flip-Joker_2021-05
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4 KULTUR JOKER THEATER Theater
Wenig Requisiten, dafür aber viel Gefühl
Junges Theater Freiburg zeigt furiose Premiere von
„Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte“ nach dem Debütroman Dita Zipfels
Clara Schulze-Wegener
Foto: Marc Doradzillo
Dita Zipfels 2020 mit dem
Deutschen Jugendliteraturpreis
ausgezeichneter Debütroman
„Wie der Wahnsinn mir die
Welt erklärte“ ist ein Fantasiestrotzendes,
grandios-durchgeknalltes
Abenteuer. Jetzt feierte
die Bühnenadaption von Benedikt
Grubel und Michael Kaiser
(Regie: Benedikt Grubel)
vom Jungen Theater Freiburg
im Werk-raum per Livestream
furiose Premiere.
Zoom auf eine rosafarbene,
wirbelnde Masse, die sich als
Smoothie im Mixer herausstellt,
dazu ein gekachelter
Küchen-Laborblock mit Utensilien
neben einer Gitterwand,
von der Obst und Gemüse
baumelt (Bühne und Kostüme:
Caroline Stauch). „Kochen für
Killer!“ wird Christoph Kopp
als grantig-verrückter Herr
Klinge später in dieser Kulisse
zu stampfenden Synthesizer-
Rhythmen (Musik: Jan Paul
Werge) grölen – aber noch gibt
er neben Clara Schulze-Wegener
als umwerfend lebendige
Lucie den Erzähler.
Ein Salatkopf – Lucies angespannte,
gefühlsverwirrte
Mama, eine Lauchstange – deren
neuer, schmierig-verspulter
Esoterik-Lover Michi. Der
jüngere, in einem Wut-Kokon
gefangene Bruder – ein modrig
müffelnder Fenchel. Im Spagat
zwischen Erzähl – und Objekttheater
werden die Protagonisten
dieser Geschichte vorgestellt,
Lucies anthropologische
Studien zu ihren Mitmenschen
zeigt ein Wandplakat. Auf die
Leinwand wird ihr Goldenes
Ticket in die Freiheit per Kamera
projiziert: „Gassigehen – 20
Euro die Stunde“, verspricht der
Supermarkt-Aushang. Nur wenige
Tage und die Zwölfjährige
kann ihrem nervigen Zuhause
mit einem Ticket nach Berlin
zu Mamas Ex-Freundin Bernie
entkommen!
Gruselmusik, grün-blaues
Dämonenlicht (Frederik Menzel)
und Lucie landet vor Herrn
Klinges Haustür: „Keine Mädchen!“
schnaubt es hinter der
Kachelwand, dann schießt ein
Metallgreifer aus einer Klappe
und schnappt Lucie den
Smoothie aus der Hand. Bizarr!
Mit riesiger Sonnenbrille
und Bademantel fegt Christoph
Kopp wie ein Rumpelstilzchen
über die Bühne – sein alter
Klinge hat ganz offensichtlich
einen Mega-Knall samt Verfolgungswahn.
Einen Hund gibt es
keinen, stattdessen wird Lucie
die Ghostwriterin für die „Enzyklopädie
der Wunderwesen“
dieses verrückten Hexenmeisters,
für den Tomaten Drachenherzen
und Auberginen
Hexenlebern sind.
Wie Lucie daraus dann Liebesketchup
mixt, wie sich die
Ereignisse zuhause, im Freibad,
Friedhof und Supermarkt
überschlagen, das spielen
Clara Schulze-Wegener und
Christoph Kopp großartig in
wechselnden Rollen, mit wenig
Requisiten, aber viel Gefühl,
Tempo und überbordender Energie.
Dabei gibt es wilde und
zarte Momente, viel Slapstick
und eine Botschaft: „Wenn man
bedenkt, dass wir alle verrückt
sind, ist das Leben erklärt…“
– Ein ebenso spannendes wie
vielschichtiges Stück, für das
es am Ende viele Chat-Smileys
statt Applaus gibt.
„Wie der Wahnsinn mir die
Welt erklärte“, Junges Theater
Freiburg unter: www.dringeblieben.de.
Ab 12 Jahren
Marion Klötzer
„Verzweifelt nicht!“
Die Immoralisten zeigen ihr Streaming-Projekt „1665 – Das Jahr der Pest“
Angst und Tod wegen einer
Krankheit, die sich sprunghaft
über Grenzen hinweg ausbreitet
und das gesamte öffentliche
Leben zum Erliegen bringt –
Corona ist nicht die erste Pandemie,
von der die Menschheit
gebeutelt wird. Spannend, da
einen Blick zurück zu werfen
und auf Zeitreise zu gehen.
Mit ihrem von Stadt und Land
geförderten Streaming-Projekt
„1665 – Das Jahr der Pest“ entführen
die Immoralisten jetzt in
das Leben von Samuel Pepys,
ein Londoner Angestellter des
Flottenministeriums und leidenschaftlicher
Tagebuchschreiber.
Seinen offenherzigen Aufzeichnungen
ist es zu verdanken, dass
KULTUR-JOKER-BUCHCLUB
Instagram: kulturjoker
Unser Buch im Mai:
Allegro Pastell!
Der viel gelobte und
kontrovers diskutierte
Roman von Leif Randt
ist so nah an seiner Zeit,
wie es Faserland in den
Neunzigern war. Eine
Lovestory direkt aus dem
Jetzt und eine präzise Bestandsaufnahme
unserer
Gegenwart. Soziologisch,
intelligent und on point
cool.
der Transfer ins Hier und Jetzt
funktioniert und sich ein guter
Geist aus der Geschichte an uns
Nachgeborene wendet. Die Parallelen
sind da so verblüffend
wie berührend.
Der halbstündige Theatermonolog
von Florian Wetter (Neu-
Übersetzung, Arrangement
und Schauspiel) und Manuel
Ab Freitag, 30. April,
diskutieren wir Kapitel
Eins: Frühling 2018 auf
unserem Instagramaccount
@kulturjoker.
Alle Leseabschnitte folgen
wöchentlich auf Instagram.
Wir freuen uns auf
den gemeinsamen Austausch!
Kreitmeier (Idee und Regie) beamt
die Zuschauer nach einem
schwarz-weiß-gestrichelten
Intro, das leergefegte, mittelalterliche
Straßen und strömende
Ratten zeigt, in ein behaglich
mit Kerzenlicht ausgeleuchtetes
Zimmer. Im Vordergrund ein
Schreibtisch, dahinter Vorhänge
und Möbel. Auch diese Szene
kennen wir. Nur liegt bei den
wenigsten von uns ein Schädel
herum, während wir abends vor
dem Monitor sitzen und mit der
Welt kommunizieren. Weiß auf
schwarzem Grund wird nun das
Datum des 1. Januars eingespielt,
dann sitzt uns Samuel Pepys
live gegenüber. Er trägt Perücke
und ist nur bis zur Brust zu sehen,
Bewegung und Schauspiel
sind da nur begrenzt möglich.
Doch Florian Wetter blickt und
spricht direkt in die Kamera,
seine Figur entwickelt dank
ausdrucksstarker Mimik und
Rede sofort Präsenz (Kamera
und Animation: Chris Meiser.
Schnitt: Marie Hopermann).
Der Spannungsbogen dieses
chronologisch, mit knappen
Tagebucheinträgen erzählten
Jahres 1665 ist gewaltig: Von
lustig geschlemmter Trüffelpastete
am Neujahrstag, dem
Tod des Kanarienvogels und
allerhand beruflichen, kulturellen
und amourösen Erlebnissen
plätschert das erst amüsant
und interessant dahin. Dann
der 10. Juni: „Die Pest ist in
die Stadt gekommen“. Pepys
selbst und seine Familie bleiben
verschont, er wird zum
erst ängstlichen, dann zunehmend
beherzten Beobachter.
So berichtet er von überfüllten
Friedhöfen, verriegelten Häusern
und abgesperrten Parks,
liefert wachsende Todeszahlen
und findet aus Verzweiflung
und Angst zur Demut vor der
eigenen Vergänglichkeit. Irgendwann
siegt die Hoffnung:
Der strenge Winterfrost lässt
das Wüten der Pest abnehmen,
das Leben kehrt zurück. – Die
Botschaft von einem, der privilegiert,
aber wach und empathisch
nicht nur eine Pandemie,
sondern auch deren Ende bezeugt:
Genießt das Leben, seid
dankbar, verzweifelt nicht!
Stream unter: www.immoralisten.de
Marion Klötzer