Mensch & Maschine
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EDITORIAL<br />
Titel: © Felix Adler, © Oscar Niemeyer VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Illustration: Anja Stiehler-Patschan/Jutta Fricke Illustrators<br />
Zahlenspiele<br />
Industrie braucht Know-how. Wer<br />
Berge tunneln oder Erze schmelzen will,<br />
der sollte schon über Fachwissen verfügen.<br />
Noch komplizierter wird es, will<br />
man darüber hinaus Dinge in die Welt<br />
bringen, die tagein, tagaus gleich aussehen,<br />
gleich funktionieren und beim<br />
Nutzer gleiche Effekte erzielen: Autos<br />
zum Beispiel oder zu Pellets gepresstes<br />
Hundefutter. Derartige Massenprodukte<br />
beruhen im Kern auf Zahlen, Daten,<br />
Algorithmen… Gut also, wer angesichts<br />
solcher Herausforderungen ein<br />
Mathematik-Genie in seinen Reihen<br />
weiß. Einen wie Adam Riese zum Beispiel.<br />
Der ist nicht einfach der Bruder<br />
von Graf Zahl oder ein Kinderschreck<br />
aus dem Mathebuch; Adam Riese hat es<br />
tatsächlich gegeben: Geboren in Bamberg<br />
und später im erzgebirgischen Annaberg<br />
daheim, wurde er im 16. Jahrhundert<br />
zum mastermind der<br />
sächsischen Industriegeschichte: kein<br />
Förderturm, keine Lohnbuchhaltung<br />
ohne Rieses Zahlenspiele. Auf Rechenmeister<br />
Riese konnte der sächsische<br />
Aufschwung auf einfache Weise addieren,<br />
subtrahieren, exportieren: In insgesamt<br />
vier Rechenbüchern revolutionierte<br />
Riese die Algebra. Sein<br />
vermutlich aber größtes Verdienst: Er<br />
ersetzte die römischen Zahlzeichen<br />
durch die wesentlich leichter zu handhabenden<br />
arabischen Ziffern. So ließen<br />
sich Normumfänge von Silbermünzen<br />
berechnen, Idealmaße für Standardbekleidung<br />
festlegen, ja sogar Algorithmen<br />
für digitale Produktionsstraßen darstellen.<br />
Aus einst mühsam zusammengezimmerten<br />
Waren mit Ecken und<br />
Ralf Hanselle,<br />
Journalist und Redakteur von<br />
<strong>Mensch</strong> & <strong>Maschine</strong><br />
Kanten wurden im Laufe der 500-jährigen<br />
Industriegeschichte Massenartikel<br />
und runde Sachen.<br />
So rund etwa wie die hippen Kugellautsprecher<br />
k20, die der Chemnitzer<br />
Formgestalter Karl Clauss Dietel anno<br />
1970 für den damaligen VEB Elektromechanik<br />
Mittweida entwarf. Oder so<br />
rund – oder mindestens eierförmig –<br />
wie die von Oscar Niemeyer entworfene<br />
Kantine auf dem Dach einer Leipziger<br />
Industrieanlage. Wer derlei kugelige<br />
Dinge bauen kann, muss mathematisch<br />
gut beschult worden sein. Denn da hilft<br />
nicht töpfern oder lange rumhantieren:<br />
Es braucht standardisierte<br />
Verfahren, genormte Formvorlagen,<br />
maschinelle Arbeitsgänge;<br />
kurz: Es braucht<br />
Industriekultur. Und die gibt<br />
es in kaum einem anderen<br />
Bundesland auf derart vielfältige<br />
Weise wie eben in<br />
Sachsen.<br />
Von Leipzig bis hinüber<br />
nach Görlitz dreht sich daher<br />
2020 manch eine<br />
Ausstellung, manch Festival oder Podium<br />
rund um das Thema Industrie. Im<br />
„Jahr der Industriekultur“ präsentiert<br />
Sachsen seinen wichtigsten Markenkern.<br />
Und die diesjährige 4. Sächsische<br />
Landesausstellung in Zwickau steht<br />
dem in nichts nach: Unter dem Titel<br />
„Boom. 500 Jahre Industriekultur in<br />
Sachsen“ zeigt sie einen spannenden<br />
Parcours vom Großen Berggeschrey bis<br />
weit hinein in die Industrie 5.0.<br />
Eine runde Sache also. Und der hat<br />
sich auch dieses Magazin verschrieben<br />
– nicht nur, indem es den bereits erwähnten<br />
Kult-Gestalter Karl Clauss<br />
Dietel porträtiert oder in Leipzig das Ei<br />
des Oscar Niemeyer besichtigt; mit<br />
zahlreichen Interviews, mit Reportagen<br />
über Gebetsteppiche aus Oelsnitz oder<br />
mit Werkbesichtigungen in Braunsdorf,<br />
Knappenrode oder Dresden zeigt es das<br />
Produktivste, was man aus Zahlen und<br />
Ziffern machen kann. Nach Adam Riese<br />
macht das übrigens 52 Seiten prallvoll<br />
mit spannenden Geschichten aus dem<br />
Herzland der Industrialisierung. Dazu<br />
wünschen wir gute Unterhaltung! •<br />
Covermotiv:<br />
Unser Cover zeigt den<br />
Unternehmer Ludwig<br />
Koehne zusammen<br />
mit dem Architekten<br />
Harald Kern in der neuen<br />
Niemeyer Sphere in<br />
Leipzig. Ein Gespräch<br />
zwischen den beiden<br />
finden Sie auf den<br />
Seiten 34–36<br />
MENSCH & MASCHINE