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MITTENDRIN UND ANDERS Ausgabe 8 • <strong>2020</strong> ORTE 11 EIN BESUCH IN »NEU-TIFLIS« Auf den Spuren der deutschen Minderheit in der georgischen Hauptstadt Georgien ist klein. Es besitzt ungefähr die Fläche Bayerns und ist auch fast genauso gebirgig. Weil das Land aber nur knapp vier Millionen Einwohner hat, trifft man – anders als im Freistaat – in der dortigen Bergwelt im Großen Kaukasus (an der Grenze zu Russland) oder im Kleinen Kaukasus (an der Grenze zur Türkei) nur auf wenige Wanderer, obwohl der Tourismus etwas zugenommen hat, seit das »Paradies am Rande Europas« Gastland der Frankfurter Buchmesse war. Tiflis/Tbilissi hat immerhin die Millionenmarke hinter sich gelassen – und die georgische Metropole ist von einer mitreißenden Vitalität, die keinen Vergleich zu scheuen braucht. Zum »Pflichtprogramm« für Besucher gehört neuerdings der etwas ungewohnt auszusprechende Davit-Aghmashenebeli-Boulevard, der früher, als die Deutschen noch dort wohnten, über viele Jahre Michaelstraße hieß. Doch das ist lange her. Man erreicht die heutige Prachtstraße am besten über den Saarbrücken Square (in Saarbrücken gibt es dafür einen Tbilisser Platz) und bummelt dann stadtauswärts in Richtung des Stadtteils Didube, der früher Alexandersdorf hieß, nach dem russischen Kaiser, der die dortigen schwäbischen Einwanderer einst aufgenommen hatte. Die ersten etwa zweieinhalb Kilometer vom Saarbrücken Square aus sind eine Flaniermeile, die keine (touristischen) Wünsche offenlässt, auch wenn gestrenge Denkmalpfleger mit der schmucken Restaurierung der Gebäude zuweilen gar nicht einverstanden sind und den Verantwortlichen sogar »unsensiblen Umgang« mit historischer Bausubstanz, wenn nicht deutlich Schlimmeres, vorwerfen. Jedenfalls lassen die prächtigen Gebäude und das ganze Ambiente erahnen, dass hier schon früher eine bessere Gegend gewesen sein muss. Schilder weisen auf die Architekten aus ganz Europa hin, die sich hier verwirklicht haben. An der Ecke zur Jansughi-Kakhidze-Straße fällt ein Gebäude auf, dessen Fenster als Davidstern gefasst sind, Erkennungszeichen des Architekten Paul Stern, der das ➀ Der Davit-Aghmashenebeli-Boulevard führt vom Saarbrücken Square zur Giorgi-Tsabadze-Straße. Alle Bilder: © Matthias Weber (BKGE), 2019 ➁ Wohnhaus des Architekten Paul Stern ➂ Wohnhaus des Architekten Albert Salzmann ➃ Deutsches Kolonistenhaus ➄ Aktueller Zustand des Hauses Usnadse-Straße 54, in dem von 1882 bis 1884 Bertha und Arthur von Suttner lebten. Haus 1893/94 für sich selbst gebaut hatte. Stern gehört zu den namhaftesten Architekten von Tiflis. Aus seiner Hand stammen auch die Pläne für das Rathaus am heutigen Freiheitsplatz. Wenige Schritte vorher (Hausnummer 115) steht das gewaltige, 1872 errichtete Wohnhaus von Albert Salzmann (1833–1897), der in Tiflis geboren wurde und in St. Petersburg studiert hatte. Er wurde für seine Bauwerke vielfach ausgezeichnet und war eine Größe der Kulturszene in Tiflis – durch einen Sturz vom Baugerüst starb er den klassischen Architektentod. Ein einziges Gebäude (Hausnummer 109) passt überhaupt nicht in die von Neobarock, Neoklassizismus und Jugendstil geprägte Gegend: zu klein, zu bescheiden, einstöckig mit einem Giebelaufbau und Holzbalkon im landesüblichen Stil. Irgendwie anders. Schon deshalb sieht man hin, eigentlich nur deshalb. Eine Tafel in deutscher Sprache hilft weiter: Das Gebäude zeichne sich durch seinen »topologischen und historischen Wert aus und ist mit der Tätigkeit der deutschen Kolonisten verbunden«. Wir stehen in »Neu-Tiflis«, das 1818 von ungefähr sechzig Handwerkerfamilien aus allen deutschen Kolonien gegründet wurde, etwa zwei Kilometer vom damaligen Stadtkern entfernt, und 1861 eingemeindet wurde; heute ist »Neu-Tiflis« Teil des Stadtbezirks Tschughureti. Das kleine Haus stammt noch aus der »alten Zeit« vor den Prachtbauten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und regt die Fantasie an, so dass man sich die eher beschauliche Bebauung in der ersten Nach-Kolonisten-Zeit ganz gut vorstellen kann. Georgien ist das Land des goldenen Königreichs Kolchis, der Medea und der Argonauten, in dem Prometheus an den Felsen geschmiedet wurde, das Land, das Gott für sich selbst als Wohnung aufgehoben hatte, bevor er es dann doch den freundlichen Georgiern überließ, so erzählt die Legende. Es ist auch das Land, in dem einst mehrere Zehntausend Menschen, vor allem aus dem Süden Deutschlands, für sich eine neue Zukunft eröffnen wollten. Wer heute mit offenen Sinnen nach Georgien und Tbilissi fährt, taucht nicht nur in die klassische Sagenwelt Europas ein. Er findet faszinierende Spuren zahlreicher Völker, darunter auch der Deutschen. Etwas genauer hinsehen muss man dafür allerdings schon. Matthias Weber Prof. Dr. Matthias Weber ist Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) in Oldenburg ( S. 56–58).