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Lange Zeit stieg der IQ in den Industrienationen um 0,3 Punkte pro Jahr an; mittlerweile stagniert er dort jedoch, und in manchen Ländern sinkt der Wert inzwischen sogar. In anderen Ländern entfaltet der „Flynn-Effekt“ nach wie vor seine Wirkung. Die Gründe sind noch nicht abschließend geklärt. Der Flynn-Effekt zeigt jedoch, warum IQ-Tests von Zeit zu Zeit neu normiert werden sollten – zumindest, solange der Flynn-Effekt noch wirksam ist. 1987 Der Psychologieprofessor Detlef Rost startet das Marburger Hochbegabtenprojekt – eine Längschnittstudie, die sich mit der Entwicklung von Hochbegabten und Hochleistern im Kindes- und Jugendalter beschäftigt. Bis heute gilt die Studie als methodisch vorbildlich, da sie auf einer großen Stichprobe basiert, im Gegensatz zur Terman-Studie keine Vorauswahl getroffen wurde und den Teilnehmenden ihr Testergebnis nicht mitgeteilt wurde. Rosts Ergebnisse bestätigen im Wesentlichen die „Harmoniehypothese“, die besagt, dass Hochbegabte entgegen dem Klischee durchschnittlich Begabten in sozialer und emotionaler Hinsicht keineswegs unterlegen sind. Die Daten der inzwischen erwachsenen Teilnehmenden werden weiterhin ausgewertet. 1993 Der Psychologe und Psychometriker John C. Carroll erzielt einen weiteren Durchbruch in der Beschreibung der Intelligenzstruktur: Mithilfe der Faktorenanalyse und einer großen Zahl von Datensätzen gelingt es ihm, Intelligenz als hierarchisches Konstrukt zu beschreiben. An der Spitze der Hierarchie (Stratum III) steht die allgemeine Intelligenz (Spearmans General- oder g-Faktor), gefolgt von den Gruppenfaktoren auf Stratum II, die spezifischere Fähigkeiten, etwa logisches Schlussfolgern, Geschwindigkeit oder auditive Fähigkeiten, zusammenfassen. Auf Stratum I schließlich finden sich sehr konkrete Einzelfähigkeiten – etwa die Fähigkeit, Tonhöhen zu unterscheiden. Carrolls Modell wird in den 2000er Jahren mit dem Gf-Gc-Modell zum „CHC-Modell“ (benannt nach Cattell, Horn und Carroll) integriert. 1994 The Bell Curve von Charles Murray und Richard Herrnstein erscheint – der Titel bezieht sich auf die Glockenkurve der Intelligenzwerte. In ihrem Buch argumentieren die beiden Autoren, dass verschiedene „Menschenrassen“ in IQ-Tests unterschiedlich gut abschneiden: Asiatischstämmige am besten, gefolgt von Weißen und schließlich Schwarzen Menschen. Sie postulieren, dass diese Unterschiede genetisch bedingt seien. Das Buch, das nicht nur aufgrund seines rassistischen Tenors, sondern auch aufgrund seiner selektiven Studienauswahl kritisiert wird, führt unter anderem zur Bildung einer Task Force der American Psychological Association, die ein Jahr später unter dem Titel „Intelligence: Knowns and Unknowns“ eine Klarstellung des Status quo der Intelligenzforschung publiziert. Im Rahmen einer weiteren Längsschnittstudie zu Hochbegabung entwickeln Kurt Heller, Ernst Hany und Christoph Perleth das „Münchner Hochbegabungsmodell“. Seine Besonderheit: Begabung wird klar von Leistung unterschieden. Des Weiteren stellen die Autoren heraus, dass Begabung nicht nur im intellektuellen Bereich, sondern auf vielen Gebieten vorliegen und sich 38 | mind magazin sonderheft 75 jahre mensa | oktober 2021
ZEITTAFEL in unterschiedlichsten Leistungen manifestieren kann. Voraussetzung für eine optimale Ausschöpfung des Potenzials ist allerdings, dass sowohl günstige Personbedingungen als auch förderliche Umweltbedingungen vorliegen. Dass Hochbegabte auch hohe Leistungen erzielen, ist also kein Automatismus! 1995 Der Wissenschaftsjournalist und klinische Psychologe Daniel Goleman setzt mit seinem Buch „EQ“ der „kalten“ Intelligenz ein neues erfolgsrelevantes Konstrukt entgegen. Der EQ kann als Maß der sogenannten „emotionalen Intelligenz“ eines Menschen verstanden werden. Liegt bei einer Person ein hoher Wert beim EQ vor, dann kann sie gut fremde und eigene Gefühle einschätzen. Trotz (oder möglicherweise wegen) der großen Popularität – das Buch wurde in 40 Sprachen übersetzt und über 5 Millionen Mal verkauft – ist die wissenschaftliche Rezeption eher kritisch. Teilweise liegt dies wohl auch daran, dass die Bezeichnung „emotionale Intelligenz“ zur Verwässerung des Intelligenzbegriffs im engeren Sinn beitragen könnte – ganz zu schweigen davon, dass sich Golemans populärer Begriff der „emotionalen Intelligenz“ mit dem wissenschaftlichen Begriff anderer Forscher nur teilweise deckt. Metaanalysen zeigen jedoch, dass selbst der wissenschaftlich fundierte EQ den Berufserfolg nicht besser vorhersagt als die „klassische“ Kombination aus IQ- und Persönlichkeitstests. 2011 Der Trend zu den multidimensionalen Modellen, die (Hoch-)Begabung breiter definieren als nur über den IQ, setzt sich weiter fort. Mit ihrem Megamodell der Talententwicklung fassen Rena Subotnik, Frank Worrell und Paula Olszewski-Kubilius zahlreiche Modelle der Intelligenz-, Kreativitäts- und Expertiseforschung zusammen und tragen so zum Verständnis der Talententwicklung über die gesamte Lebensspanne bei. Tanja Gabriele Baudson ist Ressortleiterin Wissenschaft und Forschung bei <strong>Mensa</strong> in Deutschland Felicitas Houf ist Forschungspraktikantin im Ressort Wissenschaft und Forschung. mind magazin sonderheft 75 jahre mensa | oktober 2021 | 39
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