge Menschen <strong>im</strong> Auftrage der jüdischen Landeszentrale und<br />
mit Bewilligung der Behörden, bereisten die Ghettos des Bezirkes und sprachen mit den<br />
Leuten und den Gemeindevorstehern. Sie haben sich viel darauf eingebildet, daß sie als<br />
erste bis in die Kolchosen kamen, wo sie unbekleidete Menschen <strong>im</strong> Stroh lebend sahen.<br />
Der begleitende Feldwebel wollte nicht bis zu den Ställen, in denen die Menschen lagen,<br />
gehen, so stark war der Gestank, der ihnen entgegenkam. In jedem Ghetto verlangten sie<br />
eine Liste der Waisenkinder bis 12, bis 15 und bis 18 Jahre. Die beiden reisten mit den<br />
111
lückenhaften Listen befriedigt ab. Willens und die anderen witterten schon damals das<br />
große Geschäft und begannen, vorzuarbeiten.<br />
Der große Tag der Repatriierung nahte heran, der gute, anständige Paul M. rief<br />
mich vom nahen Oligopol nach Balta zu Hilfe. Er konnte allein nicht weiter. Wie es dann<br />
kam, sagen die sorgfältig am gleichen Tage mit allen <strong>Ein</strong>zelheiten aufgezeichneten<br />
Schriften. So geschah es in Balta an einem Spätherbsttag des Jahres 1943.<br />
<strong>Ein</strong> Karree <strong>im</strong> Freien auf einem großen, schmutzigen Platz. Im Hintergrund das<br />
Magazin des Ghettos, die Kooperativverkaufszentrale, eine Tarnung für eine direkte<br />
Geldhilfe durch die Zentrale, und ein Holzhäuschen mit 2 Kabinen, das einzige Klosett<br />
des Ghettos. Uneben ist der Platz, lehmig, kotig, besonders in der Nähe des Klosettes,<br />
voll mit Steinen, Sand und Mauerwerk an anderen Stellen. Im Karree stehen Kinder, ganz<br />
kleine, von 2 bis 4 Jahren, und größere bis hinauf zu 16, hinter den Kindern, vor ihnen,<br />
auf und ab laufend, mit Listen in der Hand und ernsten Mienen, die Gemeindefunktionäre<br />
der einzelnen Ghettos, die sie herbrachten. Die Kinder sollen repatriiert werden. Sie sind<br />
allein geblieben, die Eltern erschossen, verhungert, verkommen. Im Sammelhe<strong>im</strong>, bei<br />
Angehörigen, bei Ukrainern sind sie aufgewachsen, mit 10 Jahren haben viele schon auf<br />
eigenen Füßen gestanden und auf Befragen stolz geantwortet: “Ich bin Spekulant.” Doch<br />
jetzt sollen diese Kinder gerettet werden, zurückgebracht werden aus dem Niemandsland<br />
in das Stammland, zu ihren Glaubensbrüdern. Der Sieg ist gar nicht mehr so sicher.<br />
Odessas Eroberung war eine stolze Waffentat. Die Toten sind tot geblieben, doch die<br />
Stadt ist in Gefahr. Sie wird wieder verloren gehen. Es kann nicht schaden, jetzt Milde zu<br />
zeigen und die restlichen Waisenkinder zurückzubringen. Waisenkinder, das rührt ans<br />
Herz, man kann gar nicht wissen, wozu das später gut sein wird. Man wird vielleicht gar<br />
nicht fragen, wer sie zu Waisenkindern gemacht hat und nur die gute Tat gelten lassen.<br />
Die Zentrale hat 2 junge Leute geschickt, anständige, ängstliche, ehrliche und einfache<br />
Leute, um den Bestand aufzunehmen, Kinder bis zu 6 Jahren, von 6 bis 16, und sogar bis<br />
18, für eine spätere Bewilligung durch Intervention der Königinmutter. Man wird ihr ans<br />
Herz legen, daß viele Mädchen darunter sind, Mädchen von 16 bis 18, allein und<br />
schutzlos zwischen wilder Soldateska, Verbrechern, entlassenen Kriegsgefangenen und<br />
herumvagabundierenden Partisanen. Solche Details wirken mehr als die<br />
Bestandaufnahme, zu Zahlen erstarrt. Die beiden Gesandten hatten es eilig. Sie fühlten<br />
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sich unter diesen Juden, die sich von ihnen nur dadurch unterschieden, daß sie in den 2<br />
Jahren <strong>Lager</strong> und Ghetto ihr Fett, ihre Kleider und ihre Familienangehörigen verloren<br />
hatten, sichtlich nicht wohl. Der Mensch denkt in Vergleichen und beurteilt alles nach<br />
sich. Wenn wir die ersten gewesen wären? Schrecklich, nicht auszudenken. Aber, Gott<br />
sei Dank, wir fahren in einigen Tagen nach Bukarest zurück und werden alles für die<br />
armen Menschen tun, die unschuldig so Schreckliches erleiden. Inzwischen brauchen wir<br />
die Liste der Kinder, rasch, denn wir müssen bis morgen Abend noch Berschad,<br />
Tschitschelnik, Pisczenka und die kleinen Dörfer in der Umgebung erledigen. Sie taten<br />
wirklich alles, was sie tun konnten, nur etwas zu rasch. Dann fuhren sie fort und nach<br />
Monaten kam der Auftrag, die Kinder bis 16 zum Transport nach Balta, der<br />
Bezirkshauptstadt, zu schicken. Das Wandern begann. Ganze Familien machten sich auf<br />
den Weg, das Kind als Waisenkind, Vater und Mutter <strong>im</strong> Vertrauen auf ihr jugendliches<br />
Aussehen als Kinder unter 16 Jahren. Sie fuhren auf Wagen und Schlitten, stampften mit<br />
in Fetzen eingehüllten Füßen durch den Frühschnee, nach Balta zur Repatriierung. Die<br />
Gemeindefunktionäre stellten die Listen auf, ließen sie von den Ortsgendarmen für Geld<br />
unterzeichnen, mieteten die Fahrzeuge, beluden sie mit Salz, Mehl und anderen<br />
Produkten und gingen mit. Bei jeder Aktion fiel Geld für sie ab, und jede Reise ließ sich<br />
mit Geschäft verknüpfen. Die gewerbsmäßigen Vermittler wollten sich das Geschäft<br />
nicht entgehen lassen. Sie mieteten einen Offizier, ein Auto, und fuhren von Ort zu Ort.<br />
Ihre Taxen waren höher, 1,000 bis 6,000 RM, denn sie hatten Beziehungen, Beweis: der<br />
Offizier. Wer in ihren Listen einen Platz bekommt, is so gut wie durchgekommen. In<br />
Balta schlafen die Menschen in dem stallähnlichen Vorraum der Gemeindekanzlei, in den<br />
Hausruinen, auf der Straße. In jeder Wohnung ist drei- bis vierfacher Belag. Der<br />
Verantwortliche für die Juden des Ghettos, der anständige, liebe Paul, ist verzweifelt. Die<br />
Motive der Bedrücker sind uns gleichgültig. Es müssen so viele wie möglich durch diese<br />
Aktion gerettet werden. Die weißhaarigen Frauen und die bärtigen Männer, die auf ihr<br />
Recht, für 16-jährig zu gelten, pochen— sie haben ja dafür gezahlt—werden das ganze<br />
Rettungswerk diskreditieren und zunichte machen. Und da sitzen wir nun Tag und Nacht<br />
in der engen Stube der Gemeindekanzlei, draußen in Schnee und Kot Tausende der<br />
Unglücklichen. Wir lassen jeden, der hineinkommt, vorbeigehen, notieren seinen Namen<br />
und sehen ihn nur an. Wer irgendwie jung, wie 18, wie 20, das abgestumpfte Auge<br />
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verschiebt die Grenze <strong>im</strong>mer mehr nach oben, wer nur nicht wie sein eigener Vater<br />
aussieht, der erhält in unserer Liste ein rotes Zeichen. Mit uns am Tisch sitzen die<br />
Vertreter der Gemeinden. Der Mensch wird müde und hat auch seine Bedürfnisse. 5<br />
Minuten hat die Unterbrechung gedauert. Schon be<strong>im</strong> <strong>Ein</strong>gang rufen sie uns entgegen,<br />
daß die Hinzufügung eines roten Kreuzes für 50 Mark verkauft wurde. <strong>Ein</strong> roter Bleistift<br />
hatte sich gefunden. Und da erscheint mitten drin Willens, ein Gewerbsmäßiger, mit einer<br />
Liste, für die er bereits die <strong>Ein</strong>willigung des Obersten hat und die en bloc zu übernehmen<br />
ist. “W”, sagt ihm Paul, “meine Meinung über dich kennst du. Du gehörst schon lange<br />
aufgehängt. <strong>Ein</strong> Baum steht vor der Tür, und ein Strick ließe sich finden, doch ist <strong>im</strong><br />
Augenblick nicht der geeignete Moment dafür. Es wird ein schlechtes Licht auf uns alle<br />
werfen, denn du bist ja leider genau so ein Jude, wie wir alle hier.” Dann kommen die<br />
Protektionen, die Interventionen, die sich an Gefühl, Verstand und Ehre wenden. Diesen<br />
verfolgten Partisanen müsset ihr durchlassen, die 3 Töchter dieses berühmten Rabbis,<br />
eche Waisenkinder, das ist Tatsache, meine Kinder mußt du retten, wir waren doch<br />
Schulkollegen, und ich kann sie nicht allein fahren lassen und sehe selbst gar nicht so alt<br />
aus, dann Kranke, Gebrechliche, die nicht allein gehen können, und viele andere mehr,<br />
alle unglücklich, elend und den Strohhalm ergreifend. Die Töchter des Rabbis sind<br />
wirklich Waisenkinder, zwischen 35 und 45, die älteste weißhaarig, der Partisane hat<br />
dicke, schwarze Bartstoppeln, die Kranken sind wirklich krank, nur zu alt, um noch als<br />
16-jährig zu gelten. Die Masse der Großen erdrückt die Kinderaktion.<br />
Gegen Morgen erscheint in martialischer Tracht und Geste der Polizeikommandant,<br />
Oberst Biolan. Seine Worte: “Ich kenne euch, ich weiß, was ihr tuet, meine Antennen—<br />
er hebt malerisch seine Arme und spreizt die beringten Finger—melden wir alles, aber<br />
auch alles, was hier geschieht. Ihr überschwemmt meine Stadt mit Fremden, mit<br />
Verdächtigen, ihr schmuggelt Menschen aus den Ghettos, ihr—ich werde euch— ”, die<br />
St<strong>im</strong>me hebt sich und geht in Schreien über, Erschießen, Erhängen und die übrigen,<br />
üblichen Drohungen.<br />
Am Vormittag platzt die Bombe. <strong>Ein</strong> Telegramm aus Bukarest verfügt, daß die<br />
ursprüngliche Liste von 437, die die beiden Delegierten seinerzeit mitnahmen, vom<br />
Ministerpräsidium gewilligt wurde und die einzige Basis für die Repatriierung bleibe,<br />
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Tausende Hoffnungen ersterben. Es hatte wieder geschneit, Geld gab es nicht, das hatten<br />
die Vermittler, zu Fuß zurück sind es viele Tagesmärsche in feuchtem Schnee.<br />
Doch das Geschäft ist noch nicht zu Ende. Im Niemandsland gibt es keine<br />
Dokumente, daher auch kein Alter und noch weniger einen Namen. Schon <strong>im</strong> ersten<br />
Übergangslager wurden die Papiere der Ausgestoßenen vernichtet. Man kann Lücken<br />
ausfüllen, wo Kinder fehlen, man kann Lücken schaffen. Die Taxen werden entsprechend<br />
höher, der Oberst selbst muß beteiligt werden, und der bekommt mehr als ein einfacher<br />
Jude.<br />
Zum Zwecke der Identifizierung standen nun die 437 <strong>im</strong> Karree auf dem<br />
schmutzigen Ghettoplatz in Balta. Die Versorger waren aufgeregt. Es ging um das<br />
Geschäft. Die Kinder waren schmutzig, verfroren und schrecklich müde. Zuerst geschah<br />
lange nichts. Dann wurde ein Tisch in die Mitte geschafft und einige Stühle. Die Kinder<br />
wichen zur Seite, machten Raum für die Gendarmen, die sie trugen, und schlossen die<br />
Reihen hinter ihnen. Dann kamen die Gendarmen des Ordnungsdienstes. Sie erweiterten<br />
das Karree. Die Kinder drängten automatisch wieder vor. Die Gendarmen stießen die<br />
Kinder zurück, die Begleitpersonen halfen durch Zureden und Bracchialkraft. Und dann<br />
wartete man wieder. Militär heißt <strong>im</strong>mer warten. Die Kinder wurden ungeduldig,<br />
hungrig, einige benützten die Umgebung der Latrine, andere gingen zu Freunden und<br />
Verwandten, die in der Nähe herumstanden, die Kleinsten hockten am Boden und<br />
spielten mit Sand und Steinchen. Die Reihen lockerten sich auf. Die Gendarmen standen<br />
in Gruppen, die Vermittler sprachen miteinander und suchten die Absichten der<br />
Gegenseite auszuforschen.<br />
Dann kam der große Augenblick. Mehrere Wagen rasselten über die Brücke, die<br />
das Ghetto mit der Stadt verband. <strong>Ein</strong>e Gruppe von Militärpersonen näherte sich dem<br />
Platze. Der Oberst selbst erschien, einfach und würdig, mit viel Gold auf den Achseln,<br />
außer ihm einige Offiziere, darunter auch Lubin, der Geschäftsreisende, mit<br />
unausgeschlafenem, neugierigem Gesicht und der Kanzleifeldwebel mit einigen<br />
Unteroffizieren. Auch der Gendarmerie-<strong>Arzt</strong> war dabei, der kleine Cioraseanu, mit<br />
gemütlichem Lächeln als unbeteiligter Zuschauer. Akten werden auf den Tisch gelegt,<br />
Stühle gerückt. Die Kinder liefen zu ihren Gruppen, die Gendarmen geradeten das Karree<br />
aus, die Vermittler und Gemeindefunktionäre standen andächtig zur Seite ihrer Gruppe.<br />
115
Der erste Name wird gerufen, ein Kind von seinem Begleiter an den Tisch gebracht.<br />
Der Oberst spricht es rumänisch an, und es antwortet richtig in dieser Sprache. <strong>Ein</strong>e<br />
detektivische Leistung! Aus der Sprache ist die Herkunft wirklich in vielen Fällen zu<br />
erkennen. Nur hatten viele dieser Kinder ihr Rumänisch schon längst vergessen oder auch<br />
noch nie gehört. Doch dieses Kind gab genau an, was es sagen sollte, Geburtsdatum,<br />
Herkunft, Tod der Eltern. Der Anfang war gut, und so hätte es weitergehen sollen bis<br />
Nummer 437. Schon das zweite Kind meldete sich nicht auf Anruf. Vielleicht spielte es<br />
irgendwo, der historischen Stunde nicht bewußt, mit Sand und Steinchen, vielleicht stand<br />
es zu weit, um zu hören, und der Vermittler wollte sich den Platz für später <strong>Ein</strong>gekaufte<br />
freihalten. Auch der Oberst hatte Interesse an freien Plätzen, denn er war ja auch an den<br />
Erträgnissen beteiligt. Der junge Offizier machte Willens ein Zeichen, und dieser wies<br />
auf seine Liste. Alles war gut geordnet. Dann kamen 2 Namen, und die Kinder waren<br />
prompt zur Stelle. Der Bürgermeister von Berschad war vorsichtig gewesen. Er hatte<br />
seine beiden Kinder schon damals, als die beiden Herren aus Bukarest kamen, als<br />
Waisenkinder eintragen lassen. Jetzt ertönten die ersten Rufe. “Das sind gar keine<br />
Waisenkinder. Die haben ja beide Eltern. Wir werden da bleiben, und er wird seine<br />
Kinder schicken!” Die Reihen rückten näher zu einander, die St<strong>im</strong>men wurden lauter.<br />
Nicht umsonst hatten die zehnjährigen Spekulanten ihre St<strong>im</strong>men <strong>im</strong> Straßenverkauf<br />
geübt. “Sie werden nicht fahren, wir werden sie nicht fahren lassen!” Die in Sackfetzen<br />
gehüllten, ausgemergelten Kinder von Florina nahmen den Ruf auf. Alle ihre Gier nach<br />
Essen, Kleidung steckten sie in ihre Schreie. “Warum n<strong>im</strong>mt er uns nicht? Wir werden<br />
fahren!” Sie drängten vor von rechts, von links kamen die anderen, von oben und unten<br />
drängten sie zum heiligen Tisch in der Mitte. Die Gendarmen stießen, schlugen, schrien,<br />
nahmen die Gewehre ab und gebrauchten die Kolben. Die kleinen Kinder schauten<br />
erstaunt von ihrem Spiel auf, und in der Mitte standen verängstigt die beiden<br />
wohlgekleideten Kinder des Bürgermeisters. Die Offiziere hatten sich erhoben, fuchtelten<br />
entrüstet mit den Armen. Der Oberst sprach offenkundig beruhigende Worte, doch kam<br />
kein Laut durch den Lärm. Dann erreichten die vordrängenden Kinder den Tisch, der<br />
Lärm, das Schreien wuchs ins Unendliche. Im wirren, brüllenden Menschenhaufen<br />
bildeten die Gendarmen eine Gasse, durch welche die Offiziere und ihre Begleiter<br />
abzogen. Es dauerte lange, bis die wild gewordenen Kinder müde wurden. Der Oberst<br />
116
117<br />
war über die Disziplinlosigkeit indigniert. Er suchte und fand schließlich einen anderen<br />
Weg, um die Aktion durchzuführen und dabei selbst nicht zu kurz zu kommen.<br />
Am Ende wurden die Waggons von Soldaten durchsucht, die Waisenkinder, die<br />
sich <strong>im</strong> Stroh verkrochen hatten, ausgeräumt und die eingefüllt, die auf verschiedenen<br />
Wegen zuletzt doch noch in die unkontrollierte, erste Liste hineinkamen. Der<br />
Rettungszug fuhr in Begleitung zweier Delegierten der Zentrale ab, und die grausamen<br />
Probleme am Ort blieben ungelöst.<br />
Zum Herbst zu verstärkte sich die Tätigkeit der Partisanen. Wo gibt es eigentlich<br />
Partisanen? Das war eine sehr wichtige Frage, eine Sicherheitsfrage für das Militär und<br />
für die amtierenden, <strong>im</strong> Volke verhaßten Behörden. Um diese Frage zu klären, mußten<br />
zuerst gute Karten angefertigt werden. Solche gab es nicht. Der Landstrich zwischen<br />
Dniester und Bugfluß bildete niemals eine politische oder wirtschaftliche <strong>Ein</strong>heit. Die<br />
Begrenzung nach Ost und West war durch die beiden Flüsse gegeben, nach Süden durch<br />
das Meer, und an diesem lag die Hauptstadt Odessa. Nach Norden gab es keine natürliche<br />
oder bereits anerkannte Grenze.<br />
Woher die Kartenzeichner nehmen? Wir lieferten sie. Intelligente Menschen mit<br />
guter Schulbildung, die Karten lesen können und geschickt sind, können sie auch<br />
zeichnen. Bruno zeichnet in unserem Polizeikommando, bewährt sich glänzend, zeichnet<br />
in Sawami, in Balta und zuletzt schon als Fachmann in Tiraspol und setzt stolz ein “fecit<br />
Ing. Bruno” in die Ecke. Er lernt andere an, und schließlich sitzen in verschiedenen<br />
Polizeistationen unsere Kartenzeichner, die uns nebenbei auch eine Warnung oder eine<br />
wichtige Information zukommen lassen. So erfahren wir, daß W. und G. und einige<br />
andere Agenten der Polizei sind und regelmäßig unter AIII oder BIV Berichte liefern.<br />
Diese Karten werden dann für alle möglichen Zwecke, Straßen, Bahnen, Schulen,<br />
Grenzen der Prätur, Judenghettos kopiert.<br />
In einer solchen Kopie wird für jeden gemeldeten Partisanenübefall ein Punkt<br />
eingezeichnet. Nach Abschluß der mühseligen Arbeit schaut der Kommandant der<br />
Polizeistation und bemerkt: “Das sieht ja aus wie Fliegendreck.” Man hätte wirklich<br />
meinen können, daß viele Fliegen längere Zeit auf diesem weißen Blatt gesessen sind.<br />
Die Folge davon sind Unsicherheit, Angst, Spannung und übertriebene Reaktionen.<br />
Dem Direktor einer landwirtschaftlichen Schule haben sie einen Radioapparat konfisziert.
Voll von Schreck ließ er sich krankheitshalber ins Stammland versetzen. <strong>Ein</strong> Depot bei<br />
Obodowka wurde ausgeräumt, die beiden alten Landstürmer ausgezogen und umgelegt.<br />
Gruppen russischer Kriegsgefangener wurden befreit, die Wächter abgeschossen.<br />
Schließlich wurden Polizeistationen angegriffen, die Insassen rücksichtslos vernichtet. In<br />
Mihailewka gelang es dem Unteroffizier und einem Gendarmen durchzugehen, alle<br />
übrigen wurden ausgezogen, hinter das Haus geführt und erschossen. Der entkommene<br />
Gendarm, Ilie mit Namen, stammt aus der Weingegend bei Fokschani. Er ist mit dieser<br />
Sitution nicht einverstanden. Er besitzt Weingärten, Haus und Familie und will gar nicht<br />
auf diese Art umkommen. Gendarm in Transnistrien is sonst ein einträglicher und<br />
angenehmer Dienst. “Solange es Juden gibt, die Dollar und Gold besitzen, wird es uns<br />
nicht schlecht gehen,” meinte einmal der Kommandant der Oligopoler Gendarmerie. Der<br />
entkommene Unteroffizier aus Mihailowska schweigt, der Schreck liegt ihm noch in den<br />
Gliedern. Expeditionen werden öfters ausgerüstet. Die Partisanen sind genau über Stärke<br />
und Bewaffnung orientiert, weichen aus oder vernichten die Truppe, je nach dem<br />
Kräfteverhältnis. Partisanen sind nicht Menschen mit wirrem Haar und eisernen Nerven,<br />
die ein Gewehr nehmen und in den Wald gehen. Den Grundstock bilden versprengte und<br />
zurückgelassene Truppenteile, die durch Radio mit ihrem Kommando in Verbindung<br />
stehen und als reguläre Truppen anzusehen sind. Bei den riesigen D<strong>im</strong>ensionen Rußlands<br />
konnte die deutsche Armee das nie verhindern. Dazu kommen befreite Kriegsgefangene,<br />
Fallschirmabspringer als Verbindungsmänner mit dem Armeekommando und mit der<br />
einhe<strong>im</strong>ischen Bevölkerung in Städten und Dörfern, die dem Reg<strong>im</strong>e ergeben blieben. Es<br />
gab <strong>im</strong>mer wieder einzelne <strong>im</strong> Dorf, die plötzlich verschwanden, wie Lowin, unser<br />
Schlosser-Tischler-Meister für alles. Häufiger wurde dieses Hinüberlaufen erst jetzt, <strong>im</strong><br />
3. Jahr der Besetzung. Es ging darum, sich ein Alibi für die dem Feinde geleisteten<br />
Dienste, für die Mithilfe be<strong>im</strong> Judenmord und Plünderung zu verschaffen.<br />
Die rumänische Gendarmerie hatte eine höllische Angst vor Partisanen. In Sawami<br />
ließen sie alle Häuser rings um die Gendamerie abreißen, in Berschad ein Wäldchen<br />
abholzen, um die Umgebung besser zu übersehen.<br />
Die Gendarmeriestationen sahen nachts wie belagerte Festungen aus. An einem<br />
Abend <strong>im</strong> Herbst 43 versuchten wir, noch während der Dämmerung den Kommandanten<br />
(Plut. Dumitrescu) zu sprechen, um eine Reiserelaubnis für den nächsten Tag in einen<br />
118
Nachbarort zu bekommen. Schon be<strong>im</strong> Ghettoausgang, der dem Gendarmeriekommando<br />
schräg gegenüber lag, befahl uns ein Kommandoruf: Halt! Hinlegen! Unsere St<strong>im</strong>men<br />
und Gestalten waren jedem Gendarmen wohl bekannt. Trotzdem gab es ein Laufen,<br />
Fragen, Gewehrläufe wurden auf uns gerichtet, und als schließlich doch die Erlaubnis,<br />
die Straße zu überqueren, kam, da sahen wir Posten mit Maschinengewehren <strong>im</strong><br />
Anschlag in allen Ecken stehen. Der Kommandant schlief nicht in seiner 3 Häuser weiter<br />
gelegenen Wohnung, sondern saß, unordentlich bekleidet, die Haare zerrauft, in einem<br />
der Diensträume. Der Ausdruck der Augen war der eines gehetzten Tieres, unruhig,<br />
flackernd, dabei traurig. Wäre es nicht ein rumãnischer Gendarm gewesen, so hätte er<br />
einem leid tun können. Es gab keinen rumänischen Gendarmen, der nicht direkt oder<br />
indirekt tötete oder erpreßte. So sah es in einem ruhigen Ort ohne Überfälle aus. Hie und<br />
da ein paar Schüsse über den Savenka-Fluß, dem die Rückseite des Kommandos<br />
zugekehrt war, sonst war Oligopol ruhig.<br />
Chef-Agronom der Prätur Oligopol war Gheorge Crischan aus Turnu-Severin. Dort<br />
hatte er Frau und zwei Kinder. In Oligopol besaß er eine junge, blonde Ukrainerin, ein<br />
nettes Haus, die Aufsicht über den Kolchos, also Kühe, die er schwarz verkaufen konnte,<br />
und Lebensmittel in Fülle. Es ging ihm recht gut. Er soff viel. Tagelang war in<br />
alkoholischem Tobsuchtszustand, vergaß dabei die guten, mit unserem Gelde erkauften<br />
Vorsätze, ging auf den Marktplatz und verprügelte Juden, die ihren Lebensmittelbedarf<br />
eindeckten. Wenn er vom Trinken heiser herumschrie und seine Peitsche gebrauchte, floh<br />
jeder rasch. An einem milden Dezembertag fuhr er mit einem Kolchosbauern als<br />
Kutscher in ein Dorf, um die Futterrübenbelieferung zu überwachen. Im Dorfe waren<br />
Partisanen. Die Bauern sahen das Wägelchen hineinfahren, grüßten freundlich und<br />
schmunzelten. Keinem fiel es auch nur ein, zu warnen.<br />
Am Marktplatz, <strong>im</strong> Zentrum des Ortes, rollte das Wägelchen in eine<br />
Menschengruppe, war gleich umringt, und von da an war Gheorge Crischan<br />
verschwunden. In Oligopol geht am Nachmittag das Wort von Mund zu Mund: Crischan<br />
ist in die Hände der Partisanen gefallen, Mit Genugtuung wird die Nachricht<br />
weitergegeben, Prügel- und Trunkenheitsszenen werden in Erinnerung gebracht, kein<br />
Mitleid geäußert.<br />
119
Am nächsten Morgen erreicht ein telefonischer Anruf aus Berschad die Prätur. In<br />
den Vormittagsstunden wird eine Expedition ausgerüstet. Die Kolonne, die sich gegen 10<br />
Uhr in Bewegung setzt, hat an der Spitze einen Schlitten mit 4 bewaffneten Gendarmen.<br />
<strong>Ein</strong> Wagen mit hohen Rädern folgt. In diesem fährt der Prätor in der Mitte, Gewehr bei<br />
Fuß, mit 2 seiner Hausgendarmen. In der Wohnung des Prätors halten schon seit einiger<br />
Zeit 10 Gendarmen Wache. Später löste der Prätor aus Sicherheitsgründen diese<br />
Leibwache auf. Er dachte ganz richtig, daß seine Person den Partisanen weniger wichtig<br />
sein könnte als die Ausrüstung und die Waffen der 10 Gendarmen. Im 3. Schlitten fährt<br />
die ukrainische Frau des Crischan mit 2 Gendarmen, dann 2 Tabak-Ingenieure mit<br />
Kutscher und Gendarm und schließlich der telefonisch angeforderte <strong>Arzt</strong> mit einem<br />
Gendarmen. Am Ende der Kolonne wieder ein mit Gendamen beladener Schlitten.<br />
Der Weg nach Berschad beträgt nur 25 km. Auf russischen Straßen ist das eine sehr<br />
große Distanz. Der Winter 43/44 war leicht. Es gab zwischendurch Tauwetterperioden.<br />
Tiefe Wagenspuren und gefrorene Erdschollen machen den Weg uneben. Der frisch<br />
gefallene Schnee ist nicht tief genug, um diese Unebenheiten auszugleichen..<br />
Stellenweise hat ihn der Wind ganz fortgeweht. Es ist einer jener Tage, wo weder Wagen<br />
noch Schlitten fahren können. Bald kommen die Schlitten auseinander. Der dichte<br />
Schneesturm macht die Sicht schwer. Die Angst ist bei allen groß, denn es ist klar, daß<br />
die Partisanen, die durch ihre Information alles wissen, von der Fahrt dieser Expedition<br />
Kenntnis haben. Ängstlich suchen die Schlitten <strong>im</strong>mer wieder sich zu sammeln. Oft gibt<br />
es Stockungen durch <strong>Ein</strong>bruch eines Schlittens durch die dünne gefrorene Schicht in den<br />
feuchten Kot, durch müde Pferde, die nicht weiter kommen. Ungeduldig warten die<br />
anderen, schweigend und gespannt. Die wenigen Fahrzeuge, die entgegenkommen,<br />
werden angehalten, die Bauern vom Wagen heruntergenommen und durchsucht. <strong>Ein</strong>fältig<br />
dreht der Bauer die Mütze, die er trotz der Kälte abgenommen hat, in der Hand, lächelt<br />
blöde, wenn von Partisanen und Erschießen gesprochen wird, nennt den Namen seines<br />
Ortsvorstandes und Agronomen und beteuert seine Treue. Was er in dem Bauernschädel<br />
denkt, und ob er denkt, ist <strong>im</strong> Gesichtsausdruck nicht zu erkennen.<br />
Dann geht es weiter, einen langen, ermüdenden Berg hinauf. Oben weht es mächig,<br />
der Schnee dringt durch die Kleider. Ich sitze <strong>im</strong> geborgten Pelz, eingekrümmt, mit<br />
hochgeschlagenem Kragen. Der Wind weht durch das oberste Knopfloch des Kragens so<br />
120
stark, daß er einen physischen Schmerz <strong>im</strong> Gesicht erzeugt. In den Halsausschnitt kommt<br />
allmählich <strong>im</strong>mer mehr Schnee hinein. Ich versuche, mit der Hand den Kragen fester<br />
zusammenzuhalten. Die Ziegenhaare des Fäustlings werden naß, die Hand darunter<br />
blaurot und kalt. Dann kommt wieder ein Abhang, die Schlitten fahren freier, die<br />
Gendarmen und Zivilisten werden mutiger, da Zeit ohne Zwischenfälle vergeht. Mit<br />
Erreichung der Eisenbahnlinie atmen sie auf, denn diese is stärker bewacht, und in<br />
Berschad liegt deutsches und rumänisches Militär.<br />
Am Nachmittag fährt die Kolonne in Berschad ein, hält kurz bei dem Gebäude der<br />
Prätur und wird von dort in die Privatwohnung des Prätors geleitet.<br />
Der Prätor Banu ist ein lieber, junger Mensch mit kleinem Schnurrbart und<br />
treuherzigen Augen. In jedem Tanzkurs und Kaffeehaus würde er großen Erfolg bei<br />
jungen Mädchen haben. Er ist beweglich und unterhaltsam. Die Situation übersieht er<br />
klar. Ich bin jung, habe hier viel verdient und will das Leben genießen. Wenn einer<br />
hereinkommt und peng-peng mich erschießt, dann bin ich kaputt, und was habe ich von<br />
einem schönen Nachruf. Also die Moral: Nehmet den Crischan rasch fort, denn die<br />
Partisanen wissen sicher, daß er bei mir in der Wohnung ist und werden ihn holen<br />
kommen, und dabei kann ich flöten gehen. Er führt uns ins Nebenz<strong>im</strong>mer, und dort liegt<br />
auf einem Lederdivan nackt, zerkratzt, erschöpft, die Augen geschlossen <strong>im</strong> blauen,<br />
zerbeulten Gesicht, Crischan mit einer Zigarette <strong>im</strong> Mund, so wie er einige Stunden<br />
vorher ins Haus gebracht wurde. Bei unserem Erscheinen beginnt er zu schluchzen. Der<br />
starke, untersetzte Mann, dessen Brüllen wir so oft hörten, kann weinen wie ein Kind.<br />
Alle umstehen stumm das Bett, Gendarmen und Zivilisten. Die Ukrainerin tritt verlegen<br />
einen Schritt vor, der Prätor Hatieganu steht neben ihr. <strong>Ein</strong>er der Tabak-Agronomen, ein<br />
dicker, großer Mann mit roten Wangen, spricht das erste Wort. Er sagt das <strong>Ein</strong>fachste:<br />
“Hauptsache, daß du herausgekommen bist.” Crischen verlangt eine neue Zigarette. Sie<br />
wird ihm in den Mund geseckt und angezündet.<br />
Dann beginnt er spontan, zuerst leise und langsam, dann lebhafter zu erzählen:<br />
“Wie ich ins Dorf gefahren bin, da habe ich mich gewundert, wie freundlich mich alle<br />
grüßen und dann verschwinden. Keiner hat mir etwas gesagt. Am Dorfplatz sah ich<br />
gerade, wie ein deutscher Offizier und 2 Mann ausgekleidet wurden. <strong>Ein</strong> ukrainischer<br />
Dolmetscher war auch mit diesen. Da habe ich versucht, ihnen etwas einzureden. Ich bin<br />
121
ein Bessarabier, sagte ich, und suche meinen Vater in der Gegend herum. Die Deutschen<br />
und Rumänen haben meinen Vater aus Bessarabien, weil er ein Russe ist, angeblich her<br />
verschickt. Russisch spreche ich schon ganz gut. Sie haben mich reden lassen, aber ich<br />
habe gleich gesehen, das unter ihnen unser Gemeindesekretär aus Matrilenka und der<br />
Bürgermeister eines anderen Dorfes ist, und daß es keinen Zweck hat. Den<br />
Gemeindesekretär, mit dem ich noch vor 2 Tagen gearbeitet habe, den haben sie als<br />
Genosse Kommissar angesprochen, und 2 Mädchen, die bei uns in den Kolchosen als<br />
Sekretärinnen arbeiten, waren auch mit ihnen. Und dann haben sie mich vom Wagen<br />
heruntergenommen und zu den anderen gestellt und nackt ausziehen lassen. Sie sind<br />
nachher ins Haus gegangen, haben gegessen und getrunken, und auch ein Telefon war<br />
dort. Wir sind <strong>im</strong> Schnee nackt gestanden, ein paar haben mit Gewehr aufgepaßt. Wie sie<br />
wieder herausgekommen sind, war schon Dämmerung. Sie haben gut gesoffen und<br />
gegessen. Dann haben sie uns der Reihe nach hinter dem Hause aufgestellt. Ich war der<br />
vierte. So standen wir, zuerst der Deutsche, dann der zweite Deutsche, dann der deutsche<br />
Offizier, dann ich und dann der ukrainische Dolmetscher, der mit den Deutschen<br />
gefangen worden war. Ich stand und wartete auf den Tod. <strong>Ein</strong>er von den Bolschewiken<br />
nahm einen Revolver, schoß dem ersten in die Schläfe, dem zweiten, dann dem dritten,<br />
dem deutschen Offizier neben mir. Der fiel auf mich, und in diesem Moment sprang ich<br />
nach rückwärts, noch ein Sprung und noch ein Sprung, und dann vergrub ich mich in<br />
einer kleinen Bodensenke. Sie schossen mir nach, aber es war schon Dämmerung. Nur 20<br />
m weit von der Gruppe lag ich nackt <strong>im</strong> Schnee, häufte rasch mit den Händen noch etwas<br />
Schmutz und Schnee über mich. Sie traten auf mir herum, gingen vorbei und sahen mich<br />
nicht. Ich lag ganz still, bis sie etwas weiter gegangen waren, dann sprang ich auf, sie<br />
schossen, und ich machte einige Sätze und erreichte den Waldessaum. Ich hörte sie<br />
Kommandos rufen, Patrouillen ausschicken und überlegte mir: wenn ich den Wald der<br />
kleineren Entfernung nach nehme, so sind es nur 4 km, aber sie fangen mich am<br />
Waldesausgang. Die Gegend kenne ich gut, sie gehört zu meinem Rayon. Da bin ich in<br />
die Richtung gegangen, wo sie mich am wenigsten suchen werden, der größten Länge des<br />
Waldes nach, das sind gute 20 Kilometer. So nach 2 Stunden kam ich in ein Dorf, das <strong>im</strong><br />
Walde liegt. Da war Licht und Leben wie am Tage, Lustigkeit, Trinken und voll<br />
Partisanen. Ich bin weiter gelaufen. Es war mir sehr kalt, die Haut habe ich nicht gefühlt.<br />
122
Im zweiten Dorf war es finster. Ich habe an mehreren Türen angeklopft, keiner wollte<br />
öffnen, schon gar nicht hineinlassen, Sch<strong>im</strong>pfworte haben sie mir gesagt. So bin ich die<br />
ganze Nacht durch den Wald gelaufen bis zur Eisenbahnlinie, dann mit der<br />
Eisenbahnlinie bis zum Wächterhäuschen bei Ialunez. Dort habe ich wieder geklopft,<br />
schon ganz ohne Kraft. Da hat mir eine alte Frau aufgemacht, auch eine junge war<br />
drinnnen. Die haben mich hineingelassen und mir eine Decke umgehängt und mir etwas<br />
zu trinken gegeben.<br />
Ich habe mich nur hingelegt, da waren die Partisanen schon da. Die beiden Frauen<br />
haben mich in den Petsch gesteckt, und die alte Frau hat die Türe geöffnet. Die haben<br />
gefragt, ob nicht ein Rumäne nackt vorbeigekommen ist. Sie haben niemanden gesehen,<br />
sagte sie. ‘Habet ihr ihn nicht bei euch?’ hat einer gesagt. ‘Was fällt dir ein,”’hat die<br />
Junge von drinnen gerufen, ‘meinen Vater haben sie erschossen und meinen Mann haben<br />
sie vor ein paar Tagen weggenommen und eingesperrt, und ich werde einen verfluchten<br />
Rumänen aufnehmen?’ Da sind sie weggegangen. Die beiden Frauen haben mich aus<br />
dem Ofen herausgenommen, mir einen Tee gemacht, mich in zwei Decken eingepackt<br />
und hingelegt. Inzwischen ist es Morgen geworden, die haben weiter gesucht, und die<br />
blutigen Fußspuren haben sie direkt zum Wächterhäuschen geführt. Wir hörten sie<br />
kommen. Die Frauen hoben einen Deckel am Herd auf, steckten mich hinein und<br />
schlossen wieder zu. Sie kamen direkt in die Küche, durchsuchten jede Ecke. ‘Er muß da<br />
sein,’ hörte ich, ‘ihr werdet erschossen werden, weil ihr ihm geholfen habet.’ Dann haben<br />
sie eben nichts gefunden und sind weggegangen. Nach einer Stunde kam ein Bahnwärter<br />
vorbei, der die Linie abging. Ich gab ihm ein paar Worte nach Berschad mit, und dann<br />
kam ein Leutnant mit 20 Mann, und sie brachten mich her.”<br />
Alles schwieg. Doch da kam der fröhliche Prätor Banu hinein und lachte sein<br />
kindliches, helles Lachen. “Ja, so so, Crischan ist zu den Partisanen gegangen. Crischan<br />
ist ein Bolschewik. Sag mir, Crischan, wann gehst du wieder in den Wald? Wann wirst<br />
du Kommissar?” Man lachte betreten. Schließlich kündigte er an, daß das Essen<br />
vorbereitet sei.<br />
Im Nebenz<strong>im</strong>mer war der Tisch gedeckt. Der fröhliche Prätor Banu nahm an der<br />
Spitze der Tafel Platz, sein Agronom, ein junger Mann mit langem, zurückgekämmtem<br />
Blondhaar saß neben ihm, dann die beiden mitgekommenen Tabak-Agronomen und der<br />
123
Oligopoler Prätor Hatieganu. Diesen kannten wir gut. Er war jung, hatte<br />
Hochschulbildung, und seine politische Tätigkeit als Eisengardist hatte ihn wohl nach<br />
Transnistrien gebracht. Bei Amtsantritt übersah er die Situation nicht gleich, hatte auch<br />
Angst oder andere Hemmungen. Erst <strong>im</strong> letzten Jahr war er darauf gekommen, daß sich<br />
in Transnistrien noch viel verdienen ließ und hatte daher nur einige Millionen in<br />
Goldstücken, Schmuck, Persianermänteln in seine siebenbürgische He<strong>im</strong>atstadt<br />
verschoben. Seine Schwester, eine dicke Landmagd, die als Lehrerin wirkt, besorgt durch<br />
häufige Urlaubsreisen die Verschiebung. Dann saß an der Tafel die ukrainische Gefährtin<br />
des Crischan und kämpfte mit Messer und Gabel, ungewohnt, sie zu gebrauchen und<br />
bestrebt, nicht aufzufallen. Zwischen ihr und einem Tabakingenieur saß der <strong>Arzt</strong>. Das<br />
Essen war ausgezeichnet. Gang nach Gang wurde aufgetragen. Die Köchin war eine<br />
jüdische Frau aus dem großen Berschader Ghetto, die froh war, durch Aushebung für<br />
diese Arbeit Essen zu bekommen und auch manchmal etwas ins Ghetto für ihre Kinder<br />
schaffen zu können. Nur zwei Dinge will sie von mir wissen: was es in der Welt gibt, und<br />
wann das Elend ein Ende nehmen wird, und was sie gegen die Schmerzen in den Knien<br />
tun soll. Die Arbeit ist schwer, dauernd Gäste, Gelage, und sie muß gut arbeiten, denn sie<br />
ist schon die sechste. Der Prätor ist anspruchsvoll. Major domus des Hauses ist ein<br />
jüdischer Friseur, der durch Vemittlung einträglicher Geschäfte eine geachtete und auch<br />
für ihn einträgliche Stellung genoß, die nur durch Demütigungen und Besch<strong>im</strong>pfungen<br />
durch den Prätor einigermaßen getrübt wurde. So klappte das Hauswesen, alles war<br />
reichlich und in ausgezeichneer Qualität vorhanden und kostete nichts. So lebten die<br />
rumänischen Beamten, schöpften aus dem Vollen, praßten, hurten und hießen schon<br />
gerecht und gut, wenn sie nicht grade aus Sadismus quälten, sondern nur in best<strong>im</strong>mter<br />
Erpressungsabsicht, das heißt, wenn man sie jederzeit durch Bestechung ruhig stellen<br />
konnte. Es gab nachher Bier, Süßigkeiten, das Gespräch war angeregt, Banu ezählte<br />
prächtige Witze und lachte selbst am lautesten. Crischan <strong>im</strong> Nebenz<strong>im</strong>mer war ganz<br />
vergessen.<br />
Dann kam die Rede auf die He<strong>im</strong>fahrt, denn <strong>im</strong> Programm war vorgesehen<br />
gewesen, daß wir alle am gleichen Tage nach Oligopol zurückkommen, und auch der<br />
Prätor Banu wollte ihn so rasch als möglich aus dem Hause haben. Doch da stellte sich<br />
heraus, daß die lokale Gendarmerie ganz verwundert über unser Geleit war, daß wir nur<br />
124
mit 12 Gendarmen gekommen sind, und daß sie mindestens noch 20 Gendarmen uns<br />
dazugeben zu müssen glauben, um die Sicherheit der Kolonne zu garantieren. <strong>Ein</strong>e Fahrt<br />
am Abend, es war inzwischen 4 Uhr nachmittags geworden, komme überhaupt nicht in<br />
Frage, das sei sicherer Tod. Sie werden sich doch den Crischan wiederholen wollen.<br />
Bisher ist ihnen noch keiner entkommen. Also wird die Rückfahrt für den nächsten Tag<br />
aufgeschoben und die Zeit 7 Uhr früh als Abfahrtszeit best<strong>im</strong>mt.<br />
Der lustige Prätor benützt die Gelegenheit und bittet mich in ein Nebenz<strong>im</strong>mer, um<br />
eine wichtige medizinische Frage zu besprechen. Abgesehen von der Gonorrhoe, die er<br />
<strong>im</strong>mer wieder bekommt, ohne feststellen zu können, ob es die alte ist, die rezidiviert,<br />
oder eine frische Acquisition—doch mit Eleudron-Tabletten hilft er sich schon <strong>im</strong>mer<br />
allein, und davon hat er einen ganz großen Vorrat—beschäftigt ihn schon eine Zeit lang<br />
die Frage, weshalb er <strong>im</strong>mer nur nach dem Verkehr mit einer best<strong>im</strong>mten kleinen<br />
Beamtin, sie ist sonst ganz hübsch und willig, Bläschen am Glied bekommt. Er hat<br />
natürlich täglich Verkehr, und die Frauen, die zu ihm kommen, kann er gar nicht zählen,<br />
das sind hunderte, aber <strong>im</strong>mer nur mit dieser einen passiert es ihm. Nach angestrengter<br />
Betrachtung der Bläschengruppe, die gerade in Abheilung ist, und einigem Nachdenken<br />
vesichere ich ihm, das es sich um eine unschuldige Bläschenkrankheit handelt, die oft<br />
wiederkommt, und gebe ihm die entsprechenden Maßnahmen zur Behandlung an. Er hat<br />
auch andere Sorgen. Manchmal fühlt er sich ein wenig schwach und hat auch ganz<br />
leichten Schwindel, vielleicht Blutarmut, und so ein Müdigkeitsgefühl tritt manchmal<br />
auf. Dabei geht es ihm doch recht gut, es kommt alles, aber auch wirklich alles, reichlich<br />
ins Haus, und auch mit Medikamenten, die ich für notwendig halte, soll ich keineswegs<br />
zurückhaltend sein. Die Juden hätten einfach alles, und es gibt nichts, das sie nicht für ihn<br />
besorgen würden. Er erhält einige banale Ratschläge und die Verschreibung eines der<br />
üblichen sogenannten Tonica, betont nochmals, daß er gerne in der Calea Victoriei in<br />
Bukarest spazieren gehen würde und den Tod durch Partisanenhand, mit ehrendem<br />
Nachruf in der Amtszeitung, wie es gerade vor 2 Monaten einem Kollegen <strong>im</strong><br />
Nachbarbezirk passiert sei, für sich gar nicht wünsche und daher froh wäre, den Crischan<br />
schon aus dem Hause zu haben.<br />
Inzwischen erscheint der jüdische <strong>Arzt</strong> aus dem Ghetto—Dr. Menschenfreund, ein<br />
guter Name für einen <strong>Arzt</strong>. Dieser hatte den Crischan bei der <strong>Ein</strong>bringung untersucht und<br />
125
provisorisch verbunden. Wir begeben uns in das Nachbarz<strong>im</strong>mer zur Erfüllung meiner<br />
eigentlichen, medizinischen Funktion. Wir sehen uns gemeinsam den Crischan an. Die<br />
Haut ist kreuz und quer zerkratzt. Die Kratzwunden durch die Zweige und durch die<br />
Holzspäne der Zäune, über die er kroch, sind am Körper meterlang, doch oberflächlich.<br />
<strong>Ein</strong> Jodanstrich genügt. Die Lungen sind bis auf einen alten Raucherkatarrh rein. Er ist<br />
nackt <strong>im</strong> Schnee gelegen und dann 12 Stunden durch den winterlichen Wald gelaufen. Er<br />
hat normale Temperatur und keine Zeichen einer Lungenentzündung. Die Fußsohlen<br />
haben schwer gelitten. Die Fersen und die Zehenballen sind der dicken Haut entblößt, rot,<br />
blutend, in der Fußwölbung ist die Haut zu Blasen abgehoben. Die Wunden werden<br />
gereinigt, die Blasen abgetragen und ein gut gepolsterter, steriler Verband angelegt. Ich<br />
gebe dem Prätor kurzen Bricht und bitte ihn um die Erlaubnis, die Zeit bis zur Abfahrt,<br />
das heißt die Nacht, <strong>im</strong> Ghetto verbringen zu dürfen. Er will zunächst nichts davon hören,<br />
Betten sind vorbereitet, Z<strong>im</strong>mer hergerichtet, Abendbrot bereitgestellt, dann aber gibt er<br />
doch seine Zust<strong>im</strong>mung. Wir verlassen das schöne Steinhaus, gehen über die Hauptstraße<br />
des Ortes, dann noch durch einige Nebengassen der Christenstadt. Die Straßen sind<br />
wenig belebt, rumänische Militärpersonen sind das vorherrschende Element. Juden sind<br />
vereinzelt zu sehen, durch aufgenähten, gelben Stern gekennzeichnet. Sie drücken sich,<br />
sichtlich eingeschüchtert, an den Häuserrand. Der jüdische <strong>Arzt</strong> ist der Führer. Wir<br />
erreichen das Judenghetto. Stacheldrahtzäune liegen am Wege. Diese werden<br />
aufgerichtet, wenn der Gouverneur Alexianu in der Gegend vermutet wird. Dann<br />
erscheinen auch große Tafeln an allen <strong>Ein</strong>gangsstellen, “Christen ist der <strong>Ein</strong>tritt<br />
verboten”. Nach einigen Tagen wird der Draht wieder niedergetreten.<br />
Im Ghetto der schon gewohnte Anblick. Kleine, niedrige Lehmhäuschen, mit Schilf<br />
gedeckt, regellos und doch irgendwie aneinandergelehnt, schiefe Fensterchen mit<br />
Glasscherben auf Zigeunerart oder mit Blech und Papier verklebt. Kein Baum, kein<br />
Strauch, stickige, stinkende Luft, menschlicher Unrat in den Ecken. Klosette gibt es <strong>im</strong><br />
Judenghetto mit 12000 Menschen nicht. Nur <strong>im</strong> Zentrum hat die Gemeinde eines<br />
angelegt. Sonst verrichtet jeder bei Tagesanbruch vor oder hinter dem Hause seine<br />
Notdurft, Unrat wird zwischen Haus und Haus geworfen, Schmutzwasser vor die Türe<br />
geschüttet. Die Sorgen der überlebenden <strong>Ein</strong>wohner waren ganz andere, Essen<br />
verschaffen, Kleider, um nicht zu erfrieren, und Geld, um bei Erpressungsaktionen, die<br />
126
ans Leben gehen, sich auskaufen zu können. Es w<strong>im</strong>melt in der Dämmerstunde in diesen<br />
engen Gäßchen noch von Menschen, Auf einem kleinen freien Platz stehen sie in<br />
Gruppen. Ich höre die Frage: “Was kauft er?” Mein Begleiter antwortet, daß ich eines<br />
Kranken wegen da sei. Wir werden ausgelacht. Das hat der Dr. Melamed aus<br />
Tschitschelnik vor einer Woche auch gesasgt, dann hat er soviel Goldstücke und Ringe<br />
gekauft, daß es der Polizeikommandant erfuhr, ihn einsperrte und erpreßte. Es kommen<br />
Angebote für 10-Rubel-Goldstücke aus der Zeit des Zaren Nikolaus, Golduhren, Ringe.<br />
Es taucht <strong>im</strong>mer noch ein zurückbehaltener Wertgegenstand als Rest des einstigen<br />
Wohlstandes auf, kommt in die Hände der jüdischen Spekulanten und landet schließlich<br />
<strong>im</strong> Besitz eines höheren rumänischen Beamten oder Offiziers oder eines Aufkäufers eines<br />
solchen. Da das ein Fließen in eine Richtung ist und kein Kreislauf, war es in den ersten<br />
Monaten ein Strom von Gold und Edelsteinen, dann nur ein spärliches Gerinnsel. Die<br />
Funktionäre, die später kamen, mußten drastische Methoden ergreifen, um die versäumte<br />
Gelegenheit auszugleichen.<br />
Am Wege zum Spital erkennen und begrüßen mich Menschen, die mich in früherer<br />
Zeit als Kranke aufzusuchen pflegten. Es ist schwer, sie wiederzuerkennen. Sie sind<br />
mager geworden, die Gesichter faltig, trocken, die Züge scharf. Das ungepflegte<br />
Kopfhaar, die grauen Bartstoppeln lassen sie greisenhaft erscheinen. Ihre Augen sind<br />
fragend und warten auf ein Wort der Hoffnung. Sie hören als Antwort das, was in ihrer<br />
Frage liegt: “Wir haben das Schl<strong>im</strong>mste überstanden. Das Ende ist in absehbare Zeit<br />
gerückt. Wir müssen uns physisch und psychisch erhalten und anständig bleiben. Wenn<br />
uns das gelingt, ist alles gewonnen. Alles ist restituierbar, nur nicht der durch Tod<br />
Verlorene oder moralisch Verkommene.” Viele fragen nach gemeinsamen Freunden und<br />
Bekannten, sind glücklich, jemanden in der verlorenen He<strong>im</strong>at zu wissen. So kann<br />
vielleicht doch einmal materielle Hilfe kommen. Um diese Hilfe dreht sich das Denken.<br />
Es gibt keine Erwerbsmöglichkeiten. Die wenigen, die arbeiten, bekommen das Essen,<br />
die überwiegende Mehrzahl kann nur leben, wenn Geldhilfe von auswärts, von<br />
Angehörigen oder Institutionen geschickt wird. Jede direkte Verbindung mit<br />
Verschickten wird mit sofortiger Deportierung geahndet. Das ist der offizielle Erlaß.<br />
Kinder wagen nicht, ihren Eltern, die sie am Verhungern wissen, zu helfen, den Brief,<br />
den der gekaufte Kurier bringt, zu öffnen, obwohl sie die Handschrift erkennen. Der<br />
127
Überbringer kann ein Provokateur sein, oder er wird, ohne es zu wissen, überwacht.<br />
Sender und Empfänger kommen in Lebensgefahr. Die Kuriere, meist Beamte, Soldaten,<br />
oder auch Priester, begnügen sich selten mit dem ihnen gerne zugestandenen Gewinn von<br />
einem Drittel der Geldsumme. Sie erliegen der Versuchung und behalten, manche be<strong>im</strong><br />
ersten Mal, ehrliche nach zwei bis drei Reisen, den ganzen Betrag. Der offizielle Weg<br />
durch die Judenzentrale ist zeitraubend, reduziert den Betrag durch einen fiktiven<br />
Umrechnungskurs (1 Rentenmark = 60 Lei) auf ein Sechstel und bringt das Geld durch<br />
Diebstahl oder Erpressung oft in die Hände der Ghettoverbrecher.<br />
Der Weg führt weiter. Wir kommen an einer Küche vorbei, die der Gemeinde<br />
angehört. Es gibt hier täglich frisches Gebäck. <strong>Ein</strong> Zuckerbäcker stellt es so formenschön<br />
her wie einstmal, als Torten und Kuchen. Dunkle Marmelade unbest<strong>im</strong>mbarer<br />
Zusammensetzung ersetzt die Schokolade und gebrannter Zucker die Mandeln. Das Öl,<br />
aus Kürbiskernen gepreßt, gibt dem Backwerk einen spezifischen Geruch. Wir treten ein.<br />
Die Wände sind weißgekalkt, in den Ecken Spinngewebe, der Holzfußboden is<br />
schmutzig. 3 Räume, vorher war es eine Wohnung, sind in Küche und Eßraum<br />
umgewandelt.<br />
Hier finden wir die beiden Bürgermeister. Es ist sehr schwer, Bürgermeister in<br />
Berschad zu sein, 12,000 Menschen ohne Arbeit, ohne Essen und Kleidung auf der einen<br />
Seite und eine nach Gold hungrige Obrigkeit auf der anderen Seite. Es ist ausgeschlossen,<br />
alle zufrieden zu stellen. Die Bürgermeister wechseln, wenn sie zu wenig bieten oder<br />
mehr versprechen, als sie bieten können. K. und Sch. (Korn und Schrenzel) herrschen<br />
schon über ein Jahr in Berschad. K. ist brutal, dem Elend gegenüber gesperrt, erfüllt der<br />
Obrigkeit gegenüber seine Pflicht und sorgt auch dafür, selbst nicht leer auszugehen. Dr.<br />
Sch. hat weiche Anwandlungen. Er träumt von Zion, Anständigkeit und ruhigem Leben.<br />
Inzwischen jongliert er zwischen ausgehungerten Juden und übermütigen,<br />
anspruchsvollen Gendarmen. Jonglieren kann <strong>im</strong>mer gefährlich werden, und er bezahlte<br />
es nicht viel später mit dem Leben. Er ist froh, mich zu sehen, erzählt von seinen<br />
Leistungen für die Gemeinde und n<strong>im</strong>mt meinen Wunsch, nur das Spital zu besichtigen,<br />
mit einiger Rückhaltung zur Kenntnis. Das Spital is der Spiegel der<br />
Gemeindeverwaltung, doziere ich in jedem Ghetto, und soviel muß aus den Sendungen<br />
der Zentrale dem gierigen Zugriff der Besatzungesbehörden, der kleinen Machthaber und<br />
128
ihrer jüdischen Mitläufer entzogen werden, um einige Betten oder Pritschen mit Leinen<br />
zu bedecken und eine Möglichkeit zur Unterbringung für Kranke zu schaffen, die durch<br />
Reinlichkeit und Pflege noch am Leben zu erhalten sind. Nur der Mensch zählt. Bleibt er<br />
am Leben, so ist alles gerettet. Er ist von tiefster Stufe aus wieder aufrichtbar und kann<br />
alles neu schaffen, wenn ihr ihm die Möglichkeit dazu nicht verschließet.<br />
Wir gehen zum Spital des Ghettos. Es ist schon später Abend, und nach <strong>Ein</strong>bruch<br />
der Dunkelheit ist der Aufenthalt auf den Straßen für Juden verboten. Militärpatrouillen<br />
sorgen für die Erfüllung. Wir beeilen uns, treffen das Spital noch offen. Es ist ein<br />
richtiges Haus, aus Ziegeln und Steinen, war früher einmal die Ortsapotheke. Vor dem<br />
Hause treffen wir den Verwalter des Spitals, ein gelehrter, ehrlicher Mann, der froh ist,<br />
eine Beschäftigung als Zeitausfüllung gefunden zu haben, denn Nichtstun ist<br />
demoralisierend und tötet den Geist. Auch 2 Ärzte sind noch anwesend. Der sogenannte<br />
Direktor des Spitals war vorher <strong>Arzt</strong> einer Zuckerfabrik, dick, mit herrischen Manieren<br />
und unwissend. Im Ghetto ist er mager geworden, der Hals fällt in Falten, das Gehaben<br />
ist schmeichelnd, bettelnd. Um ein Kleidungsstück geht es, denn er ist in Fetzen gehüllt<br />
und hat keine Schuhe. Das Versprechen, ihm bei nächster Gelegenheit dazu zu verhelfen,<br />
läßt ihn lebhafter und selbstsicherer werden. Er übern<strong>im</strong>mt die Führung. Daneben steht<br />
Freund Bacher, gemütlich lächelnd, schlechter aussehend als in den normalen Zeiten, wo<br />
er Blinddärme herausnahm, Leistenbrüche zu Dutzenden operierte, gebrochene Knochen<br />
einrichtete und <strong>im</strong> Armenviertel herumlief, um seine Praxis aurea zu versorgen. Er ist<br />
aber <strong>im</strong>mer noch in Form. Sie haben ihn zwar aus Angst vor Konkurrenz mehrmals<br />
denunziert, den Behörden ausgeliefert und in das Steinbruchlager zurückgeschickt,<br />
obwohl kein anderer, ausgebildeter Chirurg <strong>im</strong> Orte war, doch seine Natur kennt das<br />
Hassen nicht. Schließlich ist er doch geblieben, operiert <strong>im</strong> Spital, hilft uneigennützig,<br />
anständig und ehrlich. Seine Frau blieb am Leben, und beide warten auf eine bessere<br />
Zeit.<br />
Durch einen schmalen Gang treten wir ein und kommen in die Krankenz<strong>im</strong>mer. <strong>Ein</strong><br />
dicker, fauliger Geruch von Menschenschweiß, Urin und Kot schlägt uns entgegen. Der<br />
<strong>Ein</strong>druck ist grau in grau, Menschen, Betten, Pritschen, Wände, Fußboden, alles gleich,<br />
düster. Kein weißer Fleck hellt das Dunkel auf. Der Raum ist groß und hoch, durch eine<br />
Zwischenwand nicht vollkommen unterteilt. Da liegen Typhuskranke <strong>im</strong> Dämmerschlaf,<br />
129
die Augen halb geschlossen, unbeweglich und ohne Wartung <strong>im</strong> eigenen Schmutz. Wer<br />
soll es auch tun? Die Angehörigen sind <strong>im</strong> Tode vorausgegangen, und die Freunde haben<br />
130<br />
ihe eigenen, pr<strong>im</strong>itiven Sorgen. Die Frau in der Ecke dort kannte ich. Sie waren reiche<br />
Kaufleute, besaßen den zweitgrößten Laden der Stadt, so eine Art Warenhaus, wo Frauen<br />
alle überflüssigen Kleinigkeiten wie Knöpfe, Bänder, Borten, Stoffreste, Zwirne<br />
stundenlang auswählten, um sie dann zu Hause entzückend zu finden. Er stand bei mir<br />
wegen Fettsucht in Behandlung. Ich sah ihn <strong>im</strong> Ghetto, mager, faltig, das Hemd aus<br />
Sackgewebe, doch Brust und Kragen mit den Resten des Baumwollhemdes überzogen. Er<br />
starb später an Hunger. Sie döst noch hin, kann nicht mehr lange durchhalten. Am Boden<br />
liegen graue Bündel, Menschen in Deckenfetzen gehüllt. <strong>Ein</strong> linder Fußtritt entscheidet,<br />
ob noch Leben vorhanden ist. Medikamente gibt es nicht. Im ersten Winter hatte noch<br />
jeder seinen eigenen, mitgenommenen Bestand, wenn er ihn nicht gerade am Wege<br />
verlor. Die Massenepidemien erforderten ganz andere Quantitäten. <strong>Ein</strong>e Aspirintablette<br />
wurde ein Schatz, eine Kaffeininjektion für einen Typhuskranken mit schwachem Herzen<br />
ein Familienereignis. <strong>Ein</strong> Teil der Ärzte ließ sich hohe Dollarnoten für eine solche<br />
Injektion bezahlen und gab diese dann natürlich am Orte des Geldes und nicht am Orte<br />
der Not. Der Haß gegen diese Ärzte ist noch groß. Das erworbene Geld und Gold nahm<br />
den üblichen Weg. Immer fanden sich welche, die den Herrschenden mitteilten, wo Geld<br />
zu holen ist, und diese fanden <strong>im</strong>mer einen Vorwand, um es sich anzueignen. <strong>Ein</strong> <strong>Arzt</strong>,<br />
der mit einer gewissen Gleichgültigkeit ein banales Medikament verschreibt und der<br />
Kranke, der es als Zurücksetzung empfindet, daß ihm nur Aspirin oder Pyramidon<br />
verordnet wurde und nicht irgendein Medikament mit fremdem Namen und schöner<br />
Verpackung, weiß nicht und denkt nicht daran, welcher Segen in dem kleinen Plättchen<br />
liegt, das für Stunden die Fieberspitze herabsetzt, den Kranken aus seinen<br />
Halluzinationen in diese Welt zurückbringt, Nahrungszufuhr ermöglicht, Schmerzen<br />
beruhigt, oder ihm für einige Stunden ruhigen Schlaf verschafft. (Den Blasierten,<br />
Abgestumpften geht überhaupt ein großer Teil der Freuden des Lebens verloren. Sie<br />
versuchen, durch stärkere Reize sie zu ergänzen und haben dann erst recht nur Ersatz<br />
anstelle des Grundgefühls.) Es entwickelt sich ein Dialog: “Was gibst du deinen<br />
Patienten?” “Nun, was soll ich ihnen geben, wir haben gar nichts. “Schau, man kann doch<br />
etwas tun. Zwing’ den Gemeindevorsteher, dir Leintücher zu geben, wenigstens soviele,
um eine Packung machen zu können. Suche Kräuter. Es gibt adonis vernalis in der<br />
Gegend, Oleandersträuche, Baldrian-Wurzeln. Kauf’ sie, wenn du sie nicht allein<br />
erkennst, bei der Kräuterfrau, die an Markttagen in den Ort kommt, und mach daraus mit<br />
dem Schnaps, der soviel gesoffen wird, Auszüge für die Kranken.” “Die Vorsteher<br />
wollen nichts fürs Spital tun. Woher soll ich das Geld für Kräuter nehmen? Wer wird mir<br />
Alkohol geben? “ “Du mußt nur einmal ein kleines Quantum erzeugen, dann kannst du<br />
die Baldriantinktur, die stark riecht und <strong>im</strong> Volk so beliebt ist, an Bauern verkaufen,<br />
bekommst dafür Geld und Lebensmittel, gibst die Lebensmittel ins Spital und kaufst für<br />
das Geld <strong>im</strong> Schleichhandel gute Medikamente für die Kranken.” <strong>Ein</strong>en Schleichhandel<br />
gibt es <strong>im</strong>mer. Soldaten und Beamte bringen Medikamente aus dem Lande mit, aus den<br />
Beständen der Armee wird gestohlen und in den Handel gebracht. Ghettoärzte, nicht alle,<br />
stehen mit den Schleichhändlern in Verbindung und verschreiben den Kranken das, was<br />
dieser gerade besitzt, natürlich auf halbpart. Das Spital bleibt abseits, unversorgt. Er hört<br />
zu, müde, hungrig, entmutigt. “Bei euch kann einer vielleicht so etwas tun, hier in<br />
Berschad nicht.”<br />
In einer anderen Ecke sitzt einer, er ist fast durchgekommen, ein Rekonvaleszent.<br />
Er kehrt mit den Handflächen langsam Brotkrümel und Schmutz aus seinem Bett, schaut<br />
müde und verständnislos auf die fremden Menschen, die hineinkamen, und sinkt wieder<br />
auf seine Pritsche. Er wird täglich ein bißchen ausmisten und langsam wieder auf glattem<br />
<strong>Lager</strong> liegen. Lasset ihn nur zu sich kommen. Er wird wieder denken, sprechen, hoffen,<br />
wünschen und hassen. Nur am Leben soll er bleiben. Der Aufstieg ist genau so möglich<br />
aus eigener Kraft wie der Abstieg aus der Schuld anderer. Ringsum <strong>im</strong> Raum auf<br />
Eisenbetten, von denen eines nicht dem anderen gleicht, auf Holzpritschen und am Boden<br />
liegen sie, stumpf und stumm, und dösen. Wasserflaschen stehen herum, leere<br />
Konservendosen, da und dort ein Blechteller mit einigen Speiseresten. Fliegen bedecken<br />
die Wände, die geschwärzte Decke und die Kranken.<br />
Im nächsten Raum stehen nur 4 Betten, und eine breite Holzpritsche besetzt eine<br />
ganze Ecke. Die Kranken auf dieser Pritsche bilden mit ihren schmutzigen Kleidern,<br />
Decken und Fetzen eine formlose, ineinander verschmolzene Masse. Der Raum ist<br />
ebenso schmutzig wie der große sogenannte Saal. Betten, Fußboden, Wände und Decke<br />
131
132<br />
heben sich in Farbe nicht voneinander ab. Nur dort, wo ein Petroleumlämpchen gebrannt<br />
hat, unterbricht ein langer, schwarzer Rußstreifen an der Wand das Grau.<br />
“Was für Kranke hast du hier liegen, und wer sind die in der Ecke?” “Die sind aus<br />
Nikolajew. Sie liegen so, wie sie sich hingeworfen haben. Untersuchen kann man sie<br />
nicht. Sie sind ganz verlaust und so schmutzig, daß man sie nie mehr rein bekommen<br />
wird.” “Das gibt es nicht. Lasset euch von meiner Chavja (Feuer) unterweisen. <strong>Ein</strong> Ring<br />
von Petroleum rings um den Kranken, eine Schüssel mit warmem Wasser in die Mitte,<br />
die Kleider in kochendes Wasser, den Körper mit Wasser und Seife gründlich<br />
abschrubben, und tausende Parasiten sterben, und normale Haut läßt sich unter Schmutz<br />
und Kot ausschälen.” Zwei Wochen später wurde Freund Bacher schwer krank,<br />
Flecktyphus war die eindeutige Diagnose. Als er Gehirnstörungen bekam, schien er<br />
verloren. Er kam doch noch durch und wurde gesund. Kurz darauf wurde ein zweiter <strong>Arzt</strong><br />
krank, und nun wurde es erst klar, daß die ganze Gruppe, die dort so still in der Ecke lag,<br />
fleckfieberkrank war und hochinfektiöse Läuse zu tausenden züchtete. <strong>Ein</strong> kleiner Raum,<br />
eine Art Vorz<strong>im</strong>mer, der als Ambulatorium dient, und ein größeres Z<strong>im</strong>mer mit einem<br />
<strong>im</strong>provisierten Holztisch mit Rückenlehne, das ist der Operationsraum, und damit ist<br />
auch die Besichtigung des Spitals zu Ende.<br />
Der Rückweg führt durch die engen Ghettogäßchen, die jetzt menschenleer sind.<br />
Die Angst vor Patrouillen hat sie in ihre Behausungen gejagt. Den ganzen Tag sind sie<br />
auf der Straße gewesen und haben auf das Wunder gewartet, auf eine gute Nachricht, auf<br />
einen Kurier, auf einen Brief, auf irgend etwas, das diesen Zustand der ungewollten,<br />
demoralisierenden Trägheit zu unterbrechen <strong>im</strong>stande ist. An dessen Stelle bekamen sie<br />
das Gerücht. Die Machthaber, ihre Mittelsmänner hatten ihre Interessen. Galt es Gold<br />
aufzukaufen, da wurden günstige Gerüchte in die erwartende Menge gebracht: ein Gesetz<br />
ist erschienen, alle fahren in ihre He<strong>im</strong>at, nach Hause, die Züge sind schon bestellt. Es<br />
kam einmal so weit, daß Wagen für die He<strong>im</strong>reise gemietet wurden. Letzte Reserven,<br />
eine Uhr, ein Ring, wurden rasch verkauft. Wertgegenstände fielen <strong>im</strong> Kurs, der<br />
Aufkäufer kaufte alles Erreichbare auf, reiste ab, und mit ihm verblaßte die Nachricht.<br />
Galt es, das Terrain für eine größere Erpressung vorzubereiten, dann hieß es, daß hier<br />
eine neue Brücke, dort ein Flugplatz gebaut werde, und Arbeiter bereits angefordert<br />
wurden. Das hieß Vorbereitungen treffen und den Geist darauf einstellen, sich
auszukaufen. Der mündliche Bericht war die einzige Nachrichtenübermittlung, Zeitung,<br />
Radio hatten nur die Machthaber. Sie gaben an ihre Hausjuden das weiter, was ihnen<br />
richtig erschien, und diese gaben es verändert weiter. Ohne Recht und ohne regelmäßige<br />
Arbeit gibt es kein seelisches Gleichgewicht. Angst ist das Grundgefühl, Hoffnung das<br />
St<strong>im</strong>ulans, zwischen beiden pendelt das Gemüt der in das Elend Geworfenen.<br />
Wir treten in eines der Ghettohäuschen ein. Dort wohnt ein <strong>Arzt</strong>, den wir sehen<br />
möchten. Im kleinen Vorraum auf gestampftem Lehmboden schläft ein alter Mensch in<br />
Kleidern. Gebückt gehen wir durch die niedrige Tür. Das Z<strong>im</strong>mer ist geräumiger, durch<br />
Frauenhand mit Tischtuch und ein paar Deckchen da und dort freundlich gehalten. <strong>Ein</strong><br />
Petroleumlämpchen gibt Licht, die Fenster sind verhängt. Zwei Familien wohnen hier in<br />
gutem <strong>Ein</strong>vernehmen. Es gibt <strong>im</strong> Ghetto viel zu wenig Raum. <strong>Ein</strong> Töchterchen, <strong>im</strong><br />
Ghetto geboren, erhellt durch sein munteres Gehaben und Lachen die St<strong>im</strong>mung. Der<br />
Vater ist glücklich und stolz, wie jeder Vater irgendwo in der Welt. Das Kind spricht<br />
schon ein paar Worte, und die Eltern sehen darin Zeichen besonders hoher Geistesgaben.<br />
Nach Würdigung und Bewunderung des gut entwickelten Kindes kommen die üblichen<br />
Fragen, was wir von den Weltereignissen wissen, die Hoffnungen und Befürchtungen für<br />
die nächste Zeit. Dann kommt er ins Erzählen. Er erzählt, wie er mit den anderen<br />
überlebenden Juden des Ortes zusammengetrieben wurde. “Sie haben uns nichts<br />
mitnehmen lassen als das, was wir auf uns trugen. In Viehwagen schafften sie uns in das<br />
Verteilungslager Marculesti. Dort gab es kein Wasser, kein Essen. Für eine Uhr oder<br />
einen Ring ließ der Hauptmann Buradescu uns eine Flasche Wasser schöpfen. <strong>Ein</strong><br />
eingeschmuggeltes Brot oder eine Zuckerrübe, für viel Geld erstanden, bewahrte uns vor<br />
dem Verhungern. Schon dort waren wir alle verlaust. Dann wurden Gruppen gebildet und<br />
unter Gendarmeriebegleitung zu Fuß von Ort zu Ort getrieben, bis zum Dniester-Fluß.<br />
Nachts jagten sie uns in ein Wäldchen oder in eine umfriedete Wiese, zündeten Feuer an,<br />
tranken, nahmen sich Frauen aus der Gruppe heraus. Man hatte uns schon be<strong>im</strong> <strong>Ein</strong>tritt<br />
und Verlassen des <strong>Lager</strong>s untersucht, alle Wertgegenstände, Geld, Dokumente<br />
weggenommen. Sie vermuteten <strong>im</strong>mer noch versteckte Schätze, ließen Bauern, die<br />
Lebensmittel <strong>im</strong> Tausch gegen Kleider anboten, nicht näher kommen, verboten uns, aus<br />
den Bächen am Wege zu trinken. So ging es tagelang <strong>im</strong> Oktoberregen durch den<br />
bessarabischen Kot. Der eine ließ die alte Mutter am Wege, der andere ein Kind, das er,<br />
133
selbst erschöpft und krank, nicht mehr schleppen konnte. Ich sah, wie sie ein Kind<br />
erschossen, das durstig aus der Reihe zu einem Bach lief, um zu trinken. Die Mutter<br />
stürzte nach, und so starb auch sie. Zur Dniester-Brücke kamen viele Gruppen zugleich<br />
an. Sie wußten, es konnte nicht rascher gehen, und deshalb jagten sie uns und drängten<br />
uns auf die Brücke. Hunderte fielen ins Wasser, und die Gendarmen jagten neue auf die<br />
Bretterbrücke.<br />
Im Lande jenseits des Dniesters erwartete uns der gleiche, tiefe Kot, der strömende<br />
Regen und eine unfreundliche Bevölkerung. Wenn wir durch ein Dorf kamen, sperrten<br />
sie die Türen und hetzten die Hunde auf uns. Man trieb uns in leere Kolchose, ließ uns<br />
dort ein bis zwei Tage, und dann hieß es, in diesem Ort sei kein Platz mehr, und man<br />
trieb uns weiter. Läuse hatten wir alle, und jetzt gab es schon zahlreiche<br />
Fleckfieberkranke. Wir konnten ihnen nicht helfen. Wer noch gehen konnte, kam mit,<br />
wer nicht, blieb am Wege. Die Toten wurden gleich ausgezogen, die Kleider waren ja das<br />
wichtigste Tauschobjekt, und viele hatten schon ihre Jacke, ihren Mantel für ein Brot<br />
hergegeben. Ich höre noch die Schreie: Ich bin noch nicht tot! Zieht mich nicht aus! <strong>Ein</strong><br />
Mädchen, das mit ihrem Bruder <strong>im</strong> Zuge war, die Eltern hatten sie schon vorher sterbend<br />
am Wege gelassen, rief mit letzter Kraft: “Ich weiß, ich sterbe, aber meine Kleider soll<br />
der Bruder nehmen!” Es war schrecklich. Jeder dachte nur daran, nicht liegen zu bleiben<br />
und schleppte sich weiter.<br />
Als wir endlich nach Berschad kamen, da wurden wir zuerst in einer<br />
Kolchosscheune untergebracht. Hier waren schon sehr viele von uns krank. Früh<br />
schafften wir die Toten hinaus. Dann bekamen wir die leeren Häuschen zugewiesen. Es<br />
war schon sehr kalt. Wir schliefen zu 8 und 10 in einem Raum. Wir schlugen uns um die<br />
Plätze in den Ecken, denn der, der bei der Türöffnung schlief, die Türe fehlte, konnte am<br />
ehesten erfrieren. Dieser Winter 41/42 war der schwerste. Die Leichen legten wir nackt<br />
vor die Türe, und früh kam ein Wägelchen und sammelte sie ab. Im Frühling ordnete der<br />
Prätor an, daß die Leichenhaufen abgetragen und begraben werden müssen. Er wollte der<br />
Verpestung der Gegend, wenn einmal die Schneeschmelze eintritt, vorbeugen. Wir<br />
bekamen Schaufeln und Hacken und gruben drei große und tiefe Gruben. Wir lösten mit<br />
den Hacken die aneinandergefrorenen Körper, legten die ersten als Stufen in die Grube<br />
und füllten dann Lage auf Lage. Das Auseinandernehmen ging nicht glatt, einzelne<br />
134
Arme, Beine und auch Köpfe lagen abgetrennt, und mein einziger Wunsch war, nicht<br />
zufällig meine Mutter, die ich darunter wußte, zu zerhacken. 30,000 Menschen begruben<br />
wir in den 3 Gruben. Im nächsten Jahr stellte die Gemeinde Tafeln auf, und gegen eine<br />
Summe Geldes konnte man die Namen seiner Angehörigen darauf einschreiben.”<br />
Es wird spät. Die zweite Familie, die den Raum bewohnt, will das Bett für die<br />
Nacht in Ordnung bringen und verlangt die Petroleumlampe auf ihre Seite. Wir sagen auf<br />
Wiedersehen, auf ein gutes Wiedersehen in der He<strong>im</strong>at. Die Wünsche sind nicht zu<br />
Grußformeln erstarrt. Wir hoffen alle, uns in normaler Umgebung und Betätigung<br />
wiederzusehen. Hoffnung ist die stärkste Quelle der Resistenz. Auch <strong>im</strong> Augenblick, wo<br />
die Exekution bereits <strong>im</strong> Zuge ist, Menschen sterben, Häuser brennen, verläßt sie nicht<br />
die noch Lebenden. Selbstmorde waren zahlreich, doch nicht der Lage entsprechend.<br />
Aktiven Widerstand konnte es nicht geben, die Masse war formlos, führerlos, mit<br />
Kindern, Kranken und Alten überladen, ausgehungert und erschöpft. Entkräftete Körper<br />
kämpfen nicht gegen Gewehre. Wir brechen auf.<br />
Nun ist es schon richtig finster geworden. Wir schleichen uns vorsichtig längs der<br />
Häuserwände bis zum Restaurant zurück. <strong>Ein</strong>ige Soldaten sind jetzt da, benehmen sich<br />
lärmend, doch lassen uns ungestört. Sie dürften den <strong>Arzt</strong>, der mich führt, kennen. Der<br />
Mann, der uns das Essen bringt, ist auch ein Landsmann. Er setzt sich zu uns und erzählt<br />
sein Leid. Vater und Mutter verlor er am Wege. Er weiß nur, daß sie sterbend waren. Er<br />
möchte als guter Jude am Todestag ein Gebet für sie verrichten, kennt nicht den Tag,<br />
weiß nur, an welchem Tage er sie entkräftet am Wege liegen ließ, um selber weitergehen<br />
zu können. Die Frau verlor er hier <strong>im</strong> ersten Winter an Flecktyphus. Die Schwester starb<br />
mit Mann und Kind an der gleichen Krankheit. <strong>Ein</strong> Bruder wurde am Wege erschossen.<br />
Er hatte einen guten Mantel an. <strong>Ein</strong> Bauer, dem der Mantel gefiel, gab dem<br />
Begleitgendarmen 1,000 Lei für die Kleider des Juden, und dieser erschoß ihn und ließ<br />
die Leiche vor der Türe des Bauernhauses liegen. Von seiner ganzen großen Familie, die<br />
vor 2 Jahren in den Deportationszug geladen wurde, blieben er und das Kind des Bruders<br />
am Leben. Das Kind ist jetzt <strong>im</strong> Waisenhaus. Wenn ihm etwas mehr zu essen bleibt, trägt<br />
er es hin, denn dort ist das Essen knapp. Die Kinder kaufen bei deutschen Soldaten<br />
Zigaretten und verkaufen sie auf der Straße, werden zu Spekulanten, die Schuhe und<br />
Kleider vermitteln. Schule gibt es ja nicht. Das Kind, ein Junge von 10 Jahren, hat gute<br />
135
Anlagen. Er will lieber weniger essen und das Kind des Bruders vor Verwahrlosung<br />
schützen.<br />
Auch der Vize-Bürgermeiser Schrenzel ist noch da. Er hat das Recht, spät<br />
auszugehen. Ich glaube, er hat absichtlich auf uns gewartet. Er kommt an unseren Tisch,<br />
ißt mit uns. Es gibt Eier, Butter, gutes Brot, Milch. Das Land ist reich, Evakuierung in der<br />
136<br />
Zeit des russischen Rückzuges, Plünderung durch deutsche und rumänische Truppen,<br />
Strafaktionen gegen Dörfer wegen Partisanenunterstützung haben nicht den natürlichen<br />
Reichtum venichten können. Die Erde gibt für jedes Korn hunderte wieder. Die Früchte<br />
sammeln sich <strong>im</strong> Bauernhof. Jeder Bauer hat seine Verstecke. Unter der Türschwelle, <strong>im</strong><br />
Keller, unter einem best<strong>im</strong>mten Baum <strong>im</strong> Felde hat er Gruben angelegt und dort<br />
Kartoffeln, Weizen und Mais versteckt. Zur Zeit kritischer Übergangssituationen stockt<br />
die Lebensmittelzufuhr, wenn z.B. vom Rückzug die Rede ist, oder Partisanenkämpfe die<br />
Gegend beunruhigen. In ruhiger Zeit werden die Schweine aus Wald und Sumpf<br />
zurückgebracht, Nahrungsmittel, die ihm sonst verderben, aus dem Versteck genommen<br />
und in den Ort geführt. Er tauscht sie für Geld oder noch lieber für Kleidungsstücke ein.<br />
Die Bauernwirtschaft geht weiter. Die <strong>Ein</strong>kaufsstellen der Behörden rechnen mit dieser<br />
Mentalität. Der Bauer schätzt die Strümpfe oder das Hemd höher ein als das Geld. Die<br />
Lebensmittel für Geld zu verkaufen und für das Geld Sachen einzuhandeln, das geht<br />
schon über seine Geschicklichkeit. Daher gibt es Regierungsläden, wo er für 100 Eier ein<br />
Paar Strümpfe, für 500 einen Pullover oder ein Hemd erhält. In diesen Laden geht er<br />
gerne, liefert seine Produkte ab und hat das Gefühl, die Kleidungsstücke geschenkt<br />
bekommen zu haben. Dem Ghetto fehlt es daher nicht an Nahrung, nur an Geld, um diese<br />
zu kaufen. Bis auf wenige Händler und Mittelsmänner sind alle auf die Zufuhr von Geld<br />
von draußen, auf dem Schmuggelwege, angewiesen..<br />
Der Vize-Bürgermeister erzählt von seiner Tätigkeit. In seiner Rede liegt die<br />
Absicht, sich zu rechtfertigen. Er will erklären und beweisen, daß es jetzt viel besser ist<br />
als unter seinen Vorgängern. Willens und Perlmutter waren ganz große Gauner. Schon<br />
vor der Deportation hatten sie ein Spezialfach ausgedacht. <strong>Ein</strong>er kam in Begleitung eines<br />
gekauften Schutzmannes oder allein in ein Haus und verlangte gewisse<br />
Personaldokumente. Jede Anfrage durch eine Behörde war zu dieser Zeit verdächtig. Ob<br />
nun die Anfrage vom Wasseramt kam oder vom Wohnungsamt zur Feststellung, wieviele
Menschen die Wohnung bewohnen, oder ob der Vorwand eine Überprüfung der<br />
Personaldokumente für die Rekrutierungsbehörde war, <strong>im</strong>mer bedeutete es das gleiche,<br />
eine unauffällige Feststellung, daß die betreffende Familie in ihrer Wohnung für die<br />
nächste Deportation zu finden ist. Daher verursachte der gute Willens durch die bloße<br />
Frage nach Datum der Geburt des Hausherrn, das angeblich <strong>im</strong> Kataster des<br />
Wohnungsamtes der Polizei nicht klar sei, große Angst. Auf die Frage, ob wirklich nur<br />
das Wohnungsamt sich dafür interessiere, gab er ausweichende Antworten und bekam<br />
schließlich das, was er wollte, Geld, um die Aufnahme der Daten in die Liste zu<br />
verhindern. So erpreßte er geschickt eine zeitlang, bis die Behörden davon erfuhren und<br />
diese unlautere Konkurrenz durch Verhaftung des Herrn W. ausschalteten. Auf dem<br />
Wege des Gerichtsprozesses kam er selbst ins Deportationsgebiet. Dort fand er gleich den<br />
Anschluß an die Ortsorgane. Er war ja geradezu für die Funktion eines Ghetto-<br />
Bürgermeisters geschaffen. In dem Trio Erpressung, Zuhältertum, Gold- und<br />
Valutenhandel hatte er die richtigen Vorkenntnisse. Dieser W. wußte als Bürgermeister<br />
des Ghettos <strong>im</strong>mer genau, wo Geld oder Dollar zu finden waren, arrangierte mit dem<br />
Gendarmerie-Feldwebel eine kleine Verhaftung oder Aushebung zum Arbeitsdienst an<br />
einer deutschen Brücke und hatte auch hier Erfolg, er bekam das Geld. Später stieg er <strong>im</strong><br />
Range und wurde Informer und Erpresser für das Haupt der Gendarmerie des Bezirkes.<br />
Jetzt machte er das Gleiche <strong>im</strong> großen, Aushebung von einigen hundert oder tausend<br />
Menschen, Freilassung der Zahlenden, Übergabe der aus dem <strong>Lager</strong> “Steinbruch” über<br />
dem Bug nach Berschad Geflüchteten an die Behörden und Freilassung nach Zahlung<br />
best<strong>im</strong>mter Summen, Delogierung von Gegnern der Leitung oder solcher, die sich nicht<br />
leicht fügten. Schließlich, als er schon Industrien von Filzstiefeln und Seife in<br />
Kombination mit den Herren gegründet hatte, geriet er doch in Konflikt mit seinen<br />
Auftraggebern, denn solche Geschäfte laufen nicht <strong>im</strong>mer reibungslos ab. Er kam mit 18<br />
anderen, seinem Sekretär und der ganzen Ortspolizei in unser schweres Straflager. Dort<br />
sah ich ihn, heiter, gut gekleidet, zuversichtlich. Seine gute St<strong>im</strong>mung verging, als er zum<br />
Kohlenschaufeln am Bahnhof und anderen Arbeiten ähnlicher Art geschickt wurde..<br />
Seine Interventionen bei der internen und militärischen <strong>Lager</strong>leitung hatten keinen<br />
Erfolg. Im <strong>Lager</strong> gab es eine straffe Organisation. Willens war gebändigt und fügte sich 6<br />
Monate lang dem geordneten, moralisch höher stehenden <strong>Lager</strong>leben, dem Anschein<br />
137
nach sogar gerne, ein. Er begriff scheinbar auch, daß Ordnung in dieser Lage<br />
nutzbringend sei. Nach seiner Freilassung war er gleich wieder Agent der Gendarmerie.<br />
Er war der gefürchtete, böse Geist, der das Unglück der Unglücklichen vergrößerte.<br />
Ghettomenschen traten rasch in ein Haus ein, um ihm nicht auf der Straße zu begegnen<br />
und in seine verbrecherische Gedankenwelt einzutreten. Als <strong>im</strong> Herbst die Repatriierung<br />
der Waisenkinder aus dem Deportationsgebiet aktuell wurde, fand er nach anfänglichen<br />
Schwierigkeiten doch noch einen Weg. Mit Hilfe des Obersts wurden die Waisenkinder<br />
aus den Kolchosen, die dort ohne Kleider und Schuhe <strong>im</strong> Stroh lagen, gegen Kinder von<br />
Ghettoinsassen, die Geld zahlen konnten, eingetauscht. Das Geschäft trug viel ein. Dann<br />
kam ein weiteres Arbeitsfeld. Juden aus gewissen Bezirken des Altreiches wurden<br />
repatriiert. W. stand <strong>im</strong> Wartez<strong>im</strong>mer des Gendarmerie-Kommandos und fand auf Basis<br />
seiner Kenntnisse solche heraus, die sich, obwohl sie nicht genau in den angegebenen<br />
Orten gewohnt hatten, einschmuggeln wollten. Hier griff er zu, und wenn der Betreffende<br />
nicht genügend Geld hatte oder hergeben wollte, dann zeigte er ihn an. Der arme R.<br />
(Roll) wurde so entdeckt, zurückgeschickt und 10 Tage später gelegentlich einer kleinen<br />
Sonderaktion mit Frau erschossen. Die Kinder blieben. So arbeitete W. bis zum letzten<br />
Tag. “Das Geld liegt,” versicherte er mir einmal mit blitzenden Augen und scharfer<br />
Aussprache auf der Sraße. Ich bin vielleicht ein Gangster, aber eigentlich tue ich nichs<br />
anderes, als daß ich das aufhebe, was auf der Straße liegt.” In kurzem Sportpelz, in<br />
Stiefeln, mit harten Zügen, Narben <strong>im</strong> Gesicht, war der kleine Mann eine ständige Gefahr<br />
für den Ort, in dem er sich gerade aufhielt. Mir kam er freundlich entgegen, denn er war<br />
um die Tripperverengung seiner Harnröhre besorgt und brauchte Hilfe. Im Herzen war er<br />
ein großer Feigling. Be<strong>im</strong> Rückzug flüchtete er mit den Behörden, kam nach Bukarest<br />
und verlangte eine besondere Behandlung als Märtyrer für Glauben und Volk. Das wurde<br />
unterbunden. Das alles kam später. In seiner Glanzzeit, als Bürgermeister <strong>im</strong> Ghetto<br />
Berschad, hatte er die Menschen ausgebeutet, die Sendungen aus dem Lande<br />
unterschlagen, die Gunst der Behörden durch Geschenke und durch Beteiligung am Raub<br />
sich zu erhalten gewußt. Als W. mit seiner Gruppe ins <strong>Lager</strong> gesperrt wurde, trat<br />
Schrenzel an seine Stelle.<br />
Schr. hat das Bild seines Vorgängers ergänzt und den Unterschied gegenüber dem<br />
jetzigen Reg<strong>im</strong>e klar gemacht. Es spricht über die Schwierigkeiten, ein Ghetto zu führen.<br />
138
Der neue Gendarmerie-Kommandant, Lt. Gherman, is ein gerechter Mensch und n<strong>im</strong>mt<br />
kein Geld. Er hat seine Tätigkeit damit eingeleitet, daß er einen Jungen, den er außerhalb<br />
des Ghettos traf, an sein Motorrad band und Vollgas gab. In der ersten Zeit prügelte er<br />
auch, sperrte das Ghetto vollständig von der Außenwelt ab und tat alles, um Angst und<br />
Schrecken einzuflößen. Jetzt aber zeigt er seine guten Seiten. Er selbst erpreßt kein Geld.<br />
Er schützt sogar manchmal das Ghetto vor deutschen Überfällen. Warum bleibt dann von<br />
den vielen Sendungen, die aus dem Lande kommen, nichts für die Ghettobewohner?<br />
Warum verkaufen bloßfüßige, halbnackte Kinder Zigaretten auf den Straßen, und warum<br />
liegen so viele Erwachsene zu Hause <strong>im</strong> Stroh, weil sie kein Hemd und kein<br />
Kleidungsstück am Körper haben? Warum ist das Spital verwahrlost und besitzt kein<br />
Leintuch, kein Kissen und keinen Topf? Er bringt die Gründe. Jede Sendung wird <strong>im</strong><br />
Beisein des Feldwebels geöffnet, der gleich seinen Hauptteil mitn<strong>im</strong>mt. Dann kommen<br />
die Frauen, die Umgang mit Unteroffizieren haben. Sie erscheinen mit Anweisungen von<br />
Gendarmerie-Unteroffizieren, Präturbeamten und wählen, tauschen ein, bis alles Gute<br />
weg ist. Dann kommen <strong>im</strong>mer noch Protektionskinder dieses oder jenes Beamten, alle<br />
mit Zettel und Drohungen, und das geht solange, bis eigentlich nichts mehr übrig bleibt.<br />
<strong>Ein</strong> Teil der Sachen muß auch verkauft werden. Es muß Geld für Bestechungen <strong>im</strong>mer<br />
vorrätig sein. Damit kann manchmal eine Gefahr abgewehrt werden. Lange, lange erzählt<br />
er von Verhaftungen, Erpressungen, Denunzianten, von den Frauen, die nachmittags<br />
Poker spielen, den Ghettomenschen, denen man nichts recht tun kann und den Behörden,<br />
die <strong>im</strong>mer noch mehr verlangen, als sie bekommen. Schrenzel ist von Natur nicht<br />
schlecht. Elend, Armut, Krankheit bedrückt ihn nicht mehr. Er sieht es täglich und ist<br />
abgestumpft. In dem langen Mann mit breiten, schiefgestellten Zähnen steckt der kleine<br />
Landadvokat mit Liebe für ein schönes Buch und einer Spur Idealisierung. Das rächt sich<br />
dann später. Er ist weder bei den Behörden noch <strong>im</strong> Volke beliebt. Bei einer kleinen<br />
Aktion <strong>im</strong> Ghetto wird er einbezogen. <strong>Ein</strong> Russe erscheint bei ihm, verlangt Geld oder<br />
einen Anzug mit der Drohung, daß er bei Verweigerung nachts von den Partisanen<br />
erschossen wird. Schr. gibt, kommt auf die Liste der Partisanenhelfer, wird am nächsen<br />
Tag ausgehoben und kurz darauf mit 150 anderen, die derselbe Provokateur besuchte,<br />
erschossen.<br />
139
Spät nachts verabschieden wir uns, kreuzen die Straße und kommen in das<br />
Z<strong>im</strong>merchen des <strong>Arzt</strong>es. Er räumt mir seine Bank ein und schläft am Bodes des<br />
Nebenraumes.<br />
Am nächsten Morgen bin ich pünktlich am Treffpunkt. Die Wagen und Schlitten<br />
warten schon. 20 Gendarmen aus Berschad kommen als Garde mit. Es herrscht<br />
Schneetreiben, die Straße ist besser, gleichmäßig gefroren. Vorsichtig bewegt sich die<br />
Kolonne, denn es ist anzunehmen, daß die Partisanen über jede Bewegung genau<br />
orientiert sind und versuchen werden, den Crischan zurückzuholen. Jeder Bauernschliten<br />
wird genau untersucht, der Bauer mit hochgehaltenen Händen unter Wache ein Stück<br />
mitgeführt. Nach Überqueren der Bahngeleise wird die Straße belebter. In den Dörfern<br />
liegen Trainkolonnen. Die Garde verabschiedet sich und fährt zurück. Crischan liegt in<br />
Pelze eingewickelt auf einem breiten Wagen, die junge Ukrainerin schützend neben ihm.<br />
Freundlich winkt er den Abfahrenden zu. Die Karawane setzt ihren Weg fort. Es geht<br />
langsam, denn der Weg ist <strong>im</strong>mer noch schwer, die Sicht nach dem Schneetreiben<br />
schlecht und, wenn Wald oder Busch näher an den Wegrand herantritt, wird erst nach<br />
Sichtung des Terrains gefahren. Im eigenen Rayon, wo Prätor und Agronom jeden Pfad<br />
und Steg kennen, werden Nebenwege eingeschlagen, um eventuelle Beobachter<br />
abzulenken. Gewehr bei Fuß passieren wir das letzte Dorf. Zwei Jungen, die in einem<br />
Feld Maisstroh brechen, um es als Heizmaterial nach Hause zu schaffen, werden<br />
angerufen. Sie lassen alles stehen und rennen davon. Sie glauben, der Anruf gilt ihrem<br />
kleinen Diebstahl. Der letzte Hügel mit einem Kirchlein und Resten eines Friedhofes<br />
wird erreicht, <strong>im</strong> Tale sehen wir Oligopol. Friedlich liegen die kleinen Häuschen<br />
aneinander, der frisch gefallene Schnee verdeckt allen Schmutz. Wir fahren den Hügel<br />
hinunter. Vor der Brücke wird kurz gehalten und besprochen, wohin man den Kranken<br />
bringen soll. Ich überlege. Nach Hause schaffen heißt täglich mindestens einmal<br />
besuchen, Verbandstoff und Salben auf Kosten des Ghettos verbrauchen. Ich warte, bis in<br />
der Debatte das Wort Spital fällt. Da erst gebe ich meine Meinung: eine richtige Pflege<br />
und Aufsicht des trotzigen, zu übermäßigem Alkohol neigenden Kranken kann es nur <strong>im</strong><br />
Spital geben. Zu meiner Freude wird der Vorschlag angenommen. In wenigen Minuten<br />
hält der Zug vor dem Spital. Dieses ist noch vor dem ersten Weltkrieg gebaut, gut anglegt<br />
und eingerichtet. Der ukrainsiche Leiter zerfließt in Liebenswürdigkeit, räumt ein<br />
140
schönes Z<strong>im</strong>mer ein. Er hat durch Dokumente bewiesen, daß seine Frau von Moldowern<br />
abstammt, die Kinder also Halbrumänen sind. Er erzieht die Kinder in diesem Sinne. Den<br />
Kollegen von der internen Abteilung hat er als Judenstämmling angezeigt und ins <strong>Lager</strong><br />
bringen lassen. Er ist also loyal. Daß er früher einmal Abgeordneter <strong>im</strong> russischen Sowjet<br />
war, zählt <strong>im</strong> Augenblick nicht. Wohl versorgt, in warme Decken gehüllt, lassen wir den<br />
Kranken in guter Obhut. Zur Vorsicht bleiben noch 2 Gendarmen <strong>im</strong> Nebenz<strong>im</strong>mer, einer<br />
<strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer und einer als Posten be<strong>im</strong> <strong>Ein</strong>gang. Die Fußsohlen werden be<strong>im</strong> nächsten<br />
Verbandwechsel fotografiert, der Bezirkshauptmann erscheint am nächsen Tage <strong>im</strong> neuen<br />
Auto zu Besuch, ein Bericht geht ab, Crischan war doch ein Held. Nach einigen Wochen<br />
erhält er einen längeren Erholungsurlaub und kurz darauf die der Heldentat angemessene<br />
Auszeichnung.<br />
Der Winter hat in voller Härte eingesetzt. <strong>Ein</strong>e dicke Schneedecke bedeckt seit<br />
November das Dorf und das Land. <strong>Ein</strong> scharfer, kalter Wind bläst gleichmäßig und<br />
unaufhörlich gegen Osten. Die Bauern sitzen in ihren Stuben, trinken ihren Samogonka<br />
und dösen. Wir warten auf Nachrichten, denken, sprechen, suchen den Kontakt<br />
miteinander aufrecht zu erhalten und sorgen für Wasser und Nahrung. Trinkwasser ist<br />
schwer zu beschaffen. Der Brunnen liegt in der Mitte des Ortes, die Gegend um ihn<br />
herum ist durch verschüttetes Wasser vereist, und die abgetretenen Schuhsohlen gleiten<br />
ab. Auch umgebundene Fetzen geben keinen sicheren Halt. Nur auf den Knien rutschend<br />
ist die Annäherung an den leicht erhöhten Platz möglich, und den fadenscheinigen,<br />
geflickten Hosen, wir nannten sie deshalb Gobelinhosen, ist das nicht zuträglich. Am<br />
Rande des Brunnens gibt der Holzunterbau einen Halt zum Anfassen. Dann gilt es,<br />
kunstvoll den E<strong>im</strong>er mit einigem Schwung hinunterzulassen, um die dünne Eisdecke zu<br />
durchbrechen, sonst liegt der Kübel darauf und schöpft kein Wasser. Die Winde ist mit<br />
einem großen Rad versehen und leicht aufzuziehen. Der Weg zurück erfordert die<br />
Jonglierkunst eines Akrobaten. Und doch gelingt es uns, einige Kübel täglich in unser<br />
Häuschen zu tragen. Schneehaufen liegen vor der Türe, doch eine große Menge Schnee<br />
gibt wenig Wasser, und dieses ist zu schmutzig zum Waschen und Kochen. In der Stube<br />
ist es bitterkalt. Nur eine Wand wird vom nachbarlichen Petsch erwärmt, und ein kleines<br />
Eisenöfchen, für einige Stunden an den Abenden geheizt, frißt unseren Holzvorrat auf.<br />
Auch die Hirnarbeit ist eingefroren, das Denken auf einem niedrigen Niveau. Wenn die<br />
141
Luft in der Stube dicker wird, erzählt Moritz zum wiederholten Male von dem Armenier,<br />
der eine zu kurze Haut hat. Wenn er die Augen zumacht, geht die Klappe unten auf, und<br />
die Luft wird schlecht, wenn er unten zumacht, öffnen sich die Augen, und er wird wach<br />
und redet zuviel. Er erzählt von seiner Militärdienstzeit als Leutnant der kaiserlichösterreichischen<br />
Armee <strong>im</strong> ersten Weltkrieg und spricht von den Karten mit<br />
Fluchtplänen, die er gezeichnet und zur Vorsicht in dem Maisstroh an der Wetterseite<br />
versteckt hat. Die anderen schweigen.<br />
Es ist alles so unlogisch, so kulturfremd, so absurd. Wir sitzen hier, hunderte<br />
Kilometer von unserer He<strong>im</strong>at, in Kälte und Schnee, hören den russischen Steppenwind,<br />
in einem kleinen Lehmhaus in bäuerlicher Umgebung mit dem Geruch der kaum<br />
vorbeigegangenen Leibeigenschaft und vegetieren körperlich und geistig in niedriger<br />
Flamme zur Erhaltung der Personalität, in der Hoffnung auf ein Ende und eine<br />
Regeneration. Ist diese möglich? <strong>Ein</strong> Ja, mit Überzeugung. Der Getretene, Erniedrigte,<br />
Entwürdigte richtet sich eher auf als der moralisch degenerierte Unterdrücker, den Scham<br />
und Schande bis ans Lebensende verfolgen. Wer sind diese Unterdrücker, und wie kamen<br />
sie in diese Situation? Wie wurden sie so unmenschlich grausam, brutal, zu pr<strong>im</strong>itiven,<br />
gedankenlosen Triebmenschen? Sie haben doch Jahrhunderte der Zivilisation hinter sich.<br />
Und auf der anderen Seite: wie tief kann ein normaler Durchschnittsmensch, der an<br />
warme Kleider, Essen aus einem Teller, an regelmäßige Arbeit und Anregung der<br />
Sinnesorgane durch künstlerischen Genuß gewohnt war, durch Not und Elend absinken,<br />
ohne die Hoffnung und den Lebenskampf aufzugeben? Gibt es eine Grenze <strong>im</strong> Tiefstand,<br />
oder liegt das Versagen der Widerstandsfähigkeit erst <strong>im</strong> letzten Herzschlag und<br />
Atemzug?<br />
Dann stellt sich die weitere Frage: wie kam es zur Umwandlung des homo sapiens<br />
nach Generationen von Zivilisation, Bildung, Aufklärung, Wissenschaft, Musik, Religion<br />
und Philosophie zum grausamen, triebhaften Urmenschen? Der Vorgang ist<br />
physiologisch in seiner Entstehung und Entwicklung erfaßbar. Das Stammhirn mit seinen<br />
Urtrieben, Reflexen, und vegetativen Funktionen ist Mensch und Tier gemeinsam und für<br />
beide zur Erhaltung lebenswichtiger Funktionen für das Individuum und für die Art<br />
ausschlaggebend. Tief eingebettet, vom Großhirn überbaut, liegen Gut und Böse, Trieb<br />
und Hemmung, als Erbmasse und Erziehungsgut, miteinander durch Denkakte und<br />
142
Reflexe verknüpft und durch stets neue Sinneseindrücke und Überlegungen ausbalanciert.<br />
Die Erweckung und Betätigung des Trieblebens wird von der menschlichen Gesellschaft<br />
überwacht und durch Normen und Gesetze geregelt. Der Betätigungsdrang des Kindes,<br />
die stürmische Drüsenfunktion <strong>im</strong> Pubertätsalter, das Geltungsbedürfnis des<br />
Erwachsenen, die Schädigung der Hirnzellen durch verschlechterte Durchblutung <strong>im</strong><br />
vorgerückten Alter vermögen das Gleichgewicht zu stören. Doch die Mutter belehrt das<br />
Kind, löst die Fäden von den Füßen des angebundenen Käfers. Auch die Tiere empfinden<br />
Schmerzen. Der Lehrer führt den trotzigen Knaben, der mit den Händen in den<br />
Hosentaschen abweisend vor ihm steht, durch die kritische Zeit, Gesetze schränken die<br />
Überambition der Tätigen ein, und die Familie umgibt den Alternden mit ihrer<br />
ausgleichenden Sorgfalt. Wenn jedoch durch abnorme Lebensumstände oder durch<br />
Doktrinen eines abnormen Systems die pr<strong>im</strong>itiven Triebe aufgepeitscht werden, das<br />
Erziehungsgut von Jahrtausenden beiseite gestoßen wird, dann entsteht Gefahr. “Du bist<br />
stark, stärker als alle. Du bist zu Großem best<strong>im</strong>mt. Du wirst herrschen. Du darfst<br />
schlagen, töten, rauben, denn alles ist nur für dich geschaffen. Die Schwachen wollen<br />
sich durch Vereinbarungen, die sie Gesetze nennen, schützen. Du kennst kein Gesetz,<br />
denn du bist der Herrenmensch, den die Vorsehung ausersehen hat, die Güter der Erde<br />
und die Menschen, die alle minderwertiger sind als du, zu beherrschen.” Der eine hat<br />
jahrelang <strong>im</strong> Lebensmittelladen Wurst und Schinken säuberlich geschnitten, ein anderer<br />
hat Kleinkindern das Lesen beigebracht, ist überzeugt, daß die Kinder von Jahr zu Jahr<br />
schlechter werden und die Frau ihn nicht versteht, und ein dritter hat die Woche hindurch<br />
schwer mit Hacke und Schaufel gearbeitet und am Sonntag <strong>im</strong> Alkohol seinen Frieden<br />
gefunden. Im Hirn all dieser klingt es an. Die neue Kleidung, die Uniform hebt das<br />
Ansehen bei anderen und erhöht dadurch die Selbstachtung. Der erste Versuch gelingt.<br />
Die Getretenen jammern, können sich aber nicht wehren, und der Gewinn durch Raub ist<br />
greifbar. Schließlich tun es ja alle, und wenn ich es nicht nehme, n<strong>im</strong>mt es sich ein<br />
anderer, der es noch weniger braucht. Der Umwandlungsprozeß des kleinen<br />
Durchschnittsmenschen zum Verbrecher ist eingeleitet, das Tempo und das Endformat ist<br />
von Zufälligkeiten abhängig.<br />
Dem gegenüber steht schutzlos der Entrechtete, zuerst ungläubig, dann verzweifelt<br />
und zuletzt apathisch. Nach dem Kriege werden Studien escheinen, die die Mentalität der<br />
143
Enthemmten, der Mitläufer, der Von-Nichts-Wissen-Wollenden und auch die der in die<br />
Tretmühle Geratenen analysieren werden. Das große Vernichtungsgeschehen setzt sich<br />
aus kleinen <strong>Ein</strong>zelschicksalen zusammen. Jedes davon, so unbedeutend es auch zu sein<br />
scheint, liefert einen Teil zur Erfassung des Ganzen. Die große Masse macht erst die<br />
Wucht. Heldenleben werden nachher geschaffen, Ereignisse und Handlungen miteinander<br />
144<br />
verbunden und als bewußtes heroisches Handeln dargestellt. Um uns herum sind keine<br />
Helden. Der <strong>Lager</strong>mensch in höchser Not wird apathisch. Die schlummernden Triebe der<br />
Selbsterhaltung erzeugen die Reflexhandlungen von Verstecken, Duchgehen,<br />
Zuschlagen. Nur wenige besonders Begabte sind <strong>im</strong>stande, die schlaffe Masse<br />
aufzurütteln, ihre Gedankenrichtung zu beeinflussen, Organisation, Beschäftigung bis zu<br />
künstlerischen Leistungen zu erwecken und ihre Widerstandskraft zu verstärken. Werden<br />
diese Analysen eine Lehre für die Zukunft sein?<br />
Februar 44. Es herrscht kalter Winter. Die Tage sind kurz und jede Tätigkeit auf ein<br />
Min<strong>im</strong>um eingeschränkt. Da erfahren wir, daß ein Jude aufgegriffen und in das<br />
Gefängnis Oligopol gebracht wurde. Der Postenchef ist <strong>im</strong> Urlaub und sein Vertreter<br />
Ruxandra, ein bösartiger Unteroffizier, <strong>im</strong> Dienst. Er beneidet seinen Amtskollegen<br />
Dumitrescu, denn dieser ist als Kommandant der Polizeistation der Herr des Ortes, und<br />
naturgemäß fließt ihm ein Strom von Geld, Gold und Kleidern zu. Er bekommt auch von<br />
uns ein Monatsgehalt für inoffensives Verhalten und Bezahlung für jeden kleinen Dienst.<br />
Sogar sein Junior-Partner, Sergeant Sabu, schnappt kleine Bissen und erpreßt da und dort.<br />
Ruxandra dagegen, der die Medaille Stalingrad trägt, ist Außenseiter, bekommt weniger<br />
als die anderen und braucht viel, denn er säuft. Es hilft nichts, man muß ihn aufsuchen. Er<br />
ist <strong>im</strong> Halbrausch, doch ansprechbar. Er spricht von Stalingrad, von den Kugeln, die<br />
rechs und links an Kopf und Hals vorbeischossen, auswichen, aber ihn nicht berührten. Er<br />
hat ein gutes Amulett. Er will Lob und Anerkennung und bekommt sie. “Du bist wirklich<br />
ein starker Mann, ein wertvoller Mensch, nur die Flecken an deinem Körper und die<br />
Knoten um den Anus, von denen du erzählst, sind eine böse Krankheit, die dich zerstören<br />
kann. Es gibt Injektionen dagegen, und die könnten wir für dich beschaffen.” Er gibt den<br />
Juden nach Bezahlung einer Summe und Versprechung einiger Injektionen heraus. Er<br />
wird ihn vergessen, nicht eintragen und dafür gesund werden.
Wir bekommen einen kleinen Mann mit kurzen Beinen, großem Schädel, die<br />
Kleidung in Fetzen, sodaß Nabel und Brustwarzen herausschauen, die Füße in Sackfetzen<br />
gehüllt und mit Strick zusammengehalten, einen Brillenrahmen mit einem halben Glas<br />
vor den kurzsichtigen Augen, Körper und Beine von Furunkeln übersät, stark verlaust<br />
und mit einem wirren Blick ins Leere. Wir lassen ihn weinen, schreien, halluzinieren.<br />
Wir fragen ihn nichts, bitten ihn, ruhig zu bleiben, nicht zu sprechen. Es läßt sich führen.<br />
Im Keller mit den 4 Eisenbetten auf Steinboden wartet Chanele Feuerstein und<br />
beginnt mit ihrer Arbeit. <strong>Ein</strong> großer Kreis wird mit Nepht umstrichen, eine Schüssel<br />
Warmwasser in die Mitte gestellt, die verlausten Kleider werden vorsichtig abgenommen<br />
und in kochendes Wasser geworfen, der Körper wird einmal und nochmals geschrubbt,<br />
bis da und dort Haut sichtbar wird, und die Läuse bis auf einzelne Überlebende vernichtet<br />
sind. Er läßt es über sich ergehen, starrt in die Luft. Dann werden tiefer gehende<br />
Eiterungen gereinigt und verbunden, Krusten mit Salbe eingefettet und der ganze kleine,<br />
wirre Mann in reine Wäsche eingekleidet und in ein Bett mit Strohmatratze, weißem<br />
Leintuch und warmer Decke gelegt. Er fingert daran herum, sieht sich unsicher um, putzt<br />
das verbliebene halbe Brillenglas und ruft mich, um mir etwas zu sagen. Nach 3 Worten<br />
bricht er in Weinen aus. Er ist wirr, Rede und Gedankenablauf zusammenhanglos.<br />
“Lassen Sie das Sprechen, kommen Sie erst zu sich.” Er liegt die ersten Tage<br />
teilnahmslos, schlürft einige Löffel Suppe, dann auch festere Nahrung, beginnt mit Löffel<br />
und Gabel umzugehen, den After nach dem Stuhlgang zu reinigen, lauter Handlungen,<br />
die <strong>im</strong> aufgezwungenen <strong>Lager</strong>leben verloren gegangen waren. Am 4. Tag greift er nach<br />
einem Stück Papier und starrt es durch die leere Stahlbrille lange an. Er versucht wohl zu<br />
lesen. <strong>Ein</strong>e halbwegs passende Brille wird sich auftreiben lassen.<br />
Die nächsten Tage brachten eine Abheilung der oberflächlichen Hautwunden, die<br />
Haare wurden geschoren, er is jetzt, dank Chaneles Sorgfalt, parasitenfrei, die Kopfhaare<br />
sind nach oben gekämmt und verdecken die beginnende Glatze <strong>im</strong> Scheitel, der Aspekt<br />
ist vollkommen verändert, viel menschlicher. Nach 2 weiteren Wochen steht er mit heiler<br />
Haut auf seinen kurzen Beinen, humpelt auch schon mit einem Stock herum, verlangt ein<br />
Buch zum Lesen und sucht sich zu beschäftigen. Es fanden sich Leute, die ihn von früher<br />
her kannten und jetzt wieder erkannten.<br />
145
Der Goldschmied und Uhrmacher Tannenzapf lebte von und in seiner Arbeit und<br />
Familie. Auf großen Umwegen kam er zuletzt in das deutsche <strong>Lager</strong> jenseits des Bug-<br />
Flusses, dort war auch seine Frau. Das Kind war vorher umgekommen.. Die Zahl der<br />
<strong>Lager</strong> über dem Bug wurde <strong>im</strong>mer kleiner. Wer krank war, bei der Arbeit zurückblieb,<br />
umfiel, wurde erschossen. Bei der Art der Verpflegung und Behausung waren das viele.<br />
Von Zeit zu Zeit kam der SS-Wagen. Das, wußten sie, hieß Umlegeaktion. Der<br />
ausführende SS-Mann legte Gummischürze und Gummihandschuhe mit Stutzen an, um<br />
nicht bespritzt zu werden, erledigte die Arbeit und fuhr in den nächsten Ort. Im<br />
Februar 44 kam der Auftrag, die letzten Reste der Judenlager zu liquidieren. Am Abend<br />
kam der SS-Wagen. Die Vorbereitungen bestanden in der Anlage einer Grube mit einem<br />
Brett darüber, genau über die Mitte. Wenn nach Abnahme der Kleider 10 das Brett<br />
betreten und dadurch hintereinander angereiht sind, genügen nur einige Kugeln, um sie<br />
rechts und links in die Grube fallen zu lassen. Das geht auch viel rascher. Die Kleider<br />
sind <strong>im</strong>mer noch für die <strong>Ein</strong>kleidung von Insassen anderer Arbeitslager zu gebrauchen.<br />
Am Abend vorher grub Tannenzapf mit einigen seiner Leidensgenossen ein Loch unter<br />
dem Stacheldraht, und als die Aktion losging, verkrochen sie sich und schlüpften durch.<br />
Die Frau, die er <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> wußte, konnte er nicht mitnehmen. Als er sich umsah, glaubte<br />
er, sie auf dem Brett zu sehen. Der Anblick verließ ihn nicht bis zur Stunde. Jenseits des<br />
Stacheldrahtes lief er mit den anderen. Nachgeschickte Kugeln erreichten einige. Er kam<br />
durch bis zum nahen Bug-Fluß, durchquerte ihn, kam unbemerkt bis nach Berschad und<br />
mischte sich dort in die 12,000 Menschen starke jüdische Ghettobevölkerung. Bald<br />
fanden sich Angeber, die mehr Schweigegeld verlangten, als Freunde hergeben konnten,<br />
und die ihn den Behörden auslieferten. Er wurde eingesperrt, lag, er weiß nicht wie lange,<br />
<strong>im</strong> verdreckten Ortsgefängnis, verprügelt, verhungert, verwahrlost, und wurde am Ende<br />
in das Straflager Oligopol gebracht.<br />
P.S. Tannenzapf lebt, klopft und schweißt in einer Werkstätte Blechkübel und<br />
Behälter für Kochgas zusammen, hat wieder eine Familie gegründet, doch blieb er mit<br />
Gott und Menschen verhadert, zanksüchtig und unausgeglichen. Jedes Jahr schickt er an<br />
einem best<strong>im</strong>mten Tag eine Dankeskarte in seiner eigenartigen, steilen Handschrift.<br />
Im Frühjahr 1944 näherte sich die Kampffront unserer Gegend. Die<br />
Besatzungsbehörden wurden nervös, schickten ihre Frauen he<strong>im</strong>. Die Zurückgebliebenen<br />
146
verpanzerten sich noch mehr in ihren Kommandostellen. Truppen zogen durch die<br />
Ortschaft, ungeordnet und in eine Richtung. Die Bauerngesichter wurden lebhafter,<br />
fröhlicher. Der Priester reinigte das Versteck für seine Fahnen und Räuchergeräte, und<br />
die Ortsjuden öffneten die Doppelwand bei ihrem Petsch und versteckten dort ihre<br />
armselige Habe. Die St<strong>im</strong>mung <strong>im</strong> Ort war gespannt. Wird man uns mitnehmen oder<br />
einfach zurücklassen? Der Nachrichtendienst von Mund zu Mund berichtete über große<br />
Niederlagen, über Durchbrüche und Vormarsch. Dann hörten wir von weitem<br />
Kanonendonner und sahen nachts ferne Feuer leuchten. Trainzüge, hunderte Wagen mit<br />
müden Pferden, zogen Tag und Nacht durch. Um uns kümmerte sich niemand. Ja, der<br />
Priester kam und bot mir eine tiefe Grube in seinem Garten an, in welche er Nahrung und<br />
Wasser für einige Tage hineingestellt hatte. “Du bleibst, mein Sohn, dort ruhig 3 bis 5<br />
Tage versteckt, und dann wirst du weiter mit uns bleiben und uns helfen.” Der Priester<br />
meint es gut. Er hat uns oft in sein Haus eingeladen, uns schwarzen geräucherten und<br />
roten paprizierten Speck vorgesetzt, Schnaps zum Vertrinken eingeschenkt und fromme<br />
Worte gesprochen. Sein Angebot ist honorig, doch das Endresultat fraglich. Im Falle des<br />
Überlebens können mich die Russen genau so gut weit weg, in den Ural oder an die<br />
chinesische Grenze schicken. Ich bin zwar als Spez geachtet, doch sonst nicht<br />
zuverlässig. Und dann, was wird aus Frau und Kind zuhause? Werden sie kommen<br />
können, werde ich sie je wiedersehen? Und dann, das Leben unter dem Reg<strong>im</strong>e der<br />
anderen Seite ist uns aus eigener Erfahrung gut bekannt. Willst du also mit den<br />
Bedrückern, die dich ausgestoßen haben, gehen? Inzwischen vergehen Tage, die<br />
Detonationen werden deutlicher hörbar, die Behörden haben sich ohne Abschied<br />
verlaufen, am Rande des Horizontes tauchen verschwommene Gestalten auf und<br />
verschwinden. Die Bauern bleiben in ihren Häusern und murmeln: Sie kommen bald. In<br />
diesem Zustand entscheidet nicht der Verstand, denn es fehlen die Prämissen zur<br />
Beurteilung der Lage, sondern der Instinkt. Und dann kam ein verspätetes Wägelchen mit<br />
einem vergessenen Tierarzt und 2 Soldaten, Georg und Paul, in den verlassenen Ort, und<br />
auf dieses stieg ich auf. Und so begann die Flucht.<br />
147
Die Flucht<br />
Der Entschluß ist in klarer Überlegung gefaßt. Nicht die Aussicht auf baldige<br />
Befreiung durch die vorrückende russische Armee, nicht die Scham einer Flucht mit und<br />
zu denen, die uns grausam ausgeschieden haben, ist best<strong>im</strong>mend. Das Ziel ist die<br />
Wiedervereinigung mit der Familie, mit Frau und Kind. Die Lage <strong>im</strong> Ort wird <strong>im</strong>mer<br />
unsicherer. Die Behörden sind abgezogen, ohne Anweisungen für uns zu hinterlassen.<br />
Wer hat nicht alles versprochen, mich mitzunehmen! Der Oberst, aber der ist längs weg,<br />
Militaru, sein Sekretär, der Gendarmerie-Kommandant und vor allem Dumitrescu, der<br />
Ortsgewaltige. Die Gendarmerie ist gestern abgezogen. Der Kommandant äußerte ganz<br />
unverbindlich, er hätte nichts dagegen, wenn wir uns zu Fuß anschließen. <strong>Ein</strong>e<br />
Verantwortung könne er nicht übernehmen. Dumitrescu ließ mich wirklich rufen. Er<br />
stand vor dem Abzug, hatte seine Möbel und sonst vieles in einer Wagenkolonne verstaut<br />
und erlaubte mir, Roll, und noch einigen mitzugehen. Die Kolonne steht zur Abfahrt<br />
bereit. Da sitzt aber der alte Feldwebel, der feindliche Feldwebel aus Transsilvanien, in<br />
einem Wägelchen. “Kannst du mich mitfahren lassen?” “Nein, ich habe keinen Platz.”<br />
Das klingt feindselig. Also, dann lieber überhaupt nicht, und unter dem Vorwand, mir<br />
meine Sachen zu holen, ziehe ich ab.<br />
Durch den Ort gehen unendlich lange Wagenkolonnen, versprengte Truppenteile<br />
der Verbündeten, <strong>Ein</strong>zelgänger zu Fuß und auf müden Pferden. Es herrscht Chaos,<br />
Unsicherheit und Angst. Unsere Gruppe müßte in dieser Atmosphäre zusammenstehen<br />
und gemeinsam einen Weg suchen. Indessen herrscht Unentschlossenheit, Uneinigkeit<br />
und eine Spur Mißtrauen mit einem leichten Unterton: Rette sich jeder, wie er kann.<br />
<strong>Ein</strong>e <strong>im</strong> Ort postierte Trainkolonne wartet noch auf den Auftrag. Die Verbindung<br />
mit der Kommandostelle in Balta ist nicht zu erreichen, die Nervosität steigt, <strong>im</strong> Ort gibt<br />
es keine Autorität. Die Kolonne Nr. 334, mit 350 Wagen, steht abfahrtsbereit, und der<br />
ganze Tag, der 1. März 1944, vergeht mit Versuchen, mit einer Kommandostelle in<br />
148
Verbindung zu treten. Wir verhandeln mit den Train-Offizieren. Die wollen Geld, und<br />
wir versprechen es. Es entstehen Unst<strong>im</strong>migkeiten unter uns, und schließlich steigen 7<br />
von uns auf die wartenden Wägelchen. Der Tag vergeht und die halbe Nacht, keine<br />
Verbindung, kein Auftrag.<br />
Um 5 Uhr morgens, am 14.3., setzt sich die Kolonne in Bewegung, nach Süden, in<br />
die Richtung Balta, um dort Anweisungen zu holen. Die erste Station ist das Dorf<br />
Stratijewka, nur 5 Kilometer entfernt. Der Weg führt durch hügeliges Gelände. Bei<br />
jedem Anstieg gibt es Stockungen durch müde Pferde, schlecht verankerte und<br />
überladene Wagen. Der kilometerlange Zug bewegt sich <strong>im</strong> Schneckentempo. Man hört<br />
durch die ganze Nacht Geschützdonner von Nordosten. Die Führung ist unsicher und<br />
nervös. In den ersten Morgenstunden überholt uns ein deutscher Truppenrest und mit ihm<br />
ein uns bekanntes Gesicht, ein Landsmann, als Dolmetscher. Er besitzt ein Dokument,<br />
das ihm und Begleitern als Ausweis dienen kann. Die Unentschlossenen verlassen die<br />
Kolonne und ziehen mit ihm weiter. Am Morgen sind nur noch drei, Moritz, Polia und<br />
ich, mit der Kolonne geblieben.<br />
Der Tierarzt Dr. W. ist kein rechtloser Flüchtling. Er war zum Zwangsdienst in<br />
seinem Beruf, zur Behandlung der Train-Pferde, einberufen. Er hat Papiere und einen<br />
Wagen mit 2 Soldaten zu seiner Verfügung. Doch auch er hat bis zuletzt keine<br />
Anweisungen erhalten und sein Wägelchen, mit Gheorghe und Pavel auf dem Vordersitz,<br />
in die abziehende Train-Kolonne eingefügt. Er gestattet mir aufzusitzen, und so geht der<br />
Weg langsam weiter.<br />
Stratijewka wird erreicht, die erste Rast und wieder Versuche, mit dem Kommando<br />
telefonisch in Verbindung zu treten. Keine Antwort. Ob das Kommando sich noch dort<br />
befindet? Am Nachmittag wird beschlossen, weiter in gleicher Richtung zu ziehen bis<br />
zum nächsten größeren Dorf, nach Pere<strong>im</strong>a. Schwerfällig setzt sich die Kolonne in<br />
Bewegung, langsam geht es vorwärts, und nach Stunden wird in Pere<strong>im</strong>a eingefahren.<br />
Hier wird Kriegsrat gehalten. Wir sind 15 km näher zu Balta gekommen, ein Drittel des<br />
Weges, und auch von hier ist nichts zu erfahren, keine telefonische Verbindung, keine<br />
Nachrichtenübermittlung aus der Bezirkshauptstadt. Es ist fraglich, ob das Kommando in<br />
Balta noch funktioniert, ob Balta überhaupt noch frei ist. Der Beschluß: alles<br />
149
150<br />
Überflüssige abzuladen und statt nach dem nahen Balta direkt in die Richtung nach<br />
Westen bis nach Kodyma zu ziehen. Für 5 Uhr nachmittags wird die Abfahrt angeordnet.<br />
Kisten mit Waren, Möbeln, Instrumenten und Maschinen werden abgeladen,<br />
Weinflaschen geöffnet und in Strömen getrunken. Wir bekommen in einem Bauernhaus<br />
Eier, Butter und Brot. Flüchtlinge kommen vorbei, ein jüdisches Mädchen aus Balta,<br />
verwirrt, desorientiert. Sie erzählte, daß die Russen bereits in Pestschana waren, und sie<br />
davongelaufen ist. Drei rumänische Soldaten kommen durch den Ort, aus Berschad,<br />
versprengte Verteidiger der Stadt, ohne Ziel, deutsche Soldaten aus Uman zu Fuß, zu<br />
Pferd, auf Stock gestützt, verschmutzt und verwahrlost. Sie sind 8 Tage unterwegs und<br />
ziehen nach Balta und Umgebung zur Sammelstelle. <strong>Ein</strong>zelne deutsche Motorfahrzeuge<br />
fahren in die entgegengesetzte Richtung, zur Front.<br />
Unsere Abfahrt verzögert sich bis 8 Uhr abends, bis in die Dunkelheit. Die Ordnung<br />
leidet be<strong>im</strong> ersten Anstieg. Wagen bleiben stecken, der Inhalt wird überführt. Nach<br />
Stunden erreicht die Spitze der Kolonne einen Bach ohne Brücke, man sucht Nebenwege,<br />
gerät in Unordnung, ein dichter Schneesturm hat eingesetzt, die Sicht ist schlecht, und<br />
dann plötzlich ertönt das Geräusch von Flugzeugen, Lichter, Detonationen, Kälte,<br />
Schreien, wüstes Durcheinander, keine Führung, keine Befehlsgabe. Das Wägelchen, in<br />
welchem Moritz und Polia fuhren, wird von unserem abgedrängt. Sie rufen, wir rufen<br />
zurück, zwischen uns Bäume, Wasser, nasse Gesichter, Finsternis und helles, kurzes<br />
Aufleuchten. Die Rufe werden schwächer und ertrinken <strong>im</strong> allgemeinen Lärm. Von da an<br />
wissen wir nichts mehr voneinander.<br />
Pavel und Gheorghe verlieren ihre Ruhe nicht. Gheorghe übern<strong>im</strong>mt die Zügel,<br />
Pavel steigt ab und geht zu einem umgestürzten Wagen, holt zwei Zeltblätter heraus, ein<br />
Brot gibt er zurück, dem Toten <strong>im</strong> Wagen. Dem zweiten Toten, der draußen liegt,<br />
überdeckt er das Gesicht mit dem Mantel. Er ordnet die Zeltblätter zu unserem Schutz<br />
vor Nässe. Er setzt den Pferden Futter vor und wartet auf Beruhigung der Situation.<br />
Im Morgengrauen sind wir eine kleine Wagengruppe geblieben. Der Weg wird<br />
gefunden. Er geht weiter und mündet in eine richtige Sraße. Randbewohner werden<br />
geweckt und befragt: wir sind auf der Straße nach Balta. Wir sind statt nach dem Westen<br />
nach dem Süden abgewichen, eine ganze Nacht in Schnee und Regen <strong>im</strong> Kreise gegangen<br />
und wieder auf dem Wege nach Balta.
In den Morgenstunden des 15.3. fahren wir in Balta ein. Die Stadt ist leer, ein paar<br />
alte Frauen sind scheinbar die einzigen Bewohner. Die Brücke über den Bach ins Ghetto<br />
ist durch einen Tank eingedrückt. Im Krankenhaus sind nur die Schwerkranken<br />
geblieben, und dort finden wir auch unseren Freund Turri. Er ist am Wege unter so<br />
hohem Fieber erkrankt, daß er zurückbleiben mußte. In Balta erscheinen kurz nach uns<br />
noch ungefähr 30 Wagen von unserer Kolonne, von denen, die am Weg verloren gingen<br />
oder sich <strong>im</strong> Walde verirrten. Sie erzählen von Achsenbrüchen, toten Pferden, Verlusten<br />
an Menschen durch Beschießung und Unfälle. Bedauernswert ist es, daß der<br />
Verpflegungs-Oberleutnant und sein Feldwebel mit der ganzen Truppennahrung<br />
irgendwo am Wege geblieben sind. Von Moritz und Polia ist keine Spur.<br />
Der Aufenthalt in Balta ist kurz. Die Stadt ist verlassen und das Bleiben gefährlich.<br />
Nach 3 Stunden zieht die nunmehr reduzierte Kolonne in die sicherere, südwestliche<br />
Richtung. Die erste Station ist Slobodka, ein Ort an der wichtigen nord-südlichen<br />
Eisenbahnlinie.<br />
Die Entfernung nach Slobodka beträgt nur 30 Kilometer, die Landschaft ist<br />
einförmig und ruhig, doch der Weg ist bei der Ausfahrt glatt, von einer Eisschicht<br />
bedeckt, dann aufgewühlt, kotig, ungleichmäßig, nicht gepflastert, auf der einen Seite<br />
durch eine Baumreihe abgegrenzt. Nahe zu Balta kommt ein Zug vorbei, Juden unter<br />
Bewachung von Soldaten oder Gendarmen. “Man führt uns zum Erschießen,” rufen sie<br />
uns zu, und wir sind schon an ihnen vorbei. Zwei einsame Frauen gehen am Wegrand,<br />
verdrücken sich bei unserer Annäherung. Stundenlang fahren wir mit Stockungen auf<br />
dieser schlechten Straße. Wie wir schon die ersten Häuser des Dorfes in der Ferne sehen,<br />
kommt es zu einer erschütternden Begegnung. <strong>Ein</strong>e Gruppe von Menschen kommt uns<br />
entgegen, ungefähr 20 Juden, mit Paul Moscovici an der Spitze. Wir erkennen uns trotz<br />
der durch Schmutz und Kälteschutz hervorgerufenen Verkleidung sofort. Wir halten an,<br />
warme Begrüßung, Tränen in den Augen, Freude, den anderen am Leben zu wissen.<br />
Seine Mitteilung: Am <strong>Ein</strong>gang des Ortes stehen Tafeln mit der Inschrift “Juden, die<br />
eintreten, werden erschossen”. Auch seine Helfer und Freunde in der rumänischen Armee<br />
haben ihm geraten, den Rückweg nach Balta anzutreten. Er beschwört mich, mit ihm zu<br />
kommen und nicht leichtsinnig das Leben in Gefahr zu bringen. “Paul, ich gehe weiter.<br />
Durch das Dorf führt eine Eisenbahn, und ich muß versuchen, durchzukommen.” Er<br />
151
suchte mich zu überreden. Er hatte keine Alternative, keinen aussichtsreichen Vorschlag,<br />
und ich hatte auch nichts zu bieten. <strong>Ein</strong>e letzte Umarmung, ein guter Wunsch, und wir<br />
ziehen in entgegengesetzte Richtungen.<br />
Später erfuhr ich, daß die Verbrecherseelen, die er niedergehalten hat, aus ihrem<br />
schlechten Gewissen heraus ihn als Kollaborateur anzeigten, und er, der korrekte,<br />
anständige, für das Wohl und die Rettung von Menschenleben bedachte Mann, auf<br />
kurzem Wege verurteilt und gerichtet wurde. Es ist sehr gefährlich, in trüben Zeiten<br />
anständig zu sein.<br />
In Slobodka suchen wir Quartier für die Nacht. Aus einem Bauernhaus ziehen<br />
Soldaten ab, wir besetzen einen engen Raum. Die Pferde bleiben draußen <strong>im</strong> neuen<br />
Schneesturm. Das Bauernhaus ist in Bewegung, eine Kuh kalbt, und alle sind dabei<br />
beschäftigt. Wir finden ewas Essen und fallen todmüde auf das <strong>Lager</strong>. Klopfen und<br />
Öffnen der Türe durch Nachzügler, deren Pferde <strong>im</strong> Dreck steckenblieben, stört uns nicht<br />
<strong>im</strong> Schlafe.<br />
Ausgeruht, endlich eine Nacht durchgeschlafen, gewaschen, Milch und Brot<br />
erstanden. Im Bauernhaus gibt es <strong>im</strong>mer etwas zu essen. Der Bahnhof ist von Tausenden<br />
belagert, die die seltenen Züge erstürmen. Keine Aussicht.<br />
Aufbruch in die Richtung Rybniza, zum Dniester-Fluß, der die Ukraine gegen<br />
Bessarabien abgrenzt. Nur möglichst rasch aus der Frontzone hinaus. Als erstes Ziel wird<br />
Kolbassnaja gesetzt und in den Vormittagsstunden losgezogen. Es ist der 16. März,<br />
Tauwetter nach frischem Schneefall. Die Haupteisenbahnlinie wird bald nach dem Ort<br />
überschritten. Der Weg ist durch tausende Fahrzeuge aufgewühlt und stellenweise auf<br />
hunderte Meter verbreitert. Es ist die Richtung des Flüchtlingsstromes. Die Wagenräder<br />
versinken tief <strong>im</strong> Kot. Gheorghe und Pavel sind unbekümmert, schlafen abwechselnd,<br />
essen Schwarzbrot und Zwiebeln aus dem Freßsack und schlagen die müden Pferdchen.<br />
“Wenn einmal die Nabe des Rades <strong>im</strong> Kot versinkt, dann ist es aus, dann wird man uns<br />
anderswie weiterbringen.” Unsere Besorgnis und Not überträgt sich nicht auf ihr<br />
Bauerngemüt. Wir suchen einen festeren Boden, näher dem Waldrand. Auf der anderen<br />
Seite der Lichtung zieht ein langer Zug, kommt schwer vorwärts, die Räder tief <strong>im</strong> Kot.<br />
Tote Pferde, Ziegen, mit aufgedunsenen Bäuchen liegen zu beiden Seiten des Weges.<br />
Schilderungen von Napoleons Rückzug kommen einem in Erinnerung.<br />
152
Vor einer Hütte drüben am Waldessaum steht eine Gruppe von Militärpersonen, die<br />
uns von weitem bekannt vorkommt. Es ist unser gewesenes Ortskommando. Auch sie<br />
haben uns bemerkt und erkannt. <strong>Ein</strong>er löst sich aus der Gruppe und reitet direkt auf uns<br />
zu, gibt der Spitze unseres Zuges Anweisungen, vergewissert sich, wer wir sind, Zelt und<br />
Schmutz verhindern es nicht, ruft uns ein paar unverständliche Worte zu und<br />
verschwindet. Es war Militaru, der Sekretär des Gendarmerie-Kommandos. Die kurze<br />
153<br />
Szene hinterließ ein Gefühl, mehr als Angst, Schock. Doch er wird eher schweigen. Er ist<br />
fast in der gleichen Lage, er flüchtet aus der Frontzone und hat Angst um sein Leben..<br />
Der Befehl lautet: Zuerst 15 Kilometer längs der Eisenbahnlinie, dann auf einem der<br />
Zwischenwege quer durch Felder nach Kolbassnaja. Der Eisenbahnlinie war leicht zu<br />
folgen, auf Irrwegen über Hügel und Felder wird schließlich Kolbassnaja erreicht und <strong>im</strong><br />
Hause des Notars Platz gefunden.<br />
Das Haus ist noch in Ordnung. Er ist Moldower, spricht rumänisch, sie ist<br />
Ukrainerin. <strong>Ein</strong>e alte Mutter <strong>im</strong> Hause ist schwer krank, erbricht alles Essen, hat eine<br />
große, höckerige Leber, fas sicher ein Magenkrebs <strong>im</strong> Endstadium. Der Notar geht<br />
gebückt, leidet an den Folgen einer Wirbeltuberkulose. Für ein paar medizinische<br />
Ratschläge sind sie dankbar, bewirten uns mit Fleisch, Kartoffeln, Wein. Wir überlassen<br />
ihnen die restlichen Rentenmarkscheine. Pavel und Gheorghe trinken fünf Liter Wein und<br />
beginnen zu philosophieren. Wir bekommen ein Nachtlager. Zwei nahe Schüsse lassen<br />
uns aufhorchen, dann bleibt die Nacht ruhig.<br />
Am frühen Morgen erscheinen einige rumänische Offiziere, darunter der<br />
Oberleutnant B., ein alter Bekannter. Er wundert sich, daß Juden mit der Kolonne<br />
mitkamen und spricht von Verhaftung. Die letzte eiserne Reserve, zwei Goldstücke,<br />
beruhigt ihn.<br />
Der 17. März, ein sonniger Tag, Abfahrt in den Vormittagsstunden mit Führer und<br />
einem Reservepferd, weiter in die Richtung Rybniza, zur Brücke über den Dniester-Fluß.<br />
<strong>Ein</strong> Pferd fällt, Stunden gehen verloren, Gheorghe und Pavel sind total betrunken, Pavel<br />
meckert, springt wie eine Ziege, Gheorghe wird schwermütig, äußert tiefsinnige<br />
Gedanken über Gebiete, die ihm fern liegen, wie Mathematik und Philosophie. Sie haben<br />
während der Nacht 27 Flaschen gesoffen. Endlich wieder am Wege, durch Felder und<br />
Wiesen mit Lerchen und Hasen, durch ein Dorf mit vielen Hunden, Hühnern und
154<br />
Schweinen, nach ungefähr 8 Kilometern, dank dem Führer, Landung in einer breiten,<br />
gepflasterten Straße, eine Seltenheit in dieser Gegend, die direkt bis nach Rybniza führt.<br />
Vorerst <strong>Ein</strong>kehr in einem kleinen Wächterhäuschen in einiger Entfernung vom<br />
Hauptweg. Pavel und Gheorghe verschwinden für Stunden. Sie tun das oft und kehren<br />
mit vollen Taschen und angetrunken zurück. Der Tierarzt sucht das gewesene<br />
Ortskommando zu erreichen und behördliche Anweisungen für seine Rückkehr zu<br />
bekommen. Auf der Hauptstraße fließt der Strom von Wagen, Truppen, <strong>Ein</strong>zelgängern,<br />
Flüchtlingen in vier Reihen in die Richtung der Dniesterbrücke, der alten Grenze<br />
zwischen der russischen Ukraine und dem rumänischen Bessarabien. Am späten<br />
Nachmittag machen wir uns auf den Weg, schalten uns in den Strom ein und kommen<br />
langsam vorwärts. Das Gedränge wird unhe<strong>im</strong>lich. Je näher wir zum Ort kommen, desto<br />
mehr steigt die Aufregung, das Schreien, Drängen, die Brutalität und Angst der in Panik<br />
geratenden Menschen. Die Aussichten, zur Brücke zu kommen, sind so gut wie null. Es<br />
wird uns gesagt, daß einige Kilometer südlich auf einer Pontonbrücke der Übergang<br />
leichter Wägelchen vor sich geht. Wir schwenken um, lösen uns aus der Menge und<br />
fahren auf schlechten Wegen mit Gruben und Steinhaufen 6 bis 8 Kilometer nach dem<br />
Süden. Die Pontonbrücke ist noch erhalten, der Andrang auch hier groß. Bei Annäherung<br />
gibt es Zusammenstöße, wir hören Drohungen und böse Worte von deutschen Gruppen,<br />
rumänische Scheißkerle, Niederknallen, drängen mit und kommen erst gegen 4 Uhr<br />
morgens in die Nähe der Brücke. Wieder Warten, Streiten, Schreien und Aufregung,<br />
sobald Flugzeuge erscheinen. Man murmelt, daß die Brücke vor dem <strong>Ein</strong>bruch steht<br />
durch Überlastung oder durch Zerstörung durch die kreisenden feindlichen Flieger. Man<br />
erzählt, daß das “Batallion der Selbstaufopferung” schon aufmarschiert ist, um rechtzeitig<br />
zu sprengen und feindlichen Übergang zu verhindern. Wir drängen, stoßen und werden<br />
nach vorne gestoßen.<br />
Gheorghe und Pavel erfahren, welche Kolonne für die Überschreitung an der Reihe<br />
ist. Sie erfahren die Losung und fügen sich in die endlose Wagenkette ein.<br />
Endlich sind wir in der <strong>Ein</strong>fahrt. Von einer kleinen, spärlich beleuchteten Bude<br />
kommt ein Anruf, Gheorghe ruft die Losung zurück, und der Weg zur schwankenden<br />
Pontonbrücke kann beginnen. Auf der Brücke Unordnung, Brüllen, jede Stockung<br />
versperrt die ganze Reihe, parallel zu uns deutsche Truppen, noch einigermaßen Ordnung
und Zusammenhang erhaltend, doch mit Kot bis oben verspritzt, müde, entmutigt, durch<br />
Stoßen und Abdrängen den Rumänen ihre Verachtung bezeugend. Das ging bis zu bösen<br />
Ausdrücken, zur Grausamkeit, zum Absturz in das dunkle Wasser. Wir saßen<br />
eingekrümmt, in Horror und zählten die Minuten. Gheorghe und Pavel waren unbesorgt,<br />
vergnügt und rochen schon den Geruch ihrer he<strong>im</strong>atlichen Felder auf der Gegenseite. Als<br />
wir das andere Ufer erreichten, fuhren wir bald aus dem Strom hinaus seitlich in ein Feld,<br />
um uns seelisch und körperlich zu regenerieren. Dort sah mich wohl ein<br />
Vorbeikommender in einer Grasmulde liegen und berichtete prompt der Familie über Tod<br />
und Grabesstelle. Der Lärm von der Straße, das Surren der Flugzeuge ließ uns nicht lange<br />
ruhen. Im nahen Dorf, in Rezina, finden wir ein <strong>Lager</strong> und fallen nach 24-stündiger,<br />
aufregender Wagenfahrt in tiefen Schlaf. Es gab hier auch Nahrung, Eier, Butter, Brot,<br />
doch keine Ruhe. Dauernd kommen Menschen, erzählen Gräuelgeschichten, und<br />
Flugzeuge bedrohen die nahen Brücken.<br />
Schon am Nachmittag Weiterfahrt nach Soldanesti, auch hier alles voll von<br />
deutschem und rumänischem Militär, daher weiter in das abseits der Straße gelegene<br />
Dorf Oliscani, wo Pavel auch Freunde hat. Hier endlich die ersehnte Nachtruhe,<br />
Waschung, Rasieren. Der Weinbauer is reich, die junge Bauernfrau bringt geräuchertes<br />
Fleisch, Brot, Butter und warme Milch und ordnet für uns das Nachtlager. Sie ist 19 und<br />
seit 4 Jahren verheiratet. Er ist 20 und ihr zweiter Mann. Der erste war alt. Sie ist noch<br />
nie aus dem He<strong>im</strong>atdorf hinausgekommen. Das Weltgeschehen versteht und berührt sie<br />
nicht. Sie wundert sich nur über die vielen Menschen, die ins Dorf kommen.<br />
Am Morgen des 19. März erwachen wir durch den verstärkten Kanonendonner und<br />
die rege Flugzeugtätigkeit. Das Postamt ist fort, die Behörden packen ein und ziehen ab.<br />
Wir müssen weiter. Das Ziel ist ein nahes, nordwestlich gelegenes Dorf, Cobalea Veche.<br />
Dort, so wurden wir unterrichtet, liegt ein Teil der Kolonne 334, die vor uns die Brücke<br />
überschritten hat, und auch die Verpflegungsabteilung der Kolonne. Um 4 Uhr<br />
nachmittags kommen wir in das Dorf. Es ist voll von deutschem Militär, ein<br />
Artilleriereg<strong>im</strong>ent ohne Kanonen, Infantrietruppen, Train und auch Teile unserer<br />
Kolonne 334. Pavel und Gheorghe verschwinden. Der Tierarzt sucht Quartier, und ich<br />
bleibe allein <strong>im</strong> Wagen in fremder, feindlicher Umgebung, vor der Gendarmerie, ohne<br />
Ausweispapiere, ohne Rechte. <strong>Ein</strong> unhe<strong>im</strong>liches Gefühl. Dr. W. kehrt schließlich zurück,<br />
155
er hat, wie <strong>im</strong>mer, Unterkunft gefunden. Die alte Frau, bei der wir einkehren, hat einen<br />
Salon mit Teppich, der Boden is weiß gestrichen. Sie geht uns nach und hebt jeden<br />
Strohhalm auf. Wir rücken Bänke zusammen und bereiten uns für die Nacht vor.<br />
Der 20.3. früh findet uns in Cobalea Veche. Der Tierarzt und der<br />
Verpflegungsoffizier wurden zum Sektor nach Cotiugenii beordert. Wieder bleibe ich<br />
allein. Am Nachmittag nähert sich der Lärm der Kanonen, Flugzeuge erscheinen aus der<br />
Richtung Soroca. Deutsche Soldaten kommen ins Dorf, in Gruppen, ohne Waffen, sie<br />
führen Verwundete, Kranke, suchen einen Sanitätsdienst. Ich schalte mich in einem<br />
Desinfektionszelt als Sanitäter ein, verstehe nicht deutsch, werde nicht gefragt, gebe erste<br />
Hilfe, reinige Wunden, verbinde, überbrücke Stunden. Erst am späten Abend beginnt die<br />
Fahrt mit der Kolonne nach Cotiugenii.<br />
Der Weg ist anfangs elend, über Bäche ohne richtige Brücken, dann wird er besser.<br />
Die Kolonne hat ein Drittel der Wagen und der Mannschaft verloren. Der Kommandant<br />
(Lt. E.C.) ist besoffen, die Truppen ohne Essen, die Pferde nicht anständig versorgt. Die<br />
Nachtfahrt in das nur einige Kilometer entfernte Dorf n<strong>im</strong>mt viel zu viel Zeit in<br />
Anspruch.<br />
In Cotiugenii herrscht dieselbe Fluchtst<strong>im</strong>mung. Das Kommando des Sektors ist<br />
156<br />
uns voraus abgezogen, naher Donner der Kanonen, Flugzeuge, keine Postverbindung,<br />
keine Behörden. Im Dorfe halten einige Offiziere die Kolonne an, wollen wissen, was es<br />
gibt. Sie sind gepackt und voll Angst, vom Feind überrascht zu werden. Die Kolonne<br />
zieht ohne Halt weiter nach Floresti, jetzt schon auf einer guten, geschotterten Straße, und<br />
von dort nach einigen Stunden Rast in die 35 Kilometer entfernte Stadt Beltz.<br />
Die lange Wagenfahrt zusammen mit den aufgelesenen Wagen der Kolonne gibt<br />
Gelegenheit, nach unseren Freunden, Moritz und Polia, die wir in Nacht und<br />
Schneesturm verloren haben, zu forschen. Die Auskünfte sind verschieden. <strong>Ein</strong>ige<br />
berichten über einen Partisanenüberfall am Wege nach Kod<strong>im</strong>a mit Toten und<br />
Gefangenen, andere haben sie nachher gesehen. <strong>Ein</strong>es ist sicher, sie waren in Rybniza.<br />
Habe ich dort einen Fehler begangen? Ich wußte nicht, wo sie sind. Vielleicht haben sie<br />
schon vor uns die Brücke überschritten. Die Brücke stand vor der Sprengung,<br />
Kanonendonner, Flugzeuge, Panik, es bestand weder die Möglichkeit zu warten, zu<br />
suchen, noch für mich ein Dokument zu besorgen. Jetzt, wo ich mich schon einigermaßen
in Sicherheit fühle, beginnt das Gewissen zu arbeiten. Ich erfahre, daß sie mit einem<br />
Versprengten aus unserer Gruppe (Schwarz aus Braila) <strong>im</strong> Nachtrab waren und nach uns<br />
ankamen. Zwei jüdische Mädchen trafen wir am Wege mit einer deutschen Truppe. Was<br />
ist aus ihnen geworden? Die in der ersten Nacht abgestiegenen, die sich dem Dolmetscher<br />
(Sturm) angeschlossen haben, sind sicher weit vor uns. Er hatte gültige Papiere und auch<br />
das Zeug dazu.<br />
Schon nach Floresti, auf dem Wege nach Beltz, treffen wir zu den Seiten des Weges<br />
Juden <strong>im</strong> Straßengraben, erschöpft, bloßfüßig und hungrig. Sie gehören zu einer<br />
Zwangsarbeitskolonne und graben Schanzen. Wir sprechen sie an, sie bitten, Nachrichten<br />
den Angehörigen zu übermitteln. Sie waren 1,000 Mann, gehörten zum 120. Batallion,<br />
Sektor B. Unseren Wagenführern macht dieser Anblick Freude. Juden, so meint einer, er<br />
gebraucht das Sch<strong>im</strong>pfwort, sollen arbeiten. Die beiden sind vollgefressen, <strong>im</strong>mer mehr<br />
oder weniger betrunken. Gheorghe wünscht sich nur noch eine Jungfrau von 180<br />
Monaten zu seinem Glück. Pavel ist mikrocephal, denkt wenig, er hat es schwer, <strong>im</strong> Dorf<br />
einen passenden Hut zu finden, er lacht viel und trinkt ohne Maß. Der Führer des<br />
nächsten Wagens, Cioban, hat ein Tartarengesicht, fällt jede Frau am Wege an, rühmt<br />
sich seiner Erfolge. Auch er trinkt viel, am liebsten Wein. Die anderen fragen ihn, warum<br />
seine Nase so rot ist und seine Antwort: “Wenn du wüßtest, was mich diese Röte kostet.”<br />
Beltz ist eine größere Stadt. Wir sind weit von der Dniester-Grenze <strong>im</strong> Herzen der<br />
rumãnischen Provinz Bessarabien. Es herrscht augenscheinlich Ruhe, keine<br />
Flugzeuggeräusche und keine Explosionen, keine Kanonen. Wird vielleicht schon<br />
Frieden verhandelt? Wunschträume. Die Kolonne ist die ganze Nacht auf der Sraße<br />
gestanden. Wir haben abseits Quartier gefunden, sind ausgeschlafen und rasiert. Die Stadt<br />
wirkt leer, nur Militär ist zu sehen. Die Geschäfte sind geschlossen, die Behörden<br />
funktionieren nicht. Um 11 Uhr wird der Scheinfrieden unterbrochen. Gruppen<br />
versprengter Kavalleristen erscheinen. Die Russen sind auf 20 Kilometer bis nach<br />
Sguritza vorgedrungen, der Oberst durch Partisanen erschossen, das Reg<strong>im</strong>ent durch<br />
Kommunisten zusammengeschossen, der Rest in Flucht. Aus Floresti ist alles geflüchtet,<br />
die Geschäfte und die Apotheke geplündert und angezündet.<br />
Um 3 Uhr nachmittags ziehen wir in die Richtung Glodany, ein Weg von 35<br />
Kilometern, nach dem Westen. Es regnet, die Straße ist stellenweise unterbrochen,<br />
157
lehmig, schwer. Vor Glodany Halt und <strong>Ein</strong>kehr <strong>im</strong> Dort Jablona. Die meisten Häuser sind<br />
158<br />
verlassen, doch Nahrungsmittel, Maismehl und Kartoffeln in Hülle und Fülle, reiche<br />
Bauernhöfe. Pavel und Gheorghe versorgen die müden Pferde, schleppen eine Kuh und<br />
einen jungen Stier aus dem Stall heraus und die Pferde hinein. Der Tierarzt findet ein<br />
gutes Quartier in einem schönen Bauernhaus. Sie haben reichlich Wohnraum. Wir<br />
bewundern den Salon mit Teppichen, die dicken Polster mit gesticktem Rand auf den<br />
Betten, Zeichen von Wohlstand in allen Ecken. Wir reinigen unsere nassen und<br />
schmutzigen Kleider. In den Falten der Unterhosen finden sich schon Nissen von Läusen.<br />
Wir waschen uns ausgiebig, wechseln Hemd und Hose unf fühlen uns besser. Das Essen<br />
wird uns zögernd und nur auf Druck gebracht. Sie haben alles, Milch, Butter, Brot, Käse<br />
und volle Vorratskammern. Im Hause herrscht das übliche Trio, die böse<br />
Schwiegermutter, der unter ihrem <strong>Ein</strong>fluß stehende Ehemann, die junge Frau. Sie erzählt<br />
uns <strong>im</strong> Gehe<strong>im</strong>en, welche Schätze die alte Schwiegermutter besitzt. Vor ihr schweigt sie<br />
oder sagt: “Wir haben nichts, viele sind vorbeigekommen.” Pavel hat Wein gefunden, ist<br />
besoffen, Gheorghe ist ruhig, philosophiert. Er hofft, in 300 Jahren, schon nach dem<br />
Kriege, wird es sich gut leben lassen. Im Dorf ist es still. Am Rande fahren Kanonen auf.<br />
Die Nachtruhe und die gute Nahrung in Jablona haben uns gestärkt. Wir haben noch<br />
12 Kilometer vor uns bis nach Glodany und von dort 25 Kilometer bis zum Übergang<br />
über den Pruth-Fluß.<br />
Am Morgen des 23.3. ist das Wetter schlecht, naß und sehr windig. Die Kolonne ist<br />
um 7 Uhr früh aufgebrochen, wir eine Stunde später. Die Straße ist halbfertig, kotig und<br />
schwer befahrbar. In Glodany gibt es nur einen kurzen Aufenthalt, die Fahrt geht weiter<br />
zur Pruth-Brücke nach Stefanesti. <strong>Ein</strong>ige Kilometer auf einer relativ guten, geschotterten<br />
Straße mit vielen Kurven, an einem verlassenen Kloster vorbei, in welchem eine<br />
Kavallerietruppe lagert, dann auf schlechtem Wege nach Branesti und zum Pruth-Fluß,<br />
über die unversehrte Brücke und wir fahren in das erste Dorf der Moldau, des<br />
rumänischen Stammlandes, ein.<br />
Am Wege gab es einzelne Schüsse, tote Pferde <strong>im</strong> Straßengraben und Juden in<br />
Gruppen bei Erdabeiten, keinen Kanonendonner und keine deutschen Truppen. Jenseits,<br />
am Pruth-Ufer, stehen Geschütze in Stellung. Pavel wird trübsinnig. Er verläßt seine<br />
He<strong>im</strong>at, Bessarabien. Aus seinem Dorf sind 4 aus der Kolonne verschwunden. Es arbeitet
sichtlich in ihm. Der Kommandant läßt anhalten und hält eine Rede: “Kameraden, wir<br />
sind aus der Frontzone heraus. Die operativen Truppen sind hinter uns. Plünderer, Räuber<br />
werden strenge bestraft, Deserteure erschossen.”<br />
Wir haben am Abend zwischen 8 und 9 Uhr die Pruthbrücke überschritten. Die<br />
Kolonne zieht weiter in die Nacht. Wir bleiben <strong>im</strong> Dorf, in Dornesti, in einem<br />
Bauernhaus. Das alte Paar hat 15 Praschinen Weingärten und Felder, 6 Kühe, Hühner,<br />
Obstgarten und was sonst zu einem reichen Bauernhof gehört. Der Bauer ist<br />
gottesfürchtig, der Glaube macht ihn stark. Seine Kinder leben in Stadt und Land. Er<br />
spricht abfällig über das Leben in der Stadt. Die alte Frau ist klein und geizig. Das Haus<br />
ist gepflegt, die Vorräte groß, reichlich Nahrungsmittel und Wein. Draußen fällt wieder<br />
Schnee, zwei Schafe, die wie gerupfte Hunde aussehen, werden in die Stube gebracht und<br />
sehen uns neugierig an.<br />
Die Kolonne ist in die Nacht gefahren, zersprengt, und sammelt sich jetzt <strong>im</strong><br />
zweiten Dorf einige Kilometer weiter. Der kleine Kosak, Cioban, ist uns holen<br />
gekommen. Wir haben <strong>im</strong> warmen Bauernhaus mit allen zusammen gut geschlafen,<br />
setzen uns erst um 11 Uhr in Bewegung und erreichen die lagernde Kolonne <strong>im</strong> nächsten<br />
Dorf. Die Wagen stehen auf einem großen Platz. <strong>Ein</strong> deutsches Auto is vorbeigekommen,<br />
hat angehalten. Alles bettelt um Benzin für die Feuerzeuge. Unser Kommandant ißt.<br />
Inzwischen wird das Pfarrhaus geplündert. Sie schleppen Sessel, Teppiche, Kissen,<br />
Kübel, Zeltdecken heraus, trinken und plündern. Wir sind in der Moldau, in der He<strong>im</strong>at.<br />
Die Ermahnungen in der Rede des Kommandanten, trotz der Ansprache als Kameraden<br />
und der gefährlichen Drohungen und Strafen, waren wohl nicht eindringlich genug. Es<br />
wird schwer sein, die Disziplin wieder herzustellen. Zwei der Deutschen sitzen in einem<br />
Z<strong>im</strong>mer des Pfarrhauses bei einem Radioapparat. Wir wissen nicht, was in der Welt<br />
vorgeht. Ich würde gerne mithören, doch traue ich mich nicht nahe heran. Gheorghe<br />
erscheint von einem seiner Ausflüge. Er hat den Bürgermeister geschlagen. Seine Frau<br />
wollte die Henne, die er gefangen hat, nicht hergeben. Der Mann kam zur Hilfe, dann<br />
noch einige Bauern und Gheorghe ist mit Not den Schlägen entkommen. Seine Kleidung<br />
ist in Unordnung und zeigt Defekte.<br />
Erst am späten Nachmittag setzt sich die Kolonne in Bewegung. Alles ist besoffen,<br />
schießt, singt, macht Unsinn. Gegen 9 Uhr abends erreicht uns die Nachricht: Die Russen<br />
159
sind in Stefanesti! Der Kommandant befiehlt Halt, Richtungswechsel, Weiterfahrt bis in<br />
ein kleines Dorf und Nachtruhe.<br />
Am nächsten Morgen, am 25.3., Erwachen in einem engen Bauernhaus in<br />
Bogdanesti. Der Kommandant hat den gestrigen Tag verschlafen, verhurt, nachts in die<br />
Richtung zum Feinde geführt. Wir wissen nichts von der allgemeinen Lage, keine Karten,<br />
keine Zeitungen und ein unfähiger Kommandant. Der Feind is ganz nahe. Im Bauernhaus<br />
sind viele Kinder. Sie sehen ungläubig zu, wie wir uns einseifen und waschen. Seife ist<br />
teuer, bemerkt die Mutter. <strong>Ein</strong> Junge bringt ein eben geborenes Schaf hinein, naß,<br />
zitternd, mit nachhängender Nabelschnur, die Ohren angeklebt. Wir bekommen Brot,<br />
Gurken, und auf Zureden auch Eier vorgesetzt.<br />
Von Bogdanesti zieht die Kolonne nach Flamanzi. Das Gestüt ist geräumt. Nach<br />
zweistündiger Rast geht es weiter nach Prajeni, <strong>im</strong> Bezirk Botoschani, wo wir erst um 8<br />
Uhr abends anlangen. Das Wetter wurde zur Abwechslung wieder kalt mit Regen und<br />
Schnee. Wir sind nach der langen Fahrt duchnäßt, sehr müde und hungrig. <strong>Ein</strong>e Henne<br />
wird erworben, der Kopf abgeschlagen, notdürftig gerupft, ausgenommen und in Stücke<br />
zerhackt. <strong>Ein</strong>e gute Portion Öl, zwei große Zwiebeln geschnitten, <strong>im</strong> Kessel des großen<br />
Herdes durchgeröstet, die Hühnerteile eingeworfen, und nach einer halben Stunde gibt es,<br />
ergänzt durch einen Maisbrei, eine wundervolle Mahlzeit, wenn auch ohne richtige Teller<br />
und Eßbesteck.<br />
Der nächste Tag ist ein Sonntag, der 26.3.44. Wir haben die Nacht in Bauernbetten<br />
durchgeschlafen, sind ausgeruht und erfrischt, die Kleider lagen nahe dem Herd und sind<br />
trocken. Wasser wird aus dem Brunnen geholt, Kinder stehen um uns herum, sehen uns<br />
be<strong>im</strong> Waschen zu und starren uns be<strong>im</strong> Zähneputzen in den Mund. Dieser Vorgang erregt<br />
ihre Heiterkeit. <strong>Ein</strong> warmes Getränk zum Frühstück, und es geht weiter mit der Kolonne.<br />
Mittags Ankunft <strong>im</strong> Städtchen Harlau. <strong>Ein</strong> höherer Offizier erscheint und<br />
übern<strong>im</strong>mt die Führung der Kolonne. Die Pferde werden geputzt, gefüttert, für die<br />
Truppe gibt es Ei, Mamaliga, Wasser und Marmeladebrot. In den Nachmittagsstunden<br />
inspiziert der neue Mann die <strong>Ein</strong>heiten. Wir stehen mit unserem Wägelchen am<br />
Straßenrand unter einem breiten Baum, der den Regen zum Teil abhält. Ordnung in der<br />
Kolonne kann uns, besonders mir, dem Mitläufer, gefährlich werden.<br />
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Von 6 Uhr nachmittags bis 11 Uhr wird gefahren, von Harlau bis nach Targu<br />
Frumos. Die Nacht auf den 27.3. wird <strong>im</strong> Freien verbracht. Früh kommen wir in die<br />
Stadt, keine Post, die Geschäfte zum Teil gesperrt, zum Teil in Auflösung. Wir<br />
bekommen noch trockenes Kleingebäck, Brot, Halva, Marmelade zu kaufen, doch keine<br />
Selchwaren. Warum die Räumung? <strong>Ein</strong>e Zeitung, nicht gerade die Neueste, berichtet von<br />
Erfolgen, die Front ist weit, kein Kanonendonner, keine Flugzeuge, doch die<br />
Evakuierung ist <strong>im</strong> Gange. Durch den Ort ziehen dauernd Kolonnen, deutsche und<br />
rumänische Wagen, Autokolonnen und Truppen nach langen Märschen, sichtlich<br />
durchfroren und durchnäßt.<br />
Die Fahrt von Targu Frumos nach Roman in den Vormittagsstunden des 27.3. auf<br />
guter Straße und in disziplinierter Form verläuft ereignislos. Um 1 Uhr mittags treffen<br />
wir in der schönen Stadt ein. Hier ist das Straßenleben normal, zahlreiche einhe<strong>im</strong>ische<br />
Juden sind zu sehen, jeder geht seinem Berufe nach, eine Kriegsangst ist nicht<br />
bemerkbar. Mit zunehmender Ordnung wird die Frage der persönlichen Sicherheit<br />
innerhalb der Kolonne für mich akut. In Roman könnte ich leicht und unbemerkt die<br />
Kolonne verlassen. Der Tierarzt Dr. W war bisher das Schild. Ihm gebührt unendlicher<br />
Dank. Den Wagenlenkern, Pavel und Gheorghe, ist es ganz gleichgültig, wen und<br />
wieviele sie <strong>im</strong> Wagen führen. Sie haben ganz andere Gedanken <strong>im</strong> Kopf. Sonst aber<br />
kümmert sich keiner um den anderen. Der Übergang ist nicht schwer. <strong>Ein</strong>e freundliche<br />
jüdische Familie n<strong>im</strong>mt mich auf. Im Gespräch ergibt sich, daß die Familie Str., die zu<br />
den angesehendsten und reichsten <strong>im</strong> Orte gehört und mich gut kennt, weiter hier lebt.<br />
Auf die Mitteilung meiner Anwesenheit erfolgt sogleich die <strong>Ein</strong>ladung in ihr Haus.<br />
Die Familie Str. lebt auf hohem Standard und tut so, als ob in der Welt nichts<br />
geschehen wäre. Die Aufnahme ist sehr herzlich. Wir sind alte Bekannte, und schon ihre<br />
Eltern waren oft auf der Reise in Kurorte bei mir zur Untersuchung. Meine Kleider<br />
werden gereinigt, ein Friseur bestellt, das Bad hergerichtet. Der Friseur wagt nur einen<br />
Teil der angewachsenen Haare abzutragen, und erst ein zweiter vollendet die Arbeit und<br />
bringt den Kopf auf den Normalzustand. Voll Stolz wird ein Säugling in gesticktem<br />
Steckkissen auf den Armen der Pflegerin vorgeführt und bewundert. Das Badez<strong>im</strong>mer<br />
entpuppt sich als großer Raum mit Marmorstufen von allen Seiten in ein kleines<br />
Schw<strong>im</strong>mbecken. Die Wohnung ist eine Villa, die ein Minister für sich bauen ließ und<br />
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später vermietete. Der Hausherr, ein kluger und erfolgreicher Mann, ist in seinem<br />
politischen Denken kindlich-naiv. “Was kann mir schon geschehen! Nehmen wir das<br />
Schl<strong>im</strong>mste an, die Kommunisten kommen. Dann werden 1000 meiner Arbeiter<br />
hinaufgehen und erklären, daß ohne mich die Fabrik nicht arbeiten kann. Ich werde nicht<br />
mehr Besitzer und nur Direktor sein und ruhig weiter arbeiten und leben können.”<br />
Erfahrung darin läßt sich nicht übermitteln. Typhus versteht nur der, der es selbst<br />
durchgemacht hat. Nach nicht sehr langer Zeit war er ein mittelloser Flüchtling. Am<br />
Nachmittag erscheinen Freunde von früher und aus dem <strong>Lager</strong>, die von meiner<br />
Anwesenheit erfuhren. Es kommen Berichte. Die Russen sind vor Czernowitz, nähern<br />
sich Jassy und sind nicht weit von Roman.<br />
Der Abend schlägt der freundlichen Situation den Boden aus. Zur festlich<br />
gedeckten Tafel mit feinem Porzellan, Silber und Blumen erscheinen der<br />
Stadtkommandant, ein Oberst in Uniform, hohe Offiziere und Würdenträger und ich, der<br />
staatenlose Flüchtling, unter diesen. Schon die erste, unschuldige Frage “Von welchen<br />
finsteren Horizonten bist du erschienen?” ließ mich heftig husten und verschwinden.<br />
Am nächsten Tag saßen wir zusammen zur Beratung, wie weiter kommen. Es gab<br />
Vorschläge, in einem leeren Kasten in einem Möbeltransport der Fabrik, mit falschen<br />
Papieren, schließlich finden wir als beste Lösung die Bestechung eines deutschen<br />
militärischen Lastwagenchauffeurs, der regelmäßig nach Bacau fährt.<br />
Die Fahrt von Roman nach Bacau dauert weniger als eine Stunde. In einer Vorstadt<br />
setzt er mich ab, damit, wie er sagt, ihm keine Schwierigkeiten entstehen. Bei Betreten<br />
des ersten offenen Ladens, um etwas zu trinken, treten Juden auf mich zu, unbekannte,<br />
und führen mich weg. “Das ist kein Platz für Sie.” Bald bin ich in einer Wohnung, in<br />
ihrer Gesellschaft, und werde bewirtet. <strong>Ein</strong>e Mutter hatte einen Sohn <strong>im</strong> <strong>Lager</strong> Vapniarka<br />
und ist glücklich über die Auskunft, die ich ihr geben kann. Sie beraten untereinander,<br />
verständigen sich und führen mich in das Haus des Eisenhändlers Cohn. Hier werde ich<br />
freundlich aufgenommen. Die Familie Cohn, Mann, Frau und zwei junge Söhne, führt ein<br />
gutbürgerliches, wohlhabendes Haus. Sie behandeln mich wie einen nahen Verwandten,<br />
ohne etwas zu fragen. Mir ist es bewußt, daß sie eine Gefahr auf sich nehmen. Auch sie<br />
wurden später Flüchtlinge und gaben mir Gelegenheit, ihnen für ihre Güte zu danken.<br />
Wieder erhebt sich als Erstes die Frage, wie weiterkommen bis nach Bukarest, wo Frau<br />
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und Kind in Verborgenheit leben. Der Weg nach Bukarest ist vollkommen gesperrt. Der<br />
Strom der Flüchtlinge aus dem Osten wird in Adjud, 60 Kilometer nach Bacau,<br />
abgefangen und nach Transsilvanien geleitet. Der Hauptstadt soll der Anblick, der<br />
Ausdruck der Niederlage, erspart bleiben, Die Untersuchung ist äußerst streng und Leute<br />
meiner Art landen direkt <strong>im</strong> Gefängnis.<br />
Hier kam ein Zufall zu Hilfe. Mein Freund B. hat vor der Verschickung als<br />
Buchhalter in der Hefefabrik des adligen Grundbesitzers G. gearbeitet und stand mit ihm<br />
in guten Beziehungen. Auf die Nachricht, daß er in Bacau gestrandet ist und nicht weiter<br />
kann, kam ein Anruf: “Ich schicke ein Auto, daß dich am 31.3. an einer best<strong>im</strong>mten<br />
Stelle abholen und nach Bukarest bringen wird.” B., ein Jugendfreund, will mich, wenn<br />
es nur irgendwie möglich ist, mitnehmen. Das Auto kommt zur angesagten Stunde mit<br />
einem Korporal in Uniform am Steuer und einem Feldwebel der Luftwaffe am<br />
Vordersitz. Die Abfahrt erfolgt in den Abendstunden. Nach knapp einer Stunde wird die<br />
Sperre erreicht. <strong>Ein</strong> Korporal mit aufgepflanzter Waffe erscheint aus dem Wachhäuschen<br />
und verlangt Ausweispapiere. Uns ist nicht gut zu Mute. Unser Fliegerfeldwebel in voller<br />
Größe mit Auszeichnungen und Abzeichen steigt aus und überschüttet ihn mit einer Flut<br />
von groben Ausdrücken und Flüchen, die nicht zu übersetzen sind. Die Mutter des<br />
Teufels und die eigene Großmutter spielen dabei eine sexuelle Rolle. Der Refrain ist: “Du<br />
wagst es, mich und meinen Wagen zu untersuchen!” Die pr<strong>im</strong>itive Disziplin obsiegt. Der<br />
Weg wird freigegeben, das Hindernis ist überwunden, wir sind auf dem Wege nach<br />
Bukarest.<br />
Die Überraschung ist groß. In der kleinen Pension Begrüßung unter Tränen. <strong>Ein</strong><br />
kleines Mädchen läuft von Tür zu Tür und erzählt: “<strong>Ein</strong> fremder Mann ist gekommen und<br />
küßt die Mutter.” Die Familie ist vereint.<br />
Bukarest wird fast täglich bombardiert. Das Leben in der großen Stadt hat sich dem<br />
Rythmus angepaßt. Man weiß ungefähr, wann die fliegenden Festungen von ihrem<br />
Ausgangspunkt in Italien erscheinen werden, und in den Zwischenstunden wird<br />
eingekauft, ausgegangen und sogar <strong>im</strong> Kaffeehaus und Kino gesessen. Das Hirn des<br />
Flüchtlings läßt keine Ruhe zu, nur weiter. Die jüdischen Institutionen sind<br />
entgegenkommend. In zwei Wochen soll ein Rotes-Kreuz-Schiff mit Kindern von<br />
Konstanza abgehen, da könnte ich als <strong>Arzt</strong>-Begleiter eingeschmuggelt werden. Zwei<br />
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Wochen ist zu lange. <strong>Ein</strong> illegales Holzschiffchen wird bestiegen. <strong>Ein</strong> Kissen wird<br />
mitgenommen, und ein emaillierter Nachttopf mit einem roten Kreuz am Grunde dem<br />
Kind um den Hals gehängt. Die ersten Kilometer durch die Minensperre bleiben wir<br />
versteckt <strong>im</strong> Boden des Schiffchens, und dann geht es in die Freiheit.<br />
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