AM PULS COVERSTORY ► Jedes fünfte Kind ist arm Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt. Trotzdem leben 350.000 Kinder und Jugendliche hierzulande in Armut. Die Corona-Pandemie mit Lockdowns, Schulschließungen und Anstieg der Arbeitslosigkeit hat die Situation für die Betroffenen zusätzlich verschlechtert. Von Bernhard Salzer 16 doktor in wien <strong>07</strong>_08_<strong>2021</strong>
COVERSTORY AM PULS Foto: Violetastock/iStock ► Eigentlich sollte Kinderarmut in Österreich im 21. Jahrhundert kein Thema mehr sein. Leider ist dem aber nicht so. Kinderarmut verschwindet nicht, vielmehr ist es umgekehrt, sie wächst. 350.000 Kinder und Jugendliche sind in Österreich von Armut betroffen. Das ist mehr als jedes fünfte Kind in einem der reichsten Länder der Welt. Im Jahr 2019 haben die Volkshilfe Österreich und die Ärztekammer für Wien gemeinsam Ärztinnen und Ärzte über den Zusammenhang von Kinderarmut und Kindergesundheit befragt. Das wenig überraschende Ergebnis der Umfrage: Armut im Kindesalter führt zu deutlich höheren Gesundheitsrisiken. Denn in Armut aufwachsen bedeutet nicht nur, dass es Kindern an materiellen Dingen mangelt. Es kann auch bedeuten, mit einem geringeren Geburtsgewicht zur Welt zu kommen, bei Schuleintritt eine geringere Körpergröße zu haben, oder häufiger in Unfälle verwickelt zu sein und letztendlich sind die armen Kinder von heute die chronisch Kranken von morgen. Kein Roller, keine Nachhilfe Generell gilt: Kinder, die in Armut leben, erkranken öfter physisch und psychisch, zeigen vermehrt Störungen in ihrer Entwicklung, neigen durch schlechtere Ernährung verstärkt zu Adipositas und anderen Folgeerkrankungen wie Diabetes oder Haltungsschäden, sterben um fünf bis acht Jahre früher als die Durchschnittsbevölkerung und sind stärker suizidgefährdet. Sie fühlen sich zudem weniger leistungsfähig, was sie in der Schule benachteiligt. Auch bei der Ernährung müssen armutsbetroffene Haushalte aus Kostengründen den Schwerpunkt öfter auf Quantität statt auf die qualitative Auswahl von Lebensmitteln legen: So ist der Anteil der Kinder, die nur Toastbrot essen, in armutsbetroffenen Familien vor allem zu Monatsende höher. Kinder aus Familien mit niedrigem Haushaltseinkommen bewegen sich auch weniger, weil sich ihre Eltern keine Sport- und Freizeitgeräte, wie Roller oder Fahrräder, leisten können – das betrifft rund ein Zehntel aller österreichischen Haushalte. Die Hälfte der armutsgefährdeten Familien kann sich auch keinen Nachhilfeunterricht für ihre Kinder leisten. Generell leiden armutsbetroffene Kinder häufiger unter psychosomatischen Symptomen, wie verminderter Konzentrationsfähigkeit, erhöhter Müdigkeit, Nervosität, Aggressivität oder depressivem Verhalten und sie sind zusätzlich stärker von Mobbing betroffen. Auch in der Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen finden sich Ungleichheiten. Etwa, wenn es um kostenpflichtige Behandlungen und Behelfe für Kinder, um Selbstbehalte bei Therapiekosten, Sehbehelfe oder auch um nicht verschreibungspflichtige Medikamente geht. All das stellt eine massive Herausforderung für armutsbetroffene Familien dar. Corona hat alles verschärft Die Corona-Krise spitzte den Zusammenhang von Armut und Gesundheit noch weiter zu und war vor allem für Kinder eine enorme Belastung. Denn die Pandemie mit all ihren negativen Begleitmaßnahmen, angefangen bei den Lockdowns, über Schulschließungen, bis zu den Einschränkungen bei sozialen Kontakten hat die Situation für Kinder und Jugendliche aus armutsbetroffenen Familien verschärft und deren Lebenslage deutlich verschlechtert, wie aus einer aktuellen Studie der Volkshilfe Österreich hervorgeht. Während der ersten Welle wurden ihre Bedürfnisse und Sorgen kaum beachtet. Erst mit der zweiten Welle kam es zu einem Umdenken. Auch weil Ärztinnen und Ärzte darauf hingewiesen haben, dass insbesondere die psychische Gesundheit von Kindern massiv unter der Corona-Krise und den mit ihr einhergehenden Maßnahmen leidet. Doch die Belastungen sind unter den Kindern ungleich verteilt. Armutsbetroffene Kinder litten etwa besonders unter der Umstellung auf Distance Learning – auch bedingt durch meist enge und schlechte Wohnsituationen sowie wegen unzureichender technischer Hilfsmittel. Lage ist desaströs In Armut aufwachsen bedeutet nicht nur, dass es Kindern an materiellen Dingen mangelt. Aus der Volkshilfe-Studie geht unter anderem auch hervor, dass 60 Prozent der armutsbetroffenen Kinder einsamer als vor der Corona-Krise sind. Doppelt so viele armutsbetroffene Eltern bewerten die Lebensqualität ihrer Kinder nach rund einem Jahr Pandemie mit einem Nicht Genügend und 20 Prozent der Eltern stufen die Lage ihrer Kinder als desaströs ein. Die Corona-Krise hat in Summe den Zusammenhang von Kinderarmut und Gesundheit noch weiter verschlechtert. Um langfristige Folgen aus dieser negativen Entwicklung möglichst abzufangen, muss gegengesteuert werden. Die Volkshilfe Österreich hat dafür einen Maßnahmenkatalog mit 30 Forderungen erstellt, der unter anderem folgende Punkte enthält: •Anhebung des BIP-Anteils für Gesundheitsausgaben auf mindestens 12 Prozent und Erhöhung der finanziellen Mittel für Gesundheitsprävention bei Kindern. •Einführung einer Kindergrundsicherung, um Kinderarmut nachhaltig zu beenden. •Verlängerung der Familienbeihilfe bis zum 26. Lebensjahr für junge Erwachsene, die sich in einer Ausbildung befinden. •Finanzielle Absicherung der Eltern über die Erhöhung des Arbeitslosengeldes, die Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld und eine erhöhte Mindestsicherung im Kontext der Corona-Krise und ihrer wirtschaftlichen Nachwirkungen. •Rascher Ausbau der Krankenkassenplätze für Psychotherapie für Kinder und Jugendliche. •Kostenfreiheit für alle Maßnahmen zur Mund- und Zahngesundheit bei Behandlungen Minderjähriger. •Ausbau der stationären Therapieund Behandlungsplätze für Kinder und Jugendliche im Bereich Essstörungen und psychische Gesundheit. •Flächendeckender Ausbau kostenfreier Kinderbetreuungseinrichtungen, insbesondere für Kinder unter drei Jahren. Die Öffnungszeiten müssen eine Vollzeitbeschäftigung ermöglichen. Ausbau der Nachmittagsbetreuung. •Einführung einer Ganztags-/Gesamtschule für alle 6- bis 14-jährigen, um die strukturelle Diskriminierung von armutsbetroffenen Kindern abzumildern. •Ausbau der Gesundheitsbetreuung im schulischen Bereich. •Kostenfreies Angebot für Frühstück und warmes, gesundheitsförderndes Mittagessen in Kindergarten und Schule für alle Kinder und Jugendlichen. •Ausbau der Jugendberatungsstellen. <strong>07</strong>_08_<strong>2021</strong> doktor in wien 17