BIBER 03_22 Ansicht
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„Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist!“ „Da kannst du dann mit deinem Mann
hin!“ – Was, wenn eine junge Frau gar nicht heiraten möchte? Was, wenn sie nicht auf
einen Mann angewiesen sein will, um vom Elternhaus unabhängig zu werden? „Ayıp!“
Autorin Şeyda Gün hat es satt, die „vorbildliche“ Tochter in der kurdischen Community
zu sein, auch auf die Gefahr hin, als „eine Schande“ abgestempelt zu werden.
Von Şeyda Gün, Fotos: Zoe Opratko
Ayıp!“ (übersetzt: eine Schande).
Dieser Begriff ist für viele
Frauen aus der türkischen
oder türkischsprachigen
kurdischen Community kein Fremdwort.
Denn wir alle haben zumindest einmal in
unserem Leben etwas gesagt, getragen
oder geglaubt, dass „ayıp“ für unsere
Familie, Bekannte oder sogar Freunde
ist. Einmal war ich auf der Suche nach
einem Outfit für eine kurdische Hochzeit
in Wien. Meine Mama
wollte, dass ich mich der
Community entsprechend
kleide: Das Kleid dürfe auf
keinen Fall zu kurz sein
oder einen Ausschnitt
haben, denn es wäre
„ayıp“, wenn ich nicht
angemessen gekleidet
wäre. Obwohl meine Familie
sich niemals in mein
äußeres Erscheinungsbild
einmischte und mich so
respektierte, wie ich bin,
ging es hier darum, was
andere Menschen in der
Community über mich
denken oder gar reden
würden, wenn ich mir
ein etwas „freizügigeres“
Outfit für den anstehenden Anlass
aussuchen würde. Im Endeffekt habe ich
dann getragen, was mir gefallen hat – ob
die „Leute reden“ ist mir egal.
Denn: Wer bestimmt, wann was
warum „ayıp“ ist? Sowohl in der türkischen
als auch in der kurdischen
Community können viele Dinge eine
„Schande“ für Frauen sein. Mütter und
Väter sind beispielsweise besonders stolz
auf ihre Söhne, wenn die feste Freundin
vorgestellt wird. Wenn die Tochter den
festen Freund aber vorstellen möchte,
herrscht Ausnahmezustand unter den
vier Wänden. Das ist doch ayıp! Frauen
können doch nur den Mann vorstellen,
den sie auch später heiraten, das
besagt der imaginäre Gesetzeskodex der
Community. Bereits in jungen Jahren
werden Mädchen darauf aufmerksam
gemacht, sich „vorbildlich“ innerhalb der
Community zeigen zu müssen. Vorbildlich
sein heißt, in die Schule zu gehen
und dann sofort wieder nachhause,
Den Lästereien in ihrer Community dreht die Autorin den Rücken zu.
nicht bei Freundinnen am Wochenende
übernachten, denn Pyjamapartys sind
ein Tabu. Vorbildlich sein heißt, nicht auf
Partys gehen, nicht im Club zu tanzen.
Auch ich kenne das nur zu gut. Als ich
meiner Mama im Teenageralter sagte,
ich möchte auf Pyjamapartys, dachte sie,
ich scherze. Sie hatte kein Verständnis
dafür, wieso ich bei meinen Freundinnen
zu Hause übernachten sollte. Für
sie war das „ayıp“. Was würden denn
andere dazu denken? Ich erklärte ihr,
dass es das normalste auf dieser Welt
sei und es nur in unserer Kultur einfach
kein Verständnis dafür gebe. Sie
hat sich im Endeffekt mit der Tatsache
angefreundet und akzeptiert, dass es
eine Welt außerhalb unserer Kultur auch
gibt und nichts dagegenspricht, wenn
ich mit meinen Freunden meinen Spaß
habe. Die Pyjamapartys aka Homepartys
waren somit kein Problem mehr. Hätte
ich dieses Gespräch nie gesucht und
versucht, ihr eine Welt außerhalb unserer
Kultur zu erklären, wäre
nie etwas aus den Partys
geworden. Ich kann mich
in dieser Hinsicht glücklich
schätzen, dass dieses
Verständnis entstand.
Heute denke ich an meine
Zeit im Gymnasium zurück
und liebe die Erinnerungen.
Die schönste Zeit,
die lustigsten Erlebnisse,
mit den besten Leuten. All
das, weil ICH mich durchgesetzt
habe.
In unserer Community
heißt „vorbildlich sein“
vor allem, dem Weltbild
der Community gemäß zu
leben, ohne die eigenen
Bedürfnisse jemals
ausleben zu dürfen. Wenn du als Frau
nicht den „vorbildlichen“ Funktionen der
Gesellschaft entsprichst, beginnt deine
Community über dich zu sprechen. Gibt
es Gossip in deiner Community über
dich? Uff, ayıp. Es ist ein Weltuntergang
für Familien, wenn schlecht über die
Tochter gesprochen wird, es ist eine
Schande. Heute frage ich mich, wer
überhaupt das Recht hat, mir und allen
anderen Frauen vorschreiben zu dürfen,
was ayıp ist oder nicht. Ich bestimme für
mich, du bestimmst für dich. Punkt.
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 49