BLICKWECHSEL 2020
Mittendrin und anders. Deutschsprachige Minderheiten im östlichen Europa
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MEINE UNVERGESSLICHEN DEUTSCHEN<br />
Von Milan Uhde<br />
Unsere Begegnung fand an einem sonnigen<br />
Junitag des Jahres 1945 statt. Am Gartentor<br />
unserer kleinen Brünner Villa klingelte Frau Černá.<br />
Unter diesem Namen kannten wir sie zumindest bis<br />
zu dem Zeitpunkt, bevor wir und unsere Freunde<br />
lesen gelernt hatten. Dann erfuhren wir durch die<br />
Aufschrift an ihrer Glocke im Nachbarhaus, dass sie<br />
sich Czerny – also mit Cz schrieb. Wir kamen darauf,<br />
dass sie eine Deutsche war, auch wenn wir sie<br />
niemals deutsch sprechen gehört hatten. Wir klingelten<br />
immer wieder bei ihr, wenn uns der Ball über<br />
den Nachbarzaun sprang, über den wir nicht wagten,<br />
hinüberzuklettern: Der Hausmeister war den ganzen<br />
Tag zu Hause und passte auf. Er war mürrisch und<br />
schrie fürchterlich, sobald er uns nur sah, so dass<br />
für uns nicht in Frage kam, ihn darum zu bitten,<br />
uns unseren Ball wiederzubringen. Dagegen absolvierte<br />
Frau Czerny diesen Gang mit einem Lächeln,<br />
manchmal auch zweimal am Tag. [...]<br />
Papa machte ihr auf und führte sie die Treppen<br />
hinauf ins Wohnzimmer. Ich wollte, dass<br />
mir nichts entging, und so wartete ich dort gut versteckt<br />
unter dem Tisch, der bis zum Fußboden mit<br />
einer entsprechend langen und breiten Tischdecke<br />
bedeckt war. [...] Frau Czerny hatte einige Blätter<br />
Papier dabei. Aus ihren Ausführungen begriff<br />
ich, dass sie die Unterschriften von 174 Menschen<br />
aus der Umgebung enthielten, die bezeugten, dass<br />
sich Frau Czerny während der gesamten deutschen<br />
Besetzung zu allen ihren tschechischen Nachbarn<br />
sehr freundschaftlich verhalten habe, dass sie tschechisch<br />
gesprochen habe, das Recht der Deutschen<br />
auf Bedienung ohne Wartezeit nicht ausgenutzt,<br />
sich in allen Läden geduldig in die Warteschlange<br />
eingereiht und außerdem niemals Sympathien für<br />
Hitlers Politik gezeigt habe. Deshalb forderten die<br />
Unterzeichner, dass sie von der Abschiebung ausgenommen<br />
werde und zu Hause in ihrer Wohnung<br />
bleiben dürfe.<br />
Papa sagte zu ihr, dass er genauso wie die Nachbarn<br />
denke, die auf den Papierbögen unterschrieben<br />
hatten, und dass er wisse, dass ihr<br />
Ehemann, der an der Ostfront gefallen war, ein<br />
gewöhnlicher Wehrmachtssoldat war [...] Doch<br />
am Ende enttäuschte er mich sehr: Weder er noch<br />
meine Mutter könnten angeblich die Liste unterschreiben.<br />
Sie seien Anwälte, denen bewusst sei,<br />
dass die Abschiebung gesetzlich angeordnet worden<br />
sei und keine Ausnahmen gemacht werden könnten.<br />
[...] Frau Czerny müsse damit rechnen, nicht in der<br />
Tschechoslowakei bleiben zu können. Sie ging weinend<br />
aus unserem Haus hinaus und tat mir, damals<br />
im Alter von neun Jahren, sehr leid. Das Wort odsun<br />
(Abschub) hörte ich damals zum ersten Mal [...].<br />
Natürlich erinnerte ich mich auch, dass bei weitem<br />
nicht alle Begegnungen mit den Deutschen<br />
angenehm waren. [...] Beim Einkaufen in der Molkerei<br />
wurde ich zusammen mit meiner Mutter Zeuge<br />
Das Deutsche Haus in Brünn/Brno auf einer Postkarte von 1915,<br />
Verlag Ascher und Redlich, Brünn<br />
Gerüst in den Umrissen des nicht mehr existierenden Deutschen<br />
Hauses am ursprünglichen Platz. Es wurde während des Festivals<br />
Meeting Brno 2017 aufwendig in Originalgröße aufgebaut, um<br />
auch an die Rolle der Deutschen für die Stadt zu erinnern.<br />
Foto: © Adalbert Stifter Verein