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4 KULTUR JOKER THEATER Theater

Wenig Requisiten, dafür aber viel Gefühl

Junges Theater Freiburg zeigt furiose Premiere von

„Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte“ nach dem Debütroman Dita Zipfels

Clara Schulze-Wegener

Foto: Marc Doradzillo

Dita Zipfels 2020 mit dem

Deutschen Jugendliteraturpreis

ausgezeichneter Debütroman

„Wie der Wahnsinn mir die

Welt erklärte“ ist ein Fantasiestrotzendes,

grandios-durchgeknalltes

Abenteuer. Jetzt feierte

die Bühnenadaption von Benedikt

Grubel und Michael Kaiser

(Regie: Benedikt Grubel)

vom Jungen Theater Freiburg

im Werk-raum per Livestream

furiose Premiere.

Zoom auf eine rosafarbene,

wirbelnde Masse, die sich als

Smoothie im Mixer herausstellt,

dazu ein gekachelter

Küchen-Laborblock mit Utensilien

neben einer Gitterwand,

von der Obst und Gemüse

baumelt (Bühne und Kostüme:

Caroline Stauch). „Kochen für

Killer!“ wird Christoph Kopp

als grantig-verrückter Herr

Klinge später in dieser Kulisse

zu stampfenden Synthesizer-

Rhythmen (Musik: Jan Paul

Werge) grölen – aber noch gibt

er neben Clara Schulze-Wegener

als umwerfend lebendige

Lucie den Erzähler.

Ein Salatkopf – Lucies angespannte,

gefühlsverwirrte

Mama, eine Lauchstange – deren

neuer, schmierig-verspulter

Esoterik-Lover Michi. Der

jüngere, in einem Wut-Kokon

gefangene Bruder – ein modrig

müffelnder Fenchel. Im Spagat

zwischen Erzähl – und Objekttheater

werden die Protagonisten

dieser Geschichte vorgestellt,

Lucies anthropologische

Studien zu ihren Mitmenschen

zeigt ein Wandplakat. Auf die

Leinwand wird ihr Goldenes

Ticket in die Freiheit per Kamera

projiziert: „Gassigehen – 20

Euro die Stunde“, verspricht der

Supermarkt-Aushang. Nur wenige

Tage und die Zwölfjährige

kann ihrem nervigen Zuhause

mit einem Ticket nach Berlin

zu Mamas Ex-Freundin Bernie

entkommen!

Gruselmusik, grün-blaues

Dämonenlicht (Frederik Menzel)

und Lucie landet vor Herrn

Klinges Haustür: „Keine Mädchen!“

schnaubt es hinter der

Kachelwand, dann schießt ein

Metallgreifer aus einer Klappe

und schnappt Lucie den

Smoothie aus der Hand. Bizarr!

Mit riesiger Sonnenbrille

und Bademantel fegt Christoph

Kopp wie ein Rumpelstilzchen

über die Bühne – sein alter

Klinge hat ganz offensichtlich

einen Mega-Knall samt Verfolgungswahn.

Einen Hund gibt es

keinen, stattdessen wird Lucie

die Ghostwriterin für die „Enzyklopädie

der Wunderwesen“

dieses verrückten Hexenmeisters,

für den Tomaten Drachenherzen

und Auberginen

Hexenlebern sind.

Wie Lucie daraus dann Liebesketchup

mixt, wie sich die

Ereignisse zuhause, im Freibad,

Friedhof und Supermarkt

überschlagen, das spielen

Clara Schulze-Wegener und

Christoph Kopp großartig in

wechselnden Rollen, mit wenig

Requisiten, aber viel Gefühl,

Tempo und überbordender Energie.

Dabei gibt es wilde und

zarte Momente, viel Slapstick

und eine Botschaft: „Wenn man

bedenkt, dass wir alle verrückt

sind, ist das Leben erklärt…“

– Ein ebenso spannendes wie

vielschichtiges Stück, für das

es am Ende viele Chat-Smileys

statt Applaus gibt.

„Wie der Wahnsinn mir die

Welt erklärte“, Junges Theater

Freiburg unter: www.dringeblieben.de.

Ab 12 Jahren

Marion Klötzer

„Verzweifelt nicht!“

Die Immoralisten zeigen ihr Streaming-Projekt „1665 – Das Jahr der Pest“

Angst und Tod wegen einer

Krankheit, die sich sprunghaft

über Grenzen hinweg ausbreitet

und das gesamte öffentliche

Leben zum Erliegen bringt –

Corona ist nicht die erste Pandemie,

von der die Menschheit

gebeutelt wird. Spannend, da

einen Blick zurück zu werfen

und auf Zeitreise zu gehen.

Mit ihrem von Stadt und Land

geförderten Streaming-Projekt

„1665 – Das Jahr der Pest“ entführen

die Immoralisten jetzt in

das Leben von Samuel Pepys,

ein Londoner Angestellter des

Flottenministeriums und leidenschaftlicher

Tagebuchschreiber.

Seinen offenherzigen Aufzeichnungen

ist es zu verdanken, dass

KULTUR-JOKER-BUCHCLUB

Instagram: kulturjoker

Unser Buch im Mai:

Allegro Pastell!

Der viel gelobte und

kontrovers diskutierte

Roman von Leif Randt

ist so nah an seiner Zeit,

wie es Faserland in den

Neunzigern war. Eine

Lovestory direkt aus dem

Jetzt und eine präzise Bestandsaufnahme

unserer

Gegenwart. Soziologisch,

intelligent und on point

cool.

der Transfer ins Hier und Jetzt

funktioniert und sich ein guter

Geist aus der Geschichte an uns

Nachgeborene wendet. Die Parallelen

sind da so verblüffend

wie berührend.

Der halbstündige Theatermonolog

von Florian Wetter (Neu-

Übersetzung, Arrangement

und Schauspiel) und Manuel

Ab Freitag, 30. April,

diskutieren wir Kapitel

Eins: Frühling 2018 auf

unserem Instagramaccount

@kulturjoker.

Alle Leseabschnitte folgen

wöchentlich auf Instagram.

Wir freuen uns auf

den gemeinsamen Austausch!

Kreitmeier (Idee und Regie) beamt

die Zuschauer nach einem

schwarz-weiß-gestrichelten

Intro, das leergefegte, mittelalterliche

Straßen und strömende

Ratten zeigt, in ein behaglich

mit Kerzenlicht ausgeleuchtetes

Zimmer. Im Vordergrund ein

Schreibtisch, dahinter Vorhänge

und Möbel. Auch diese Szene

kennen wir. Nur liegt bei den

wenigsten von uns ein Schädel

herum, während wir abends vor

dem Monitor sitzen und mit der

Welt kommunizieren. Weiß auf

schwarzem Grund wird nun das

Datum des 1. Januars eingespielt,

dann sitzt uns Samuel Pepys

live gegenüber. Er trägt Perücke

und ist nur bis zur Brust zu sehen,

Bewegung und Schauspiel

sind da nur begrenzt möglich.

Doch Florian Wetter blickt und

spricht direkt in die Kamera,

seine Figur entwickelt dank

ausdrucksstarker Mimik und

Rede sofort Präsenz (Kamera

und Animation: Chris Meiser.

Schnitt: Marie Hopermann).

Der Spannungsbogen dieses

chronologisch, mit knappen

Tagebucheinträgen erzählten

Jahres 1665 ist gewaltig: Von

lustig geschlemmter Trüffelpastete

am Neujahrstag, dem

Tod des Kanarienvogels und

allerhand beruflichen, kulturellen

und amourösen Erlebnissen

plätschert das erst amüsant

und interessant dahin. Dann

der 10. Juni: „Die Pest ist in

die Stadt gekommen“. Pepys

selbst und seine Familie bleiben

verschont, er wird zum

erst ängstlichen, dann zunehmend

beherzten Beobachter.

So berichtet er von überfüllten

Friedhöfen, verriegelten Häusern

und abgesperrten Parks,

liefert wachsende Todeszahlen

und findet aus Verzweiflung

und Angst zur Demut vor der

eigenen Vergänglichkeit. Irgendwann

siegt die Hoffnung:

Der strenge Winterfrost lässt

das Wüten der Pest abnehmen,

das Leben kehrt zurück. – Die

Botschaft von einem, der privilegiert,

aber wach und empathisch

nicht nur eine Pandemie,

sondern auch deren Ende bezeugt:

Genießt das Leben, seid

dankbar, verzweifelt nicht!

Stream unter: www.immoralisten.de

Marion Klötzer

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