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hinnerk Juni/Juli 2020

Seit 1993 ist hinnerk DAS (erst schwule) und heute queere Magazin für Hamburg und Norddeutschland.

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6 SZENE<br />

LIEBE IN ZEITEN FOTO:<br />

KATE TRIFO<br />

VON CORONA<br />

„Heute mal ohne küssen, wir müssen ein bisschen vorsichtig sein“<br />

#SuperSpreader<br />

Ich werde nicht sterben. Zumindest nicht,<br />

bevor dieser Artikel geschrieben ist. Danach<br />

können die Medien diskutieren – oder<br />

einfach würfeln –, welcher Kategorie ich<br />

zuzuordnen sei: gestorben a) an Corona,<br />

b) mit Corona oder c) infolge oder nach<br />

einer Corona-Pandemie. Wahrscheinlich<br />

werden sie sich für a) entscheiden, das klingt<br />

dramatisch.<br />

Meine private COVID-19-Erfahrung<br />

beginnt in Bangkok mit Grindr und einem<br />

Waschbrett. Zu einem Zeitpunkt, als man in<br />

Deutschland noch staunte, wie schnell Chinesen<br />

ein Feld in ein Seuchenkrankenhaus<br />

verwandeln können. Er sei ausschließlich<br />

passiv und aus Australien, schrieb das<br />

Waschbrett. Er sei 170 Meter entfernt, zeigte<br />

Grindr. Beste Voraussetzungen, wütete das<br />

zu diesem Zeitpunkt noch neuartige Virus<br />

doch fast ausschließlich in Wuhan.<br />

Der Sex war gut, der folgende Austausch von<br />

Belanglosigkeiten bedenklich:<br />

- Wie lange bist du in Bangkok?<br />

- Zwei Wochen.<br />

- WHAT? Was machst du zwei Wochen in<br />

Bangkok?<br />

- Nichts.<br />

- NICHTS?<br />

Mein Date war zuvor in China. Verwandtschaft<br />

besuchen. Ich habe sicherheitshalber<br />

nicht gefragt, in welcher Provinz. Zurück<br />

nach Australien, sagte er, dürfe er erst,<br />

nachdem er zwei Wochen in einem – damals<br />

noch – sicheren Drittland verbracht hat:<br />

Thailand.<br />

#DieAlone<br />

Also sitzt mein australisches Waschbrett<br />

mit chinesischem Migrationshintergrund<br />

in seinem Hotel in Bangkok und lässt sich<br />

zwei Wochen lang morgens, mittags, abends<br />

von Kerlen aus aller Welt durchvögeln, bevor<br />

er zurück nach Sydney fliegt. Chapeau!<br />

So organisiert man Pandemien. Wäre ich<br />

ein Virus, ich stünde Schlange, um ihn als<br />

Patient Zero zu belegen.<br />

#PatientZero<br />

Inzwischen sind mehrere Wochen vergangen.<br />

Weder ich noch die schwule Szene<br />

Sydneys sind dem Virus erlegen. Und auch<br />

das Waschbrett lebt noch. Sein Profil ist<br />

aktiv. Sterben werde ich trotzdem, sagt der<br />

Mitbewohner meines Ex. Wie ich denn jetzt<br />

noch an Dates denken könne, fragt er. Das<br />

sei doch russisches Roulette.<br />

Stimmt. Wer heute datet, setzt sich quasi<br />

die Pistole an die Schläfe. Einen Revolver mit<br />

tausend Kammern, von denen in ungefähr<br />

2,7 eine Patrone steckt. In einigen Kammern<br />

sind Platzpatronen. Tut auch weh.<br />

Klar, der Vergleich hinkt. Wer das Bild<br />

präzisieren möchte, drückt den Revolver<br />

einem starken Raucher in die Hand, einem<br />

Rentner oder wahlweise einem Menschen<br />

mit Vorerkrankungen. Da stehen einige<br />

zur Auswahl. Aktuelle Statistiken scheinen<br />

auch darauf hinzudeuten, dass man ein<br />

paar Patronen zusätzlich einlegen kann,<br />

wenn man in Gegenden mit sehr hoher<br />

Luftverschmutzung lebt. In der Lombardei<br />

zum Beispiel. Oder Madrid. Für Stuttgart<br />

oder die Berliner Innenstadt liegen noch<br />

keine belastbaren Zahlen vor, bedauert die<br />

Wissenschaft.<br />

Aber es sterben auch 27-jährige Sportler,<br />

die täglich mindestens einen Apfel essen<br />

und weder Asthma noch Raucher in der<br />

Familie haben, wird der aufmerksame Leser<br />

jetzt einwenden. Zu Recht! Wenn man nur<br />

eine Patrone in zehntausend Kammern legt,<br />

muss man wahrscheinlich vergleichsweise<br />

oft abdrücken. Es kann aber auch schon<br />

beim ersten Mal klappen. Die Statistik ist ein<br />

Arschloch. Der Zufall hat kein Gewissen.<br />

#YourLifeCounts<br />

Außerdem komme es auf jedes, wirklich<br />

jedes Menschenleben an, versichern Politiker<br />

heutzutage gerne. Das sind dieselben Volksvertreter,<br />

die sehr genau wissen, dass jeden<br />

Tag knapp zehn Menschen im deutschen

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