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BLICKWECHSEL 2020

Mittendrin und anders. Deutschsprachige Minderheiten im östlichen Europa

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WER WAREN DIE SLOWINZEN?<br />

Der Museumshof in Klucken/Kluki beantwortet diese Frage heute ideologiefrei<br />

MITTENDRIN UND ANDERS<br />

Wer lebte in Klucken/Kluki und in anderen pommerschen<br />

Dörfern an der Küste zwischen Lupow/Łupawa und Leba/<br />

Łeba, am Ufer des Gardersees und des Lebasees? Der Streit<br />

um den Namen dieser Gruppe wird seit 150 Jahren geführt.<br />

Für sie übersetzte Pastor Pontanus 1643 Luthers Katechismus<br />

ins »Vandalische« oder »Slowinzische«. Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

setzte sich für die ursprünglich slawischsprachige<br />

Gruppe der Name »Slowinzen« durch. [Anm. d. Red.: Von<br />

den verwandten Kaschuben unterschied die Slowinzen vor<br />

allem ihre Konfession: Sie waren evangelisch und damit dem<br />

deutschen Einfluss deutlich stärker ausgesetzt als die katholischen<br />

Kaschuben.] Die letzte slowinzische Predigt wurde<br />

1886 gehalten. Schule, Kirche und Verwaltung propagierten<br />

die deutsche Sprache, immer mehr Jugendliche sprachen<br />

nur noch deutsch. Nach dem Ersten Weltkrieg verblassten in<br />

kurzer Zeit die kulturelle Identität, die Sprache und schließlich<br />

das ethnische Bewusstsein. Mitte des 20. Jahrhunderts<br />

wurden nur noch einzelne Splitter von Brauchtum und Glaubenspraxis<br />

gepflegt. Sie waren die letzten Spuren der alten<br />

slowinzischen Kultur – neben einigen Bezeichnungen für<br />

Speisen, Orte, Werkzeuge und Haushaltsgeräte.<br />

Die Idee zur Gründung des Museums des Slowinzischen<br />

Dorfes in Klucken (Muzeum Wsi Słowińskiej w Klukach) entstand<br />

1958, in einer Zeit, als die deutsch-polnischen Beziehungen<br />

stark belastet waren. Auch die Situation der Menschen<br />

vor Ort war schwierig. Die meisten Vorkriegsbewohner<br />

Kluckens waren ab 1947/48 vertrieben worden, nur eine<br />

Handvoll Einwohner verblieb im Dorf. Innerhalb von zwanzig<br />

Jahren sank die Bevölkerungszahl auf ein Viertel, so dass viele<br />

Höfe aufgelassen wurden. Das Land ging in Staatseigentum<br />

über und lag brach. Der 1963 in Kluki eröffnete Museumshof<br />

sollte die Slowinzen ermutigen, in Polen zu bleiben. Trotz<br />

der propagandistischen Zielsetzung war das Museum das<br />

Werk von seriösen Forschenden und Freiwilligen, die davon<br />

überzeugt waren, dass es sich unabhängig von der Politik<br />

lohnt, die Spuren der einzigartigen Kultur dieser Region zu<br />

erhalten. Doch die Arbeit des Museumsteams stieß auf einen<br />

deutlichen Widerwillen in der örtlichen Bevölkerung. Neben<br />

der Schwierigkeit, geeignete Exponate für die Sammlung zu<br />

beschaffen, musste auch auf die ideologischen Vorgaben<br />

der Behörden Rücksicht genommen werden.<br />

In den 1960er Jahren, als der Museumshof seinen Betrieb<br />

aufnahm, gab es bereits keine Slowinzen mehr vor Ort. Diejenigen,<br />

denen der Hof Mut machen sollte, fühlten sich als<br />

Deutsche und strebten die Ausreise an. Was ihnen viele<br />

Jahre verweigert wurde, war nach der Unterzeichnung des<br />

Warschauer Vertrages am 7. Dezember 1970 möglich: Von<br />

August 1971 bis Dezember 1972 verließen 81 Personen das<br />

Land, 1975 waren es 36 Personen.<br />

Der Slowinzische Museumshof stand nun inmitten eines<br />

verlassenen Dorfes. Es fehlten die Nachkommen derjenigen<br />

Menschen, für die der Hof ein Denkmal sein sollte. Die<br />

Behörden beschlossen, die verlassenen Gehöfte abtragen zu<br />

lassen. Als immer mehr Gebäude abgerissen wurden, spürten<br />

die Ethnografen des nahegelegenen Museums in Stolp/<br />

Słupsk, dass sie schnell handeln müssen, bevor ein Stück<br />

der Geschichte dieses Landstrichs spurlos verschwindet.<br />

Es gelang ihnen, ein Dutzend in lokaler Bauweise errichteter<br />

Häuser zu retten, die bis heute zusammen das Museum<br />

des Slowinzischen Dorfes bilden. Die Anlage wurde in den<br />

darauffolgenden zwei Jahrzehnten stetig erweitert, wuchs<br />

und gedieh. Nur die Einwohner waren nicht mehr da.<br />

Ende der 1990er Jahre durften wir, die Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter des Museums, endlich alle Ideologien hinter<br />

uns lassen und einfach von der örtlichen Bevölkerung<br />

sprechen: von ihren slawischen Wurzeln und ihrer deutschen<br />

sowie pommerschen Identität. Von Menschen, die seit Jahrhunderten<br />

an den großen Strandseen, unter unwirtlichen<br />

natürlichen Gegebenheiten, überdauerten und so eine sehr<br />

geschlossene und einzigartige Gemeinschaft entwickelten.<br />

Unabhängig davon, ob wir sie Slowinzen, Kaschuben,<br />

Lebakaschuben nennen oder einen anderen Namen für sie<br />

finden, waren sie einfach hier, bauten ihre Dörfer und begruben<br />

auf dem Friedhof ihre Toten. Schon als sie in den Fokus<br />

der ethnografischen Forschung gerieten, betrachtete man<br />

sie als »die letzten Slawen im südlichen Ostseeraum«. Die<br />

nächsten Forschergenerationen sicherten lediglich Überreste<br />

ihrer Kultur.<br />

Inzwischen konnten wir die letzten Jahre des slowinzischen<br />

Dorflebens von Klucken erforschen. In unseren<br />

Gesprächen mit den Nachkommen und dank ihrer Erinnerungen<br />

haben wir aus Bruchstücken den Alltag der 1930er<br />

Jahre rekonstruiert. Wir fertigten Kopien von Kleidungsstücken<br />

an, sammelten Rezepte, lernten, wie man Brot buk oder<br />

dem Pferd »die Schuhe anzog«, wie man Torf stach und Seile<br />

herstellte. Wir füllen das Museum mit Leben, um die vergangene<br />

Zeit zu bewahren – wenigstens in der Erinnerung.<br />

Violetta Tkacz-Laskowska<br />

Aus dem Polnischen übersetzt von Gunter Dehnert und<br />

Dorota Makrutzki, gekürzt von der <strong>BLICKWECHSEL</strong>-Redaktion<br />

Violetta Tkacz-Laskowska ist Kuratorin am Museum des Slowinzischen Dorfes<br />

in Klucken (Muzeum Wsi Słowińskiej w Klukach). Dorota Makrutzki ist<br />

Kulturreferentin für Pommern und Ostbrandenburg am Pommerschen Landesmuseum<br />

in Greifswald ( S. 56–58), Gunter Dehnert ist dort als Historiker<br />

tätig. Hintergrundfoto: © Muzeum Wsi Słowińskiej w Klukach

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