Roth Journal_2021_06_01-28.red
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RATGEBER GESUNDHEIT<br />
ADHS bei Erwachsenen<br />
«Im Kopf ist ständig Turbo»<br />
Berlin - Was andere aufputscht, bringt<br />
Christian Krohn etwas runter. «Ich kann<br />
mit Kaffee im Körper schlafen, das macht<br />
mir überhaupt nichts aus. Das beruhigt<br />
mich eher», sagt der 52-Jährige aus Berlin.<br />
Christian Krohn hat ADHS. Vor zwei Jahren<br />
bekam er die Diagnose. Menschen<br />
mit ADHS reagieren auf stimulierende<br />
Substanzen anders als Menschen ohne<br />
die Störung. Koffein, Nikotin und Amphetamine<br />
wirken bei ihnen nicht anregend,<br />
sondern eher beruhigend. Das liegt daran,<br />
dass ihr Gehirn anders funktioniert. Zum<br />
Beispiel sind im Vergleich zu Menschen<br />
ohne ADHS verschiedene Neurotransmitter<br />
nicht im Gleichgewicht, insbesondere<br />
Dopamin und Noradrenalin. Diese steuern<br />
unter anderem Antrieb und Motivation.<br />
Hyperaktivität zählt neben Konzentrationsschwierigkeiten<br />
und Impulsivität zu<br />
Kernsymptomen von ADHS - sie steckt<br />
auch schon im Namen: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung.<br />
Wie stark<br />
und auf welche Art und Weise die Symptome<br />
bei den Betroffenen ausgeprägt<br />
sind, ist sehr individuell. Während manche<br />
ohne Probleme durch ihr Leben kommen<br />
und ihre ADHS vielleicht gar nicht bemerken,<br />
ist der Leidensdruck bei anderen größer.<br />
Zum Teil wird ADHS außerdem immer<br />
noch als Kinderkrankheit wahrgenommen,<br />
kritisieren Expertinnen und Experten. Dabei<br />
nehmen viele Kinder die Störung mit<br />
ins Erwachsenenalter - und mitunter wird<br />
sie überhaupt erst dann diagnostiziert.<br />
Gedanke jagt den nächsten. «Im Kopf ist<br />
ständig Turbo», sagt er. «Wie bei einem<br />
Motor, der mit einer hohen Drehzahl<br />
läuft.» Wenn er ein Thema oder eine Aufgabe<br />
gefunden hat, woran er wirklich Interesse<br />
hat, ist der «Turbo-Gang» natürlich<br />
von großem Vorteil. Hyperfokus nennen<br />
Experten dieses Phänomen.<br />
«Ich liebe diesen Teil der ADHS. Ich kann<br />
in solchen Momenten dauerhaft konzentriert<br />
arbeiten und Höchstleistungen erbringen,<br />
ohne dass es mich anstrengt»,<br />
sagt Krohn. Lange war er Unternehmensberater<br />
und später für Siemens im Bereich<br />
Strategie und Business Development tätig.<br />
Mittlerweile hat er sich erfolgreich selbstständig<br />
gemacht. Krohn sagt: «ADHS'ler<br />
sind oft sehr offene, sonnige und begeisterungsfähige<br />
Menschen. Viele haben es<br />
nicht trotz ihrer ADHS, sondern gerade<br />
wegen ihres großen inneren Antriebs und<br />
ihrer Risikobereitschaft so weit gebracht.»<br />
Prominente, die ihre ADHS öffentlich gemacht<br />
haben, sind etwa Moderator und<br />
Arzt Eckart von Hirschhausen, Sänger<br />
und Schauspieler Justin Timberlake und<br />
US-Turn-Olympiasiegerin Simone Biles.<br />
Unterschiede zwischen<br />
Kindern und Erwachsenen<br />
Während bei Kindern die Hyperaktivität<br />
oft äußerlich sichtbar ist, weil sie nicht still<br />
sitzen können, ist die Unruhe bei Erwachsenen<br />
eher nach innen gerichtet. Zudem<br />
gibt es auch Formen von ADHS, bei der die<br />
Hyperaktivität als Symptom gar nicht auftritt.<br />
«Es gibt nicht den ADHS-Patienten»,<br />
sagt die Psychiaterin und Neurologin Johanna<br />
Krause. Sie hat mit ihrem Mann Anfang<br />
der 2000er Jahre ein Standardwerk<br />
zu ADHS im Erwachsenenalter geschrieben<br />
und setzt sich dafür ein, dass ADHS<br />
bei Erwachsenen richtig diagnostiziert und<br />
behandelt wird. «Es hat lange gedauert,<br />
bis sich die Fachwelt davon verabschiedet<br />
hat, ADHS nur einseitig als Kinderkrankheit<br />
zu sehen», erklärt sie. «Teilweise ist<br />
das immer noch nicht richtig angekommen,<br />
es gibt viel zu wenig Ärzte, die sich<br />
mit dem Thema richtig gut auskennen.»<br />
Je nach Studie wird bei 3 bis 6 Prozent aller<br />
Kinder ADHS diagnostiziert, bei Jungen<br />
häufiger als bei Mädchen. Etwa die Hälfte<br />
von ihnen nimmt ADHS mit ins Erwachsenenleben.<br />
Aufwendige Diagnostik<br />
«Die Diagnostik bei ADHS ist zwar zuverlässig,<br />
aber auch sehr aufwendig. Es müssen<br />
Fragebögen ausgefüllt und ausführliche<br />
Gespräche geführt werden», sagt Felix<br />
Betzler. Der Facharzt für Psychiatrie und<br />
Psychotherapie leitet die ADHS-Sprechstunde<br />
für Erwachsene an der Charité<br />
Berlin. Es wird bei der Diagnostik unter<br />
anderem in die Kindheit und auf das Familienumfeld<br />
geschaut. So kommt es nicht<br />
selten vor, dass es in der Familie mehr als<br />
einen Betroffenen gibt.<br />
Häufiger haben ADHS-Patienten auch De-<br />
>>><br />
Blind für die Zeit<br />
So wie bei Christian Krohn. Er hat vor allem<br />
mit sogenannter «Time-Blindness» zu<br />
kämpfen, ist also quasi zeitblind. «Ich lebe<br />
immer im Jetzt», sagt er. Termine zu organisieren,<br />
an Geburtstage zu denken oder<br />
Deadlines einzuhalten, das alles fällt ihm<br />
sehr schwer.<br />
Auch die ADHS-typische Impulsivität hat<br />
er bereits an sich beobachtet. «Ich bin<br />
oft ungeduldig. Mir fällt es schwer, Leute<br />
ausreden zu lassen. Außerdem bin ich Impulskäufer.»<br />
Wenn der Kopf in den Turbo-Gang schaltet<br />
Zudem spürt Krohn dauerhaft große innere<br />
Unruhe und Anspannung in sich - ein<br />
Man sieht es ihm nicht an, aber ADHS-Patient Christian Krohn spürt dauerhaft große innere Unruhe und Anspannung.<br />
Foto: Zacharie Scheurer/dpa-mag<br />
<strong>06</strong> | <strong>2021</strong><br />
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