flip-Joker_2021-05
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KUnst KULTUR JOKER 15
Ein Zeremonienmeister der Sprache
Marcel Beyer erhält für seinen „Dämonenräumdienst“ den Peter-Huchel-Preis
Alles ist anders, als es einmal
war. So wird auch die diesjährige
Preisverleihung nicht
wie seit jeher am 3. April, dem
Geburtstag des Lyrikers Peter
Huchel (1903-1981), stattfinden,
sondern voraussichtlich
am 21. Mai in Staufen öffentlich
nachgeholt werden. Zusammen
mit Marcel Beyer soll
bei dieser Gelegenheit auch der
letztjährige Preisträger Henning
Ziebritzki nachträglich
noch für seinen Gedichtsband
„Vogelwerk“ geehrt werden.
Die Veranstaltung war 2020,
wie so vieles, durch Corona
verhindert worden.
Der Peter-Huchel-Preis für
deutschsprachige Lyrik wird
jeweils für einen im voran
gegangenen Jahr erschienen
Gedichtband vergeben, den
eine Jury als herausragend erachtet.
Während es mit dem
Tübinger Henning Ziebritzki
zuvor einen kaum bekannten
Autor traf, ist es diesmal der
schon vielfach ausgezeichnete
Marcel Beyer, der 1965 in
Tailfingen geboren wurde und
lange schon in Dresden lebt.
„Dämonenräumdienst“ ist ein
weiteres Kabinettstück seiner
Lyrik, im Jahr des Erscheinens
2020 von der Kritik allseits
hoch gelobt. Ein Höhepunkt
seiner Karriere war schon
der Georg-Büchner-Preis, der
ihm 2016 für ein Werk verliehen
wurde, welches Romane,
Gedichte und Essays enthält
und in nunmehr über drei
Jahrzehnten entstanden ist.
Ein ungewöhnliches, äußerst
eigenwilliges Werk ist es, in
dem die Welt auf wundersame
Weise bekannt erscheint und
durch eine kunstvolle, irisierende
Sprache surreal verwandelt
wird und neu betrachtet
werden will. Von Anfang an
setzte sich der Schriftsteller
und Dichter mit der deutschen
Geschichte, insbesondere mit
der NS-Zeit auseinander, mit
der Erinnerung an die eigene
Kindheit, an Mythen und
Märchen, die Stationen seiner
Sozialisation. Es ist immer ein
poetisches Nachspüren, durch
das auch der Irrsinn und Irrwitz
unserer Epoche zum Vorschein
kommt.
Mit seinem „Dämonenräumdienst“
bewegt sich Marcel
Beyer einmal mehr durch ein
anscheinend vertrautes, doch
letztlich vermintes Gelände.
Man gerät unversehens in
ein Zwielicht, wo Untote und
Wiedergänger herumirren,
Gespenster der Geschichte,
Gestalten der Popkultur und
manch traurig-komischer Held
(„Der Mann mit dem schiefen
Maul“). Es entstehen unheimliche
Szenerien, hervorgerufen
Peter-Huchel-Preisträger Marcel Beyer
durch das, was dem Dichter so
alles durch den Kopf geht und
geistert, womit er spielt und
frei assoziiert - was eben die
Suchmaschine in seinem Kopf
so alles hergibt („Mir glüht der
Schädel in allen Fasern...“).
Doch mit diesen Turbulenzen
geht Marcel Beyer sicher um
wie ein Zeremonienmeister,
der auf seine sprachliche Virtuosität
bauen kann. Was ebenfalls
ein Überborden verhindert,
ist eine gleichmäßig festgelegte
Form, in der die Poesie
wild wuchern kann. Alle Gedichte
sind vierzig Verszeilen
lang und in jeweils zehn vierzeilige
Strophen unterteilt. Das
schafft beim Durchblättern des
umfangreichen Buches einen
einheitlichen optisch-graphischen
Eindruck, ein Bild, das
aber Ordentlichkeit nur vortäuscht.
Denn: „Geister sind
das hier in deiner / Bude, deren
letzten Winkel / die Tchibo-
Taschenlampe nicht erfasst...“
Manchmal fühlt man sich
etwas hinters Licht geführt.
Ein Schabernack um uns zu
überlisten, die Dinge mit andern
Augen sehen zu sollen?
Doch viele der Gedichte bleiben
durch ihre Schrägheit, die
sprachlichen Verschränkungen
zunächst ziemlich unzugänglich.
Den wilden, grotesken
Vorgängen ist oftmals erst
durch wiederholtes Lesen beizukommen.
Die Wirklichkeit
Foto: SWR
wird hier nicht abgebildet,
sondern lustvoll und spielerisch
durcheinander gewirbelt
zu einer womöglich größeren
Kenntlichkeit oder Erkenntnis.
Stringenz muss hier nicht
unbedingt ein Kriterium, und
Poesie sowieso nicht vernünftig
oder politisch korrekt sein,
und das ist gut so. Mit seinen
kunstvollen, kühnen Spracheskapaden,
dem Jonglieren mit
sprachlichen Versatzstücken
und Verweisen auf Alltagsgegenstände
(„Ratansofa“) erschafft
Marcel Beyer eine ganz
eigene Welt, die bei aller Verquertheit
oder vielleicht gerade
dadurch, viel mit der unseren
zu tun hat. Sein „Dämonenräumdienst“
erweist sich als
ein Geschäft ohne Ende, denn
da geht es um die Entsorgung
von allerlei Sprach- und Zivilisationsmüll.
So heißt es in
dem Gedicht „Kosmos“: „...
ein Jahrzehnt nach dem andern
will / uns mit seinem Abfall unter
/ sich begraben, Großeltern,
Eltern / und Kind. Im Kopf der
ganze / Weltraumschrott aus
fernen vierzig / Jahren. Und
keiner räumt / etwas weg. Was
bleibt uns für eine / Wahl, wir
müssen ins All ...“
Doch bleiben wir auf dem
Boden, lassen wir uns ein aufs
irdische Treiben. Dort begegnen
wir dem Modedesigner
Rudolph Moshammer mit den
bekannten Stirnlocken, wie er
seinen Yorkshire Terrier Daisy
durch einen Münchner Abend
trägt, bis zu seinem bitteren
Ende. Oder Hildegard Knef,
die nach allerlei Verrichtungen
endlich im Regenmantel und
mit Sonnenbrille das Haus verlässt
und ins Auto steigt, um
nach Berchtesgaden zu ihrer
Wunderheilerin zu düsen. Und
noch viele andere Figuren aus
Vergangenheit und Gegenwart,
Populär- und Hochkultur geben
sich wie in einem Panoptikum
ein Stelldichein. Manchmal
tritt auch ein „lyrisches
Ich“ deutlich hervor, doch
gleich versteckt es sich wieder
hinter Masken und spricht, auf
Dämonenart, mit vielen Zungen.
Selbst Vertreter aus der
Tierwelt melden sich zu Wort,
ein Hund, ein Affe, sogar eine
Gemeine Küchenschabe. „Der
Dichter arbeitet als Reh / im
Innendienst...“, wird in dem
Gedicht „Bambi“ vermeldet.
Die Titel der Gedichte bezeichnen
zumeist nur die Namen
der Dinge, Themen, Tiere
und Pflanzen, um die es, mehr
oder weniger, geht. Immer
zuverlässig sind es außergewöhnliche
Betrachtungen, die
in unerhörte Zusammenhänge
gebracht werden. Selbstironisch
hofft der Dichter: „... ich
schreibe diese Gedichte / wie
ein Kind, das heimlich / tut
und einfach froh ist, wenn /
niemand mit ihm schimpft.
Unter den Texten, die dann
doch durch ihre Geschlossenheit
und Eindrücklichkeit
hervorzuheben sind, findet
sich neben dem „Moshammer“-
und dem Knef-Gedicht
(„Benzin“) eines mit dem Titel
„Schwermut“, das einen Sommer
im Leben des Heranwachsenden
beschreibt: „Ich lernte,
es ist nie zu spät für einen /
Neuanfang in Flandern. Ein
Bild aus / der Zuchtstation,
das man nicht vergisst: / Der
Blick des Fohlens Frantic,
hinter / Glas. Ich las in jenem
Sommer / Pferdekrimis, einen
nach dem andern.“ Auch
„Depot“ ist ein weiteres unter
jenen Gedichten, die sich besonders
einprägen. Da werden
wir mit hinunter genommen in
die Abstellkammer eines imaginären
Museums, wo Werke
lagern, „die kein Lebender /
je zu Gesicht bekommen hat,
für immer / ins Dunkel geschobene
Tafelbilder, ohne /
Blick verräumte Skizzen und
Studien...“ Darunter „Schongauers
erfrorene Hände, Goyas
ausgeschütteter Wein... „ Und
nicht zu vergessen: „Dieser
fein gezeichnete / Tausendfüßler,
vom siebenjährigen Goethe
/ mit dem Fingernagel in ein
Stück Schiefer / gekratzt: Nur
die Sprache noch kann sich / an
ihn klammern...“
Der Gedichtband ist in fünf
Kapitel unterteilt, besonders
im letzten ist Marcel Beyer
ganz in seinem Element. Es
ist ein Zyklus unter dem Titel
„Die Bunkerkönigin“, in dem
stufenweise abgetaucht wird in
die Untiefen deutscher Kriegsund
Nachkriegsgeschichte.
„Bei Nacht bin ich in den leeren
/ Bunker gestiegen. Ich
räume / auf vor dem inneren
Auge / und lasse die Moorbrühe
/ aus dem Betonboten sprudeln,
/ vergrabe die Finger im /
Moos, das die Wände rundum
/ überzieht. Ich phantasiere...“
Es ist ein gewissermaßen archäologisches
Graben, durch
das Zeitgeschichte, bei aller
Glitschigkeit, dinglich und
habhaft gemacht wird. Was
Marcel Beyer in diesen Phantasmagorien
zur Sprache
bringt, gehört zum Stärksten
dieses insgesamt außergewöhnlichen,
auf seine Art
unerschöpflichen Werks. Am
Ende stellt sich zum „Dämonenräumdienst“,
nimmt man
den Titel wortwörtlich, nur
noch die Frage: Treibt hier einer
seine Dämonen aus, oder
beschwört er sie erst herauf?
Ganz wie Goethes „Zauberlehrling“,
der die Geister rief
und sie nicht mehr los wurde?
Marcel Beyer: Dämonenräumdienst.
Gedichte. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2020. 173
Seiten, 23 Euro.
Peter Frömmig
Wolfgang Benz
Vom Vorurteil
zur Gewalt
ONLINE-Vortrag: Feindbilder
in Geschichte und Gegenwart
Mi. 5. Mai 20 Uhr
www.erwachsenenbildungfreiburg.de
Tel. 0761-70863-42