BIBER 03_22 Ansicht
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Du bist ein Mädchen, das
gehört sich so nicht, was
werden die anderen über
dich sagen? Dass deine
Eltern dich nicht richtig erzogen haben
und dass du eine Schande bist? Und wer
wird dich bitte heiraten, wenn du dich so
benimmst? Willst du auch so in Zukunft
mit deinen Schwiegereltern reden?“
Diese Aussagen bekommst du als Mädchen
täglich zu hören, wenn du mal was
machst, was „sich als Mädchen halt nicht
gehört“. Zumindest bei uns. Und ich
kann das alles nicht mehr hören.
„LEBT SIE WIE EINE
EUROPÄERIN?“
Als die älteste Tochter in einem ägyptischen
Haushalt stoße ich oft an meine
Grenzen. Während meine Eltern von mir
erwarten, dass ich gute Noten nachhause
bringe und gleichzeitig wollen, dass
ich den Haushalt mache, kann mein
älterer Bruder nach der Schule gechillt
schlafen und hat absolut keine Verantwortung
zu tragen. Er kann rausgehen
und nachhause kommen, wann er will,
und muss niemandem sagen, wohin er
geht und was er macht. Ich möchte mich
nicht mit ihm vergleichen, weil er älter
ist als ich. Mir macht es nichts aus, dass
ich eben nicht so oft raus darf, weil ich
mich vor allem zur Schulzeit oft gerne
von allem isoliere. Aber um mich allein
geht es hier nicht – ich spreche für viele
junge Frauen aus meiner Community.
Was gehört sich denn alles nicht? Die
Liste ist lang. Es wird über uns Mädchen
geredet, wenn wir oft rausgehen. Ob
wir uns einen schönen Tag mit Freundinnen
machen oder nur ein bisschen
Zeit im Park verbringen, macht keinen
Unterschied. „Sie hält sich nur auf der
Straße auf, hat sie kein Zuhause? Warum
lassen das ihre Eltern zu? Lebt sie
das Leben einer Europäerin?“ Mit „Leben
einer Europäerin“ meinen sie das „freie
Leben“. Dass eine Frau sich von niemandem
was sagen lässt und lebt, wie sie
will. Am liebsten ist es den Eltern, wenn
ihre Töchter immer zuhause sind, brav im
Haushalt mitmachen, stets auf die männlichen
Personen in der Familie hören
und alles tun, was die Familie und ihre
Söhne wollen. Es ist eine Schande, wenn
ein Mädchen widerspricht oder für ihre
Gerechtigkeit spricht. Aber wer bestimmt
denn überhaupt, was sich gehört? Ich
denke ja, dass in manchen Familien die
Männer einfach Minderwertigkeitskomplexe
haben und sich nur mächtig oder
männlich genug fühlen, wenn sie kleinen
Mädchen, ihren Frauen oder Schwestern
Befehle geben oder sie sogar schlagen.
Wenn du ihnen widersprichst, ihnen
Unrecht gibst oder deine Stimme bei
Ungerechtigkeit hebst, fühlen sie sich in
ihrem Stolz gekränkt.
Bei mir zuhause ist das zum Glück
nicht ganz so arg – aber diese patriarchale
Denkweise wird im Alltag trotzdem
gelebt: Meine Mutter erlaubt meinem
Bruder so gut wie alles und behandelt
ihn wie ein kleines Baby. Das hat in den
letzten Jahren dazu geführt, dass er
sich sogar getraut hat, meine Eltern zu
beschimpfen, und dann bekomme ich
von meiner Mutter zu hören, dass sie
nicht mehr weiß, was sie tun soll, weil
sie ihm als Jungen ja nichts verbieten
kann und weil er schon „erwachsen“
ist. Ist man denn mit 18 Jahren wirklich
erwachsen? Oder ist man einfach nur
volljährig und kann alles ohne Erlaubnis
der Eltern machen? Denn meiner
Meinung nach ist man mit 18 noch lange
nicht erwachsen oder reif genug, um
ganz allein über sein Leben zu bestimmen.
Im Haushalt muss er nie was
machen, das wird uns Mädchen überlassen.
. Aber ich lass mir nicht gerne
sagen, was ich zu tun habe. Aufgaben
wie Geschirrabwaschen, Putzen oder
Aufräumen mache ich gerne, wenn es
aus meinem eigenen Willen kommt, aber
wenn mir jemand sagt, wann ich was
zu tun habe, dann will ich es nicht mehr
machen und mach es in den meisten
Fällen dann auch nicht.
„DU WIRST ES NIE
SCHAFFEN, EINEN
HAUSHALT ZU FÜHREN!“
Wenn ich bis 19 Uhr Unterricht habe,
nachhause komme und es gerade mal
schaffe, meine Hausübungen zu machen,
und keine Zeit mehr habe, den Abwasch
zu erledigen, ist am nächsten Tag ein
Riesendrama los. Entweder heißt es,
dass wir als Mädchen eine Schande sind
und es nie schaffen werden, ein Haushalt
zu führen. Meine Eltern schaffen es
manchmal, mir ein so schlechtes Gewissen
zu machen, dass ich am nächsten
Tag um zwei Uhr nachts noch die Küche
putze und meinen Schlaf opfere, weil es
sich mit der Schule anders nicht ausgeht.
Wenn ich es anspreche, endet es in
Streit, Vorwürfen und es eskaliert alles.
„WENN DU VERHEIRATET
BIST UND KINDER HAST,
DANN KANNST DU ES
BESSER MACHEN.“
Ich liebe meine Eltern sehr, sie sind
Menschen, die mich sehr geprägt haben.
Was mich aber stört, ist diese moralische
Erziehung, dass Mädchen so und so sein
sollen und dass ihre Söhne erst dann
männlich genug sind, wenn sie über
alles selbst bestimmen und ihre Freiheit
bekommen. Es stört mich, dass sie ihrem
Sohn so grundlegende und lebensnotwendige
Fähigkeiten, wie Putzen oder
Kochen nicht beibringen. Warum die
Söhne sowas gar nicht lernen sollen?
Weil das Frauenaufgaben sind, die ihre
Männlichkeit gefährden. Das ist doch
lächerlich. Wie soll ich mich darüber nicht
ärgern? Meine Eltern sind selbst so aufgewachsen,
weshalb ich verstehe, warum
sie so sind, meine Mutter kennt es
nicht anders. Auch sie musste sich früh
fügen und gehorchen. Sie hat meinen
Ärger nicht verdient, aber genauso wenig
habe ich ihn verdient. „Wenn du verheiratet
bist und Kinder hast, dann kannst du
es besser machen!“ – Genau, das werde
ich. Ich will, dass wir die Generation
werden, die mit dieser Doppelmoral und
diesen veralteten Traditionen bricht. Die
Generation, die den Söhnen Kochen und
Putzen beibringt. Die Töchter ermutigt,
ihre Meinung zu sagen und nicht dafür
verurteilt. Unsere Kinder, unsere Töchter
vor allem, sollen nicht zu hören bekommen,
dass etwas „eben so ist“, oder dass
man „es selbst auch schwer hatte“. Lasst
uns die Generation werden, die all das
hinterfragt. Jungs alles zu erlauben und
nichts von ihnen zu erwarten und von
Mädchen alles zu verlangen und ihnen
noch mehr zu verbieten – lasst uns die
Generation werden, die DAZU sagt: Das
gehört sich so nicht! ●
Die Autorin ist 15 Jahre alt, hat ägyptische
Wurzeln und geht noch zur Schule.
Sie hinterfragt Rollenbilder innerhalb
ihrer Community und will sich in Zukunft
für Frauenrechte einsetzen.
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 55