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BLICKWECHSEL 2020

Mittendrin und anders. Deutschsprachige Minderheiten im östlichen Europa

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Ausgabe 8 • <strong>2020</strong><br />

MENSCHEN<br />

37<br />

Kontext war der 7. Dezember 1970 – der Tag, an dem Brandt<br />

in Warschau den Vertrag über die »Grundlagen und Normalisierung<br />

der gegenseitigen Beziehungen« unterzeichnete<br />

und am Warschauer Ghetto-Ehrenmal seinen später in die<br />

Geschichte eingegangenen Kniefall vollzog. Dabei begleitete<br />

ihn auch Siegfried Lenz.<br />

Diese Erfahrungen flossen in den Roman Heimatmuseum<br />

ein. Hauptfigur und Erzähler ist Zygmunt Rogalla, Leiter<br />

eines Heimatmuseums im ostpreußischen Lucknow – der<br />

Ortsname erinnert an Lenz´ Geburtsort Lyck –, das 1945 nach<br />

Egenlund bei Schleswig gerettet wird. Schließlich steckt<br />

Rogalla sein mühsam aufgebautes Lebenswerk in Brand.<br />

Warum er das tut, erklärte Lenz 1978 in einem Interview für<br />

die Kulturpolitische Korrespondenz:<br />

In dem Augenblick, als er argwöhnt oder Grund hat zum Argwöhnen,<br />

daß ein Teil des Inventars in einen höchst problematischen<br />

Dienst genommen werden könnte, glaubt er, freie Hand genug zu<br />

haben, um die Dinge zerstören zu können. […] Dazu gehört auch<br />

die Tatsache, daß er erfährt, […] wie das Mitgebrachte mehr und<br />

mehr seine Zeugen verliert, seine Beweisfähigkeit.<br />

Wie der Titel bereits andeutet, ist Heimatmuseum – so Lenz<br />

– eine Auseinandersetzung mit dem »in Verruf gekommenen«<br />

Wort »Heimat«, das »mißbraucht wurde, so schwerwiegend<br />

mißbraucht, daß man es heute kaum ohne Risiko<br />

aussprechen kann«. Er setzt sich auch mit dem von den<br />

Vertriebenenverbänden proklamierten »Recht auf Heimat«<br />

auseinander:<br />

Das diskrete Plädoyer meiner Geschichte läuft darauf hinaus, den<br />

materiellen Anspruch auf die Ostgebiete angesichts der politischen<br />

Verhältnisse aufzugeben und gleichzeitig einen immateriellen Erinnerungsanspruch<br />

aufrechtzuerhalten. Politisch sollten wir unsere<br />

Zuflucht zu einem übergreifenden Prinzip nehmen: zu Europa.<br />

seines 95. Geburtstages im Jahre 2021 plant das Historische<br />

Museum eine Ausstellung zum Leben und Werk des<br />

Schriftstellers; schließlich veranstaltet das Museum auch<br />

die monatlichen Colloquia Lenziana, die als Diskussionen<br />

zu verschiedenen regionalen Themen konzipiert wurden.<br />

Die Zofia-Nasierowska-Stadtbibliothek organisiert jedes<br />

Jahr den Internationalen Siegfried-Lenz-Literaturwettbewerb,<br />

Gegenstand sind kurze literarische Formen zum Thema<br />

»Gesichter Europas«.<br />

Rafał Żytyniec<br />

Dr. Rafał Żytyniec ist Direktor des Historischen Museums in Lyck/Ełk (Muzeum<br />

Historyczne w Ełku).<br />

& Rafał Żytyniec: Zwischen Verlust und Wiedergewinn. Ostpreußen<br />

als Erinnerungslandschaft der deutschen und polnischen<br />

Literatur nach 1945, Allenstein/Olsztyn 2007 (antiquarisch<br />

erhältlich)<br />

Wie zukunftsfähig diese Worte von Siegfried Lenz waren,<br />

sollte sich erst im Laufe der Zeit zeigen – vor allem nach<br />

dem Zerfall des Kommunismus im östlichen Europa und<br />

nach der EU-Osterweiterung. Diese Veränderungen, die<br />

auch mit der Fortsetzung und Vertiefung des deutsch-polnischen<br />

Versöhnungsprozesses einhergingen, machten es<br />

möglich, dass Siegfried Lenz am 18. Oktober 2011 Ehrenbürger<br />

von Lyck wurde. Und seine Heimatstadt hält die<br />

Erinnerung an den 2014 verstorbenen Schriftsteller wach.<br />

Nach Siegfried Lenz wurde eine Straße benannt; anlässlich<br />

Schild der Siegfried-Lenz-Straße in Lyck/Ełk (Foto: Rafał Żytyniec)<br />

Der Autor Siegfried Lenz, Foto: © Ingrid von Kruse<br />

Cover der 2018 erschienenen illustrierten Ausgabe,<br />

© Hoffmann und Campe

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