22.12.2012 Aufrufe

Leben mit - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

Leben mit - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

Leben mit - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT<br />

unterscheiden von dem, was früher üblich<br />

war. Denn nun halten Mütter, Väter,<br />

Großeltern, Tanten, Onkel und Freunde<br />

der Familie – und später z.B. die Lehrer/-innen<br />

– des Kindes einen Fundus in<br />

den Händen, der ver<strong>mit</strong>telt,<br />

dass und wie es möglich ist, dass ihr<br />

Kind in eben den Kindergarten gehen<br />

wird, in den es auch ginge, wenn das 21.<br />

Chromosom nur zweimal vorhanden<br />

wäre,<br />

dass es immer selbstverständlicher<br />

wird, dass die Schule in der Nachbarschaft<br />

lernen kann, dieses Kind willkommen<br />

zu heißen und es <strong>mit</strong> den Kindern<br />

seines Stadtteils gemeinsam aufwachsen<br />

zu lassen,<br />

und dass es Menschen <strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong><br />

– auch in Deutschland – gibt, die<br />

nach der Sekundarstufe in einer allgemeinen<br />

Schule <strong>mit</strong> Unterstützung durch<br />

einen Integrationsfachdienst einen tarifentlohnten<br />

Arbeitsplatz haben und nun<br />

als Steuerzahler und Mieter einer eigenen<br />

Wohnung als gleichberechtigte Bürger<br />

in ihrer Kommune leben.<br />

Da<strong>mit</strong> ist der lange einzig mögliche und<br />

fest vorgezeichnet erschienene Weg<br />

durch Sonderkindergarten, Sonderschule<br />

für praktisch Bildbare/geistig Behinderte<br />

(oder Schule <strong>mit</strong> dem Förderschwerpunkt<br />

Geistige Entwicklung oder<br />

wie auch immer die unterste Stufe unseres<br />

gestuft segregierenden Schulsystems<br />

benannt wird) und in die Werkstatt<br />

für behinderte Menschen oder allenfalls<br />

in integrative Zweckbetriebe wohltuend<br />

erweitert. Ja, durch die neuen <strong>Leben</strong>swege<br />

von Menschen <strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong><br />

wird der lange wirksame Automatismus,<br />

das <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> <strong>mit</strong> geistiger<br />

Behinderung gleichzusetzen, nachhaltig<br />

in Frage gestellt: Der Begriff erweist sich<br />

als unbeschreiblich fehlbeschreibend!<br />

Ein zentrales Forum<br />

<strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> ist ein zentrales<br />

Forum geworden, in dem sich die<br />

Entwicklungstendenzen im Lande und<br />

weltweit quasi ablesen lassen, hier werden<br />

in einer gelungenen Mischung von<br />

Eltern und Fachleuten und immer häufiger<br />

jungen Menschen <strong>mit</strong> und ohne Behinderungen<br />

Erfahrungen und Erkenntnisse<br />

gebündelt. Und sie werden kompetenzorientiert<br />

dargestellt, ohne Probleme<br />

zu tabuisieren. Von unschätzbarem<br />

Wert sind für mich persönlich die<br />

Blicke über den Tellerrand, wenn z.B.:<br />

18 <strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> Nr. 50, Sept. 2005<br />

eine schweizerische Mutter, die <strong>mit</strong> ihrer<br />

Familie in Shanghai lebt, von der internationalen<br />

Schule ihrer Tochter unter<br />

kanadischer Leitung und <strong>mit</strong> australischem<br />

Klassenlehrer berichtet, wie ihre<br />

Tochter gebeten wird, den Erstklässlern<br />

das Abc beizubringen, wenn es ihr in der<br />

zweiten Klasse mal zu schwierig wird<br />

(keine „pull-out“-Pädagogik, sondern ein<br />

gelungener „Lernen-durch-Lehren“-Ansatz);<br />

vom „Up-Club“ von Teenagern in Australien<br />

berichtet wird („Because we<br />

don’t feel down“), in dem sie jüngeren<br />

Schülern/-innen <strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong><br />

Nachhilfeunterricht im Lesen geben (da<br />

sie am besten wissen, was bei diesem<br />

schwierigen Geschäft wirklich hilft);<br />

die beeindruckend klärenden Ergebnisse<br />

der Untersuchung von Bird &<br />

Buckley in England über die unterschiedlichen<br />

Entwicklungen der Fertigkeiten<br />

von Jugendlichen in Sondereinrichtungen<br />

und in integrativen Settings<br />

von Cora Halder übersetzt und wiedergegeben<br />

werden (allein aufgrund dieser<br />

Befunde erstaunt mich, dass nicht mehr<br />

Sondereinrichtungen zu radikaleren<br />

Veränderungen ihrer Praxis tendieren<br />

und integrative Entwicklungen in Regeleinrichtungen<br />

noch eher zögerlich sind);<br />

ein Bericht in der letzten Ausgabe<br />

„Streberprogramme“ (‚Strivers programs’)<br />

an amerikanischen Unis vorstellt;<br />

wenn also auch elitäre – da auswählende<br />

– Orte wie Universitäten Formen<br />

finden, wie und Gründe warum es<br />

ihr soziales und kulturelles Kapital bereichert,<br />

wenn Menschen <strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<br />

<strong>Syndrom</strong> an ihrem Gemeinschaftsleben<br />

teilhaben, dann macht mich das optimistisch<br />

für weitere Entwicklungen.<br />

Da Eltern von Kindern <strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<br />

<strong>Syndrom</strong> in der Regel sehr früh im <strong>Leben</strong><br />

des Kindes von dessen besonderer<br />

<strong>Leben</strong>sbedingung <strong>mit</strong> dem einen Chromosom<br />

mehr wissen, wurden viele von<br />

ihnen – vielleicht weil sie also etwas<br />

mehr Zeit als andere hatten und weil sie<br />

eben schneller sich ein Bild von der <strong>Leben</strong>ssituation<br />

<strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> in<br />

Deutschland machen konnten – zu Motoren<br />

für die wohl nachhaltigste Reform<br />

der letzten Zeit: Sie bewegten Institutionen<br />

im Bildungsbereich und im ersten<br />

Arbeitsmarkt, sich integrativ zu entwickeln.<br />

Auf eine Zeit der Exklusion und<br />

der Segregation folgte – als zarte und<br />

nicht überall in Deutschland gleich gut<br />

gedeihende Pflanze – die der Integration.<br />

Zeit für Inklusion<br />

Verfolgt man die internationalen Tendenzen,<br />

ist jetzt die Zeit gekommen,<br />

Weiterentwicklungen anzuregen hin zur<br />

Inklusion: einer willkommen heißenden<br />

Gesellschaft <strong>mit</strong> Institutionen, die sich<br />

bewusst sind, wie Barrieren für das Lernen<br />

und die Teilhabe von Menschen verringert<br />

werden können. Die Frage nach<br />

den zu verringernden Barrieren wird in<br />

Zukunft den Begriff „sonderpädagogischer<br />

Förderbedarf“ ersetzen.<br />

Andere Themen und Herausforderungen<br />

der vor uns und dem <strong>Leben</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> liegenden nächsten Zeit<br />

sind aus meiner Sicht:<br />

persönliche Zukunftsplanungen in Unterstützerkreisen<br />

vom Zeitpunkt der<br />

Diagnosestellung an – das wird einige<br />

erwünschte Veränderungen in den Biographien<br />

ermöglichen;<br />

die Ermunterung von Schulen, <strong>mit</strong>tels<br />

des Index für Inklusion, ein willkommen<br />

heißendes Klima und ihre Ressourcen<br />

für eine Pädagogik der Vielfalt zu entfalten<br />

– auf dass wir eine gute (tatsächlich<br />

allgemeine) Pädagogik gewinnen;<br />

Erwachsenenbildung <strong>mit</strong> einer Portion<br />

politischer Aufklärung und Bildung, die<br />

ver<strong>mit</strong>telt, dass es sich bei den anstehenden<br />

Fragen der unbeschränkten<br />

Partizipation in Kindergärten, Schulen,<br />

Arbeitsplätzen, Wohnmöglichkeiten, gegebenenfalls<br />

Elternschaft und Freizeit<br />

in oder Engagement für die Gemeinde<br />

um Bürgerrechte, um Gleichberechtigung<br />

handelt.<br />

Eine wirklich gute Idee ...<br />

Ich habe den Traum, dass in der nächsten<br />

Dekade von <strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong><br />

eine Bundestagsdebatte <strong>mit</strong> Delegierten<br />

stattfindet, die selbst dieses Extra-Chromosom<br />

haben, über die nicht<br />

nur in diesem Journal, sondern auch in<br />

den Tagesthemen berichtet wird – vorgelesen<br />

von einer Sprecherin oder einem<br />

Sprecher <strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong>. Da<br />

wir uns <strong>mit</strong> dem jetzigen Jubiläum zugleich<br />

im Schiller- und im Einsteinjahr<br />

(ein Zufall wäre relativ unwahrscheinlich!)<br />

befinden, hole ich mir diese Verstärkung:<br />

„Eine wirklich gute Idee erkennt<br />

man daran, dass ihre Verwirklichung<br />

von vorneherein ausgeschlossen<br />

erschien.“ (Albert Einstein)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!