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16 KULTUR JOKER Kultour/Literatur

Ein Leben mit einem Zukunftsdefizit

Im Gespräch mit Georgi Gospodinov

Der bulgarische Schriftsteller

Georgi Gospodinov hat

als “eine einzigartige Stimme

der europäischen Literatur“

den Usedomer Literaturpreis

2021 gewonnen. „Sein Werk

– fragmentarisch, voller

Melancholie und Eindringlichkeit

– schöpft aus den

besten Traditionen mitteleuropäischer

Prosa mit ihrem

unbändigen Bedürfnis, aufeinanderfolgende

Schichten

menschlicher Erfahrung aufzudecken“,

rühmt die Jury

den Autor. Der mit 5.000

Euro dotierte Literaturpreis

beinhaltet auch einen vierwöchigen

Aufenthalt in der

wunderschönen Gegend der

Ostseeinsel Usedom, die mit

Maxim Gorki, Theodor Fontane

und Thomas Mann ihre

literarische Geschichte hat.

Georgi Gospodinov ist

der Autor von „Natürlicher

Roman“ und „Physik der

Schwermut“, 15 Gedichtbänden

und Theaterstücken,

Gewinner mehrerer europäischer

Preise und des PEN

American Translation Prize.

Seine Bücher wurden in

mehr als 25 Sprachen übersetzt.

Viktoria Balon hat Georgi

Gospodinov per Zoom

interviewt.

Kultur Joker: Was bedeutet

für Sie der Usedomer Literaturpreis?

Georgi Gospodinov: Es ist

ein sehr spezifischer Preis für

mich. Er wurde von einer Jury

vergeben, in der meine Lieblingsautorin

Literaturnobelpreisträgerin

Olga Tokarczuk

den Vorsitz hat. 2012 war sie

selbst eine der ersten Preisträgerin

in Usedom. Der zweite

Grund ist, dass all diese Autorinnen

und Autoren, die vor mir

diesen Preis erhalten haben,

wirklich gute Schriftsteller

sind und ich glaube wir teilen

in mancher Hinsicht dieselben

Gefühle und Anschauungen,

und sogar die Art des Schreibens.

Außerdem war es auch

das erste Mal, dass ich einen

Preis von einer Insel bekommen

habe.

Kultur Joker: Ihr neuer Roman

heißt „Времеубежище“- so

was etwa wie „Zeitschutzbunker“.

Schon wegen diesem

witzigen Namen würde ich ihn

lesen. Er ist leider noch nicht

ins Deutsche übersetzt. Können

Sie ein paar Worte über den

Plot sagen?

Gospodinov: Der Roman wurde

im April letzten Jahres

mitten im Lockdown veröffentlicht,

und es war eine sehr

spezielle Zeit, um so einen Roman

zu publizieren. Er handelt

von einem Charakter Namens

Gaustin, der auch in den anderen

Büchern von mir erscheint.

Und dieser hat nun die geniale

Idee, eine Klinik für die Vergangenheit

zu gründen und

dort die Räume für die 60er

oder für die 70er, 80er (usw.)

Jahre zu gestalten. Dies soll

Menschen mit Alzheimer heilen,

denn das Interior der Räume,

all die alte Musik, die Gerüche

usw. könnten die verloren

gegangenen Erinnerungen der

Alzheimer Patienten wieder

aufleben lassen. Eigentlich ist

es eine Art neue Therapie, aber

dann möchte Gaustin etwas

Größeres... Er gründet eine

ganze „Alzheimer-Stadt“ und

nicht nur für die Alzheimer

Patienten, sondern für alle

Leute, die in einem vergangenen

Zeitalter leben möchten.

Zum Beispiel in den 60er oder

70er, als das Leben glücklich

war. Es entstehen Städte

der Vergangenheit, und dann

kommt ein Moment, an dem die

europäischen Politiker ein Referendum

machen wollen, das

das glücklichste Zeitalter bestimmen

soll. Also sollten die

Leute aus den verschiedenen

Ländern, Deutschland, Frankreich,

Bulgarien, Schweden

usw. für das glücklichste Zeitalter

ihres Landes abstimmen.

Und das ist der Punkt an dem

sich der Roman als eine Art

Dystopie herausstellt, der ein

Leben mit einem Zukunftsdefizit

beschreibt. Schon jetzt ist

die Zukunft nicht mehr greifbar,

vermisst oder abgesagt.

Wir sind wie die Leute, die in

einem großen Flughafen stehen

und sehen: bei London, Berlin,

Sofia – überall nur „abgesagt“,

„abgesagt“ oder „verspätet“.

Das ist mein Gefühl für Europa

und die Welt in den letzten

Jahren: Es war eine Art Angst

in der Luft.

Kultur Joker: Was hat Sie zum

Schreiben Ihres neuen Buches

veranlasst?

Gospodinov: Ich begann mit

dem Schreiben meines Buches

vor etwa 5 Jahren und ich

wollte über dieses Zeitalter der

Angst berichten. Im Roman

gibt es einen Satz über das

Virus der Vergangenheit. „Das

Virus der Vergangenheit wird

kommen und es wird passieren

wie mit der Spanischen Grippe

1918.“ Ich denke die Situation,

in der wir jetzt leben, ist die

Grippe der Vergangenheit. Als

ich jung war, wurde uns eine

strahlende Zukunft versprochen.

Der Kommunismus war

mit einer strahlenden Zukunft

verbunden. Und die heutigen

populistischen Ideologien in

der Welt von Donald Trump

bis hin zu europäischen Populisten,

sind mit der Vergangenheit

verbunden. Sie versprechen

uns eine strahlende,

bessere Vergangenheit, um so

ruhmreich zu sein, wie wir

mal waren. Wir haben keine

Zukunft und wissen nicht, was

wir mit unserer Gegenwart voller

Angst anstellen sollen. Der

einzige Weg, den die Populisten

wissen, um ruhig zu leben, ist

zurück in die Vergangenheit.

Und das kann gefährlich sein!

Kultur Joker: Ich habe Sie vor

fast 15 Jahren interviewt, und

wir haben über die strahlende

Zukunft von Bulgarien in der

EU gesprochen, es gab viele

Zukunftsversprechungen...

Gospodinov: Ich bin sicher, es

war die richtige Entscheidung.

Es war gesund für Bulgarien,

ein Teil der EU zu sein. Aber

was ist nun in vielen europäischen

Ländern passiert? Es

gibt diese Art der Enttäuschung,

auch in Bulgarien,

aber ich denke Bulgarien ist

nicht das „worst-case scenario“

in seinem Gefühl für Europa.

Vor den Wahlen versuchen

die nationalistischen und populistischen

Parteien diese

Enttäuschung über Europa

auszunutzen, wie auch jetzt

bei den Wahlen in April. Trotz

allem denke ich, dass wir in

Bulgarien wissen, dass die EU

die beste Option ist.

Kultur Joker: Ist seit dem EU-

Beitritt Bulgariens das Interesse

an bulgarischer Literatur

gestiegen?

Gospodinov: Bezüglich der

Literatur und Kultur änderte

sich nach dem Beitritt in die

„Common Ground“

Geimeinsames literarisches Programm aus dem ehemaligen Jugoslawien zum Lesefest Leipzig liest extra der

Leipziger Buchmesse

Unter dem Titel „Common

Ground“ präsentiert sich in

den Jahren 2020 bis 2022 auf

der Leipziger Buchmesse die

Literatur aus Südosteuropa.

Die Buchmesse wurde zwei

Mal pandemiebedingt abgesagt,

jedoch soll ein virtuelles

Programm Literatur und Kultur

der Schwerpunktregion

vorstellen.

Das Lesefest Leipzig liest

extra findet vom 27. - 30. Mai

statt.

Beim „Literarischen Frühstück“

bringen ausgewählte

Autor*innen und Expert*innen

eine ganze Menge Lesestoff

aus Südosteuropa in die heimischen

Wohnzimmer. Jeden

Donnerstag wird ein neuer

Beitrag gesendet. Alle Beiträge

des Literarischen Frühstücks

finden Sie auch direkt

auf YouTube. Die Gespräche

sind auf Deutsch oder Englisch.

Der Videotitel verweist

darauf, in welcher Sprache

„gefrühstückt“ wird. https://

traduki.eu/literarisches-fruehstueck/

„Literarischer Nerd „erliest“

Südosteuropa“. Jeden

ersten Montag des Monats

treffen sich Florian Valerius,

bekannt als Literarischer Nerd,

und Hana Stojić zum lockeren

Austausch über ausgewählte

Bücher. https://traduki.eu/

common-ground/literarischernerd-erliest-suedosteuropa/

Archipel Jugoslawien

Der Zerfall Jugoslawiens,

der vor 30 Jahren begann,

haben 15 Autoren und Autorinnen

aus Südosteuropa in

bewegenden persönlichen

Essays verarbeitet. Sie geben

auch ihre Prognosen, wie eine

Zukunft Südosteuropas aussehen

könnte. Sechs dieser Texte

sind auf Frankfurter Allgemeine

online präsentiert.https://

www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/archipel-jugoslawien/

Weitere Essays werden

wöchentlich bis Ende Mai auf

der „Common Ground“-Website

eingestellt. https://traduki.

eu/common-ground/

Buchtipps:

Angel Igov: „Die Sanftmütigen“

aus dem Bulgarischen:

Andreas Tretner. eta Verlag;

Preis der Leipziger Buchmesse

2020 in der Kategorie Übersetzung.

„Die Sanftmütigen“ greift

ein historisches Tabu auf: Die

sogenannten „Volksgerichte“

von 1944/45, die die früheren

Machthaber in Schauprozessen

nach Moskauer Vorbild aburteilten.

Mit viel Witz erzählt

Angel Igov, wie der proletarische

Jungpoet aus der Provinz

erst zum Mitläufer, dann

zum Kader und Ankläger am

bulgarischen Volksgericht im

Dienste des neuen Terrorregimes

wird.

Kapka Kassabova: „Am

See“ aus dem Englischen:

Brigitte Hilzensauer. Zsolnay

Verlag.

Die bulgarisch-neuseeländische

Schriftstellerin Kapka

Kassabova folgt am Ohridsee

den Spuren ihrer Familie

und macht die Konflikte von

Nationalstaaten in diesem

Winkel Europas, der zwischen

Nordmazedonien, Albanien

und Griechenland aufgeteilt

ist, sichtbar.

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