06.05.2020 Aufrufe

BLICKWECHSEL 2020

Mittendrin und anders. Deutschsprachige Minderheiten im östlichen Europa

Mittendrin und anders. Deutschsprachige Minderheiten im östlichen Europa

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

an. Und ich begann, Geschichten aus den deutschen Dörfern<br />

Sibiriens zu sammeln. So auch jene von Peter Luft.<br />

Peter Luft – Jahrgang 1955, kurzes, weißes Haar, Schnurrbart<br />

– wohnt in Ludwigsburg. Er war noch nie in Russland,<br />

hat sich aber intensiv mit seiner Familiengeschichte auseinandergesetzt.<br />

»Mein Großvater Adam war Wolgadeutscher«,<br />

erzählt er. »Er kam 1884 im Dorf Jagodnaja Poljana bei Saratow<br />

zur Welt und hatte drei Kinder: Anna Elisabeth, Alexander<br />

und Peter, mein Vater.« In den 1920er Jahren wurde die<br />

Familie zusammen mit anderen Deutschen nach Sibirien<br />

verbracht. Dort gründeten sie das Dorf Nowo Jagodnaja,<br />

heute Swjatogorsk. Adam Luft wurde Vorsteher der örtlichen<br />

Kolchose. Mitte der 1930er Jahre wollte er für seine Arbeiter<br />

Walenki (Filzstiefel) besorgen. »Weil kein Geld da war«, erklärt<br />

Peter Luft, »bezahlte er mit Getreide aus der Kolchose.« Adam<br />

Luft wurde an die Behörden verraten, der Veruntreuung<br />

beschuldigt und später vermutlich erschossen.<br />

Peter Lufts Vater fiel während des Krieges in die Hände<br />

der deutschen Wehrmacht und arbeitete für sie als Dolmetscher.<br />

Nach dem Krieg kam er nach Deutschland. Peter Lufts<br />

Tante Anna Elisabeth Lohrey wanderte erst in den 1980er<br />

Jahren mit ihrer Familie aus. »Sie hatte ihren Bruder, meinen<br />

Vater, 52 Jahre nicht gesehen«, erinnert sich Peter Luft an<br />

die bewegende Begegnung. »Eine Weile gab es noch einen<br />

Briefwechsel zwischen Deutschland und Sibirien«, sagt er. Da<br />

aber Kontakte ins Ausland während der Sowjetzeit gefährlich<br />

gewesen seien, habe man sich über die Jahrzehnte verloren.<br />

Gemeinsam machten wir uns auf Spurensuche, durchsuchten<br />

Listen, lasen in Foren – und dann ging plötzlich<br />

alles sehr schnell: In einem Forum für Wolgadeutsche suchte<br />

eine gewisse Ljudmila Wlasowa aus Krasnojarsk nach den<br />

Verwandten ihres Mannes Nikolaj Luft, geboren 1948. Nikolaj<br />

stellte sich als Cousin Peter Lufts heraus. Und im April<br />

2019 saßen wir in einem Café in der Leninstraße in Omsk an<br />

einem Tisch: Peter Luft, der in Deutschland geboren wurde.<br />

Alexander Lohrey, der als Jugendlicher von Russland nach<br />

Deutschland ausgewandert war. Nikolaj Luft, der in Russland<br />

geblieben war. Und ich, die nach Russland gekommen war.<br />

In welcher Sprache wir uns unterhielten? Na, so wie es in<br />

den deutschen Dörfern Sibiriens gang und gäbe ist: »Holbe<br />

Russisch, holbe Deitsch. Omal so, omal so.«<br />

Magdalena Sturm<br />

Magdalena Sturm war von 2015 bis 2019 als Redakteurin des ifa (Institut<br />

für Auslandsbeziehungen) in Omsk (Russland) tätig. Heute lebt sie in Wien.<br />

& Russlanddeutsche. Im Gespräch mit ifa-Redakteurin Magdalena<br />

Sturm. Stuttgart: Institut für Auslandsbeziehungen,<br />

2019, 53 S., ISBN 978-3-948205-08-9, Gratisdownload über<br />

publikationen.ifa.de<br />

Alexander Luft mit Familie, vorn links Cousin Nikolaj, um 1950<br />

Foto: privat<br />

Die deutschen Minderheiten im Ausland spiegeln ein Stück europäischer<br />

Identität: in Vielfalt friedlich zusammenleben, aktive Mehrsprachigkeit,<br />

grenzüberschreitende Zusammenarbeit und ein hohes<br />

Engagement für eine demokratische und tolerante Zivilgesellschaft.<br />

Der Bereich Integration und Medien des ifa (Institut für Auslandsbeziehungen)<br />

fördert mit Mitteln des Auswärtigen Amtes diese positive<br />

Rolle der Minderheiten. So werden aktuell 19 Kulturmanager und<br />

Redakteure aus Deutschland in Organisationen, Verbänden, Redaktionen<br />

der deutschen Minderheiten im östlichen Europa und in die<br />

Staaten der GUS entsandt. Sie unterstützen die Kultur-, Jugend-,<br />

Medien- und Bildungsarbeit der Organisationen vor Ort und bereichern<br />

sie mit neuen Ideen, fördern den interethnischen Dialog und<br />

sprechen insbesondere die jüngere Generation an.<br />

Darüber hinaus initiiert und fördert das ifa innovative Projekte zu<br />

den Schwerpunkten Jugend und Medien und setzt sie in Kooperation<br />

mit den Partnern vor Ort um. Dazu gehören Sommercamps,<br />

Jugendkonferenzen, Kinderspielstädte, Kinderuniversitäten oder<br />

Social-Media-Plattform. Ein Beispiel für ein Impulsprojekt in diesem<br />

Bereich ist die Social-Media-Plattform Mind_Netz. Seit 2016 bietet<br />

sie einen authentischen Einblick in die Länder des östlichen Europa<br />

und zeigt die Vielfalt des Lebens der deutschen Minderheiten. Die<br />

Mind_Netz-Redaktion scannt täglich über vierzig Websites von Zeitungen,<br />

Magazinen, Radio- und Fernsehsendungen der deutschen<br />

Minderheiten aus Mittelosteuropa, Russland und Zentralasien. Sie<br />

wählt Beiträge aus und verbreitet sie dort, wo junge Menschen<br />

sie leicht finden: auf Facebook, Instagram, Twitter und VKontakte.<br />

Karoline Gil, Bereichsleiterin des ifa für Integration und Medien

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!