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BLICKWECHSEL 2020

Mittendrin und anders. Deutschsprachige Minderheiten im östlichen Europa

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KÖNIGSBERG – KALININGRAD – KJONIG<br />

Persönliche Erkundungen und Gespräche<br />

Ende August 2015 brach ich von Hamburg nach Kaliningrad<br />

auf. Meine Dissertation zur Geschichte Königsbergs beginnend,<br />

hoffte ich, in fünf Monaten ein Gefühl für die Stadt<br />

zu bekommen. Ausgerüstet mit Visum, Migrationskarte und<br />

Registrierung, die man immer mit sich zu führen hat, bezog<br />

ich eine Ecke in einem Dreierzimmer im Studentenheim.<br />

Erst einmal einkaufen. Die Einheimischen gingen dafür<br />

meist auf den großen überdachten Markt mit Fisch- und<br />

Milchhalle. Waren für alle Lebenslagen wurden dort feilgeboten<br />

– vom Kopfkissen über Obst, Gemüse und Nüsse bis<br />

hin zum Angelköder. Ganze Tierhälften konnte man erstehen<br />

und fand bessere Qualität als in den Supermärkten. Auch<br />

meine Bekannten kauften hier das Fleisch für die »Schaschliki«,<br />

zu denen sie mich bald nach meiner Ankunft einluden.<br />

Es wurde ein typischer Datscha-Tag, wie die Russen ihn<br />

zwischen Frühling und Herbst gern genießen. Um das Haus:<br />

Himbeeren, Nüsse, Obstbäume und Sommerblumen. Die<br />

Großmutter hatte Knoblauch-Hühnchen im Ofen für uns<br />

geschmort, draußen brutzelten die Schaschlikspieße auf dem<br />

Grill. Dazu gab es selbstgemachten Sirup und Tee – Altersgenossen<br />

habe ich sehr selten Wodka trinken gesehen. Viele<br />

junge Frauen lehnen Alkohol kategorisch ab. Was mich an<br />

Russland interessiere, fragte man mich. »Die Nationalhymne«,<br />

erwiderte ich. Spontan wurde sie mir vorgesungen. Zwei<br />

junge Frauen waren irritiert: Wird es der Hymne gerecht, wenn<br />

man sie im Sitzen an einem Küchentisch zum Besten gibt?<br />

Während der Monate in Kaliningrad fragte ich zahlreiche<br />

junge Menschen, wie sie die Stadt und deren Geschichte<br />

erleben. Viele von ihnen betrachten Kaliningrad als genuines<br />

Gebilde – mit allen Aspekten seiner Genese, die wie eine chemische<br />

Reaktion etwas Neues hervorgebracht hat. Manche<br />

drücken das durch den inoffiziellen Stadtnamen »Kjonig«<br />

aus. Ihr Heimatgefühl führt sie zu einem Geschichtsinteresse,<br />

das sie mit der Verbundenheit zum aktuellen Wesen<br />

der Stadt verknüpfen. Neben dem Bezug zur russischen<br />

Kultur existiert eine regionale Identität.<br />

»Ich habe in einem Haus gelebt, das von Deutschen<br />

gebaut wurde. Beim Renovieren fanden wir ein Zigarettenetui<br />

und einen Zeitungsausschnitt«, erinnerte sich ein<br />

22 Jahre alter Kaliningrader. »Ich würde gern mehr über das<br />

deutsche Leben erfahren.« In Museen ist das möglich: in der<br />

alltagsgeschichtlichen Sammlung im Friedländer Tor und in<br />

der Ausstellung zur preußischen Dynastie im Königstor, wo<br />

sonntags ein Chor Ännchen von Tharau in deutscher und<br />

russischer Fassung singt.<br />

»Mir gefällt die Tatsache, dass meine Stadt reich an<br />

Geschichte ist. Das macht mich stolz. Ich würde gerne die<br />

Stadt restaurieren und eine Zusammenarbeit mit Deutschland<br />

entwickeln«, wünschte sich eine 22 Jahre alte Kaliningraderin.<br />

Der »deutsche Geist« Kaliningrads komme ihr immer<br />

in den Sinn, wenn junge Menschen ihre Stadt »Kjonig« nennen.<br />

Deutsche Berühmtheiten, wie E. T. A. Hoffmann, Käthe<br />

Kollwitz und insbesondere Immanuel Kant, sind auch heute<br />

noch in der Stadt präsent.<br />

Es sei ihm »angenehm, auf deutschem Boden zu leben«,<br />

fand ein 21-jähriger Nachfahre von Wolgadeutschen. »Mein<br />

Urgroßvater ist in Preußen geboren. Ich wohne auf dem Land<br />

meiner Vorfahren.« Er verbinde mit Königsberg »enge Sträßchen<br />

mit Pflastersteinen, preußisches Leben und Kämpfe«<br />

und sei sehr interessiert »an der Entwicklung der Agrarkultur,<br />

Landwirtschaft, Urbarmachung des Landes«. Im Oblast<br />

Kaliningrad liegen heute die meisten Felder brach, weil<br />

Drainagen nach dem Krieg nicht instand gehalten wurden.<br />

Das Gefühl, auf deutschen Pflastersteinen zu laufen,<br />

beschlich auch mich mitunter: Auf der Uliza Telmana, im Norden<br />

der Stadt, sah ich einen Kanaldeckel mit der Aufschrift<br />

»Feuerwehr«. Dort erinnerte mich vieles an Norddeutschland:<br />

Alleen, Kopfsteinpflaster, Straßenbahnschienen. Die<br />

Villen im Süden Kaliningrads, im ehemaligen Stadtteil Amalienau,<br />

sind von Gärten umgeben – mit zum Teil sehr alten<br />

Bäumen, die sicher einiges gesehen haben. So hatte ich das<br />

Gefühl, bald in Kaliningrad zu sein, bald in Königsberg – je<br />

nach Architektur und Flora.<br />

Bei den Teilnehmern des Deutschkurses in der Stadtbibliothek,<br />

den ich leitete, verspürte ich großes Interesse an<br />

deutscher Sprache und Kultur, wie auch bei so manchem<br />

anderen Kaliningrader, mit dem ich ins Gespräch kam. So<br />

eines Oktoberabends mit einem älteren Herrn an der Bushaltestelle<br />

auf dem belebten Siegesplatz: Er hatte mich mit<br />

meinen Eltern Deutsch sprechen hören und bat uns, das<br />

auf Deutsch verfasste Vorwort seines Buches über das 1894<br />

erbaute Königsberger Wasserwerk zu korrigieren.<br />

In meine Heimat zurückgekehrt, entledigte ich mich meiner<br />

»Registration« und fühlte mich frei – und dankbar für eine<br />

Zeit voller bleibender Eindrücke, bewegender Erfahrungen<br />

und horizonterweiternder, herzerwärmender Begegnungen.<br />

Anne Mareike Schönle<br />

Anne Mareike Schönle ist Doktorandin am Lehrstuhl für Osteuropäische<br />

Geschichte in Greifswald zum Thema Königsberg im Kaiserreich. Alltagskultur<br />

einer Großstadt um 1900.

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