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Mensch & Maschine

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UNTERNEHMER 4.0<br />

43<br />

Lars Fassmann ist<br />

Unternehmer neuen Typs:<br />

alternativ, engagiert<br />

und heimatverbunden.<br />

Besuch bei einem<br />

spannenden Exoten<br />

TEXT Christine Zeiner<br />

FOTO Jasmin Zwick<br />

Diese Lampen! Sie sind das erste,<br />

was einem ins Auge springt,<br />

wenn man die Chemnitzer<br />

Kneipe Lokomov betritt. Die Leuchten<br />

mit den großen Kugeln und den markanten<br />

Verbindungsrohren sind beeindruckend<br />

– und sie bilden einen Kontrast<br />

nicht nur zu dem Altbau, in dem<br />

sich das Lokomov befindet, sondern<br />

zum gesamten Stadtteil Sonnenberg.<br />

„Sonnenberg? Was wollen Sie denn<br />

da?“, antwortet eine Frau auf die Frage<br />

nach dem Weg. „Ich sag mal so: Es gibt<br />

schönere Ecken.“ Sonnenberg, einst<br />

als Brennpunkt verschrien, mag nach wie<br />

vor keinen klingenden Namen haben.<br />

Doch in dem Viertel hat sich in den<br />

vergangenen Jahren viel getan. Und zu<br />

einem guten Teil liegt das eben an<br />

Lars Fassmann.<br />

Das Lokomov hat noch nicht geöffnet,<br />

aber Fassmann ist schon da. Dem<br />

43-Jährigen gehört das Lokal, das<br />

gesamte Haus und das Gebäude gegenüber.<br />

Darin: Ateliers, Wohnungen,<br />

Pizzeria, Club, Bandproberäume,<br />

Fotostudio und Werkstatt für Fahrrad-<br />

Oldtimer „nach bester Chemnitzer<br />

Industrietradition“, wie Fassmann sagt.<br />

Und mit der kennt sich der 1978 in<br />

Garnsdorf geborene Geschäftsmann bestens<br />

aus. Mit Mitte 20 gründete er das<br />

IT-Unternehmen Chemmedia AG,<br />

bis heute führender Anbieter in Sachen<br />

Lernsoftware. Er ist Gründungsmitglied<br />

des Landesverbands der Kultur- und<br />

Kreativwirtschaft Sachsen, Vizepräsident<br />

des Industrieverbands und Gesellschafter<br />

eines Unternehmens namens Kabinettstückchen.<br />

Kurz: Fassmann ist engagierter<br />

Unternehmer im besten Sinne; immer<br />

mit einem Gespür für den richtigen<br />

Zeitpunkt, um Dinge anzugehen.<br />

Und er weiß stets, was zusammenpasst.<br />

„Die sind aus Erichs Lampenladen“,<br />

sagt er und schaut zur Decke. Die<br />

Originallampen aus dem Berliner Palast<br />

der Republik hängen über weniger eleganten<br />

Sesseln. Auf den Tischen stehen<br />

gelbe Tulpen. „Den hat der Chaos-<br />

Chemnitz-Hackerspace aufgestellt“, sagt<br />

er und zeigt auf einen „Raspi“, einen<br />

Mikrocomputer, der einen Röhrenmonitor<br />

ansteuert. Über den alten Bildschirm<br />

rattern Anzeigen. „Der gesamte<br />

Fahrplan“, sagt Fassmann und schmunzelt.<br />

Ein paar Jahre saß er für die Liste<br />

Piraten/Wählervereinigung Volkssolidarität<br />

im Stadtrat. Ob und wann die<br />

Verkehrsbetriebe ihre Daten für die Allgemeinheit<br />

als Open Data freigeben,<br />

sei dort damals lange Thema gewesen.<br />

Im Erdgeschoss ist ein Teil der Fassade<br />

angesprayt. Im oberen Teil fehlen<br />

vereinzelt Fenster. Das Dachgeschoss<br />

wird als Lager für Material und Ausstellungsstücke<br />

genutzt. Die Miete für<br />

die Ateliers beträgt maximal einen Euro<br />

Kaltmiete. Fassmann ist eben kein gewöhnlicher<br />

Investor. Für ihn zählt, wie<br />

er sagt, die „gesellschaftliche Rendite“.<br />

Als Gewerbetreibender will er etwas<br />

tun für seine Stadt. Davon wiederum<br />

profitiert auch er selbst – denn Chemnitz<br />

wird so zu einem Ort, wie er<br />

ihn sich immer gewünscht hat: offen,<br />

lebendig, vielseitig.<br />

Fassmann missbilligt die Extreme, er<br />

spricht und schreibt an gegen Rassismus,<br />

Rechte und Fußball-Hooligans – er<br />

kritisiert aber auch ein, wie er sagt, verzerrtes<br />

Bild seiner Stadt als Hort von<br />

Neonazis. Fassmann nimmt eine verengte<br />

Sicht mancher Chemnitzer aufs<br />

Korn, <strong>Mensch</strong>en, die zufrieden seien mit<br />

Haus, Garten, Auto und für die Themen,<br />

die ihm wichtig sind, keine Rolle<br />

spielen: sauberes Trinkwasser in Kenia<br />

oder die Ausbildung von Bankern, die<br />

Mikrokredite vergeben.<br />

Auf kompetente Weise, oft gespickt<br />

mit Sarkasmus, kann er sich auch zur<br />

Wirtschaftspolitik in seiner Stadt äußern.<br />

„Der Eindruck, dass wir eine reine<br />

Industriestadt sind, hält bis heute an.<br />

Dabei haben wir eine ganz gemischte<br />

Wirtschaft und viele Kulturschaffende.“<br />

Für die müsse etwas getan und so die<br />

Abwanderung gestoppt werden.<br />

Den Anstoß für diese Haltung gab<br />

für ihn vor Jahren der drohende Abriss<br />

von 180 Gründerzeithäusern: Gemeinsam<br />

mit seiner Lebensgefährtin fasste<br />

„Chemnitz hat<br />

viele Kreative und<br />

Kulturschaffende.<br />

Um die muss sich die<br />

Stadt kümmern“<br />

er damals einen Plan: „Ich kaufte ein<br />

paar Immobilien und gab die Flächen<br />

frei für kulturelle Projekte.“<br />

Den Anfang machte eine 1907 erbaute<br />

Villa. 2004 erwarb sie der junge<br />

Unternehmer und begann mit ihrer<br />

Sanierung. Heute hat in dem Haus sein<br />

eigenes Unternehmen, die Chemmedia<br />

AG, seinen Sitz. Fassmann hatte die<br />

Firma gegründet, da war er gerade mit<br />

dem Studium fertig. Anders als seine<br />

Kommilitonen wollte er Chemnitz<br />

damals nicht verlassen. Er erinnert sich<br />

noch heute an einen Brief, den er im<br />

letzten Semester vom damaligen Oberbürgermeister<br />

erhalten hatte: „,Wenn<br />

Sie in die Welt hinausgehen, berichten<br />

Sie positiv über Chemnitz‘, stand da<br />

geschrieben. Und ich dachte: Ich will<br />

doch gar nicht in die Welt hinaus. Ich<br />

will in Chemnitz bleiben!“ Eine tolle<br />

Stadt. Sie müsste sich halt nur ein bisschen<br />

verändern. Und dafür, so Fassmann<br />

in guter Unternehmertradition,<br />

dafür müsse man letztlich selber sorgen. •<br />

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