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ST/A/R-50-54 (Seiteneindrücke)

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10 <strong>ST</strong>/A/R + Buch III - AUTO-<strong>ST</strong>AR<br />

Autos von Odessa<br />

Die Hafenstadt am Schwarzen Meer ist von verschworener Schönheit; um diese zu erkennen, muss man sich mit verschobenen<br />

Perspektiven auseinandersetzen. Betrachtun&' von Autos ist eine eute Referenz dafür.<br />

Text und Fotos: David Staretz<br />

D~ec~;;;:~ i~!~-s:·e~~~~tr::<br />

über<br />

geöffneten Motorhauben. Mädchen<br />

schweben auf High Heels über tektonisch<br />

erschütterte Gehsteige. Krähen werfen<br />

Nüsse vor die Autos, in der Hoffnung,<br />

dass die Schalen nachgeben. Die<br />

Straßenpflaster hier sind so verschoben,<br />

dass Straßenbahnen der Schwerkraft<br />

folgen, um den weiteren Verlauf der<br />

Schienen zu finden. Immerhin geben die<br />

Metallstränge den Schlaglöchern Struktur<br />

und Pölzun g. Drei Männer der Tat<br />

hieven einen Shiguli mit weggeknicktem<br />

Vorderrad über die Bordsteinkan te auf<br />

den Platz vor der Kirche. Der Motor heult<br />

auf , doch schlaff hängt das Rad weg. Eine<br />

Trolleybus -Chauffeurin angelt mit langer<br />

Stange nach den Stromabnehmern, die<br />

sich im hohen Drahtgewirr verhaspelt<br />

haben. Wenn jetzt einer hupt , lassen alle<br />

im Umkreis hören, dass sie ebenfalls<br />

schöne Hupen besitzen<br />

Diese Stadt, zu der mich eine unerklärte<br />

Liebe hinzieht, heißt Odessa, erinnert<br />

etwas an das Wien der Nachkriegszeit, wie<br />

man es sich in romantischer Verblendung<br />

vorgestellt haben möchte, und besitzt<br />

einen unbestreitbaren Vorzug: Liegt am<br />

Meer. Was man der auf dem Hochufer<br />

gelegenen Stadt aber kaum anmerkt. Keine<br />

Fischernetze , keine Musche lreliquiare in<br />

den Restau ran ts. Nur der Hafen: Kräne.<br />

Was Odessa von modernen<br />

Einmillionenstädten unterscheidet,<br />

ist seine Warmherzigkeit und diese<br />

offengelegte Freizügigkeit des<br />

Lebensalltage s, der in weiten Bereichen<br />

zu armselig und zu liebenswürdig ist ,<br />

um sich eine coole Fassade zulegen<br />

zu können. Es ist eine Stadt von wenig<br />

mitteils amer Schönheit; wenn man nach<br />

Hause komm t und da1über erzählen<br />

soll, holt man großartig Luft , aber dann<br />

kommen nur so kleine Episoden heraus<br />

Odessiten lieben Tiere , ständig<br />

triffi man freilaufende Katzen vor<br />

Katzenfutterschüs seln oder streunende<br />

Hunde in roten Pullovern. Wogegen<br />

die Stadtve1waltung keinerlei Strategie<br />

entwickeln konnte, ist die Lawine an<br />

ungewaschenen Autos, die vor zehn<br />

Jahren , als Kredite ausgegeben wurden, die<br />

Stadt überfluteten wie Schlammlawinen<br />

Sie lagern zwischen den Bäumen der<br />

Alleen, in den Gassen, auf den Gehsteigen,<br />

oft in Zweier - und Dreieneihen<br />

Odessa wurde vor 222 Jahren auf<br />

Anweisung von Katharina der Großen<br />

gegründet. Vorausdenkende Gouverneure<br />

wie der französische Herzog Armand de<br />

Richelieu schufen Voraussetzungen für<br />

gedeihlic he s Sprießen von Handwerk ,<br />

Wirtschaft und Kultur; der Hafen<br />

entwickelte sich zum wesen tlichen<br />

Tor nach Westen, entschärfte auch in<br />

kommunistischen Zeiten die Lage mit<br />

allerlei westlichen Gütern und Matrosen<br />

Die Stadt war immer sehr mediterran<br />

beeinfluss t, kulturell durchmischt und<br />

offen für das Fremde - doch mit der<br />

Überzahl an billigen Import-Autos konnte<br />

sie es nicht aufnehmen.<br />

So wird das Straßenbild meist von<br />

namenloser Fah1ware aus dem<br />

asiatischen Raum bestimmt. Neu- und<br />

Gebrauchtwagen, hereingeschwemm t in<br />

der Zeit. als die Banken jenes Geld unter<br />

die Leute brachten, dessen Rückzahlun g<br />

heute immer unwahrscheinlicher<br />

wird. Auch die Ersatzteilversorgung<br />

kam ins Stacken. War gar nich t<br />

vorgesehen. Typische1weise sieht man<br />

unverhä ltnismäßig oft Fahrzeuge , deren<br />

komplette Vorderfront fehlt, weil der<br />

Plastik-Stoßfänge r in Briiche gegangen ist<br />

Da hilft keine Kunst der Improvisation<br />

Schrecklicher Blick in Eingeweide.<br />

Deutsche Limousine n mit abgedunkelten<br />

Scheiben, RangeRovers oder Lexus-Coupes<br />

dröhnen über das Pflaster als Verweis<br />

auf Neues Geld und Schnellen Reichtum ,<br />

ein absurd tiefgelegter Dreier-BMW,<br />

froschgrün mit blauen Scheinwerfern,<br />

stöckelt mühsam über den Platz, sucht<br />

seichte Stellen im b1üchigen Asphalt. Die<br />

bei Hochzeiten beliebten weißen Stretch­<br />

Limos sind glückliche1weise so lang, dass<br />

sie beinahe vom Standesamt bis zur Kirche<br />

reichen<br />

Aber der Großteil des öffentlichen<br />

Trans porte s wird in kantigen Bussen<br />

zuriickgelegt. Gelb, weiß, ocker, lila oder<br />

dekorativ mit Werbung beklebt, verweisen<br />

sie manchmal noch auf Osnabriick oder<br />

Sendling, wo sie vor Jahren ausgemustert<br />

wurden. Sie hei ße n nach der rätselhaft<br />

zwingenden Logik des Volksmundes<br />

Marshrutki, wobei die Ableitung aus dem<br />

Deutschen wie eine verspätete Pointe<br />

einttiffi. Ähnliche W01te: Platzkart (für<br />

billigplätzige Liegewagen). Und natürlich<br />

Buderbrodnqja für die Spelunke. D01t<br />

frühstücken Viktoriya und ich inmitten<br />

fröhlicher Alkoholiker, deren Formation<br />

und Laune sich auch bis zum Abendessen<br />

kaum verändert haben wird und suchen<br />

nach weiteren Germanismen: Zifferblat ,<br />

Buchalter , Lobsig (Laubsäge), Schlagbä.um,<br />

Stammestka (Stemmeisen), Straf(!),<br />

Schä.chmatiy, Zeitnot, Zugzwang,<br />

Feue1werk, Stangenzyrkul, Stempel,<br />

Schaiba (Scheibe), Mundstuck. Viktoriyas<br />

Mutter ruft an. Sie ist gerade aus dem<br />

Chinterland mit Platzkart auf die Krim<br />

gefahren, sucht in einem Kurort nach dem<br />

beste n Part'.tkmacher (Frisör).<br />

Wolga, Shiguli, Moskvitch oder Lada -<br />

der Bestand an alten Fahrzeugen wird<br />

hier gepflegt wie sons t nur in Kuba;<br />

imme rh in sieht man diesen Autos an,<br />

dass sie nicht den Banken gehören. Damit<br />

das so bleibt. werden sie gern für kleine<br />

Nebenverdiens te eingesetzt<br />

Mit einer 01tskundigen an der Seite<br />

bleibt mir die Ausländerzulage an ein<br />

regulä res Taxi erspart und bald humpelt<br />

aufZuwinken ein rostroter Shiguli heran,<br />

in unserer Erinnerun g besser aufgehoben<br />

als Fiat 124. Dieser viertürige Typ, zu<br />

Chrustschews Zeiten als Lizenzprodukt<br />

in Togliatti grad her gestellt , wird hier<br />

automatisch als Mitfahrgelegenheit<br />

verstanden, da braucht es keine Aufschrift,<br />

keinen Taxameter und keine Carsharing-<br />

Projekte . Rasch wird man sich<br />

über den Fahrpreis einig, der irgendwo<br />

zwischen zehn und vierzig Griwna liegt.<br />

je nachdem, ob man nur zum nächsten<br />

Markt oder doch zum Bahnhof (Wagsal),<br />

zum Strand Langeron oder zur modernen<br />

Schiffsanlegestelle (M01wagsal) möchte .<br />

Also zwischen einem und vier Euro. Bald<br />

begin nt sich der Chauffeur, Typ "Unhold ",<br />

wie meine Begleiterin mas sive Glatzköp fe<br />

in Lederjacken klassifizie1t. zu schütteln<br />

wie ein Schiffsdiesel, was bedeutet.<br />

dass er lacht. weil meine Freundin<br />

ihren Lieblingswitz erzählt hat. Daraus<br />

aufkeimende Kühnheit der Fahrmanöver<br />

wird rasch begrenzt durch die Hinfälligkeit<br />

Nr. <strong>50</strong>/2016<br />

des Fah1werkes und die zerstörerische<br />

Gestalt der Straßenoberflächen<br />

Meist stecken in den echsendicken<br />

Lederjacken 1ührende Romantiker<br />

Liebevoll werden die Getriebezahnräder<br />

zusammengeführt am langen Schaltstabe ,<br />

und das großzüg ige Lenkradsp iel führt zu<br />

tänzerischen Verschlingungen haariger<br />

Prank en. Trauri ge odessitische Weisen<br />

klingen aus staubigen Boxen auf den<br />

Hu tablagen , sie beinhalten Textzeilen<br />

wie: ~ Woriiber reden die Frauen auf dem<br />

Primorsky Boulevard? Über Hochzeiten<br />

und über Abtreibungen ... ~. Hier zu m<br />

Nachhören: http: / /www .youtube.com /watc<br />

h?v=CIHTBR7jKAU&feature=related<br />

Bald haben wir per Shiguli den Großmarkt<br />

"Siebter Kilometer~ in nämlicher<br />

Entfernun g zur Stadt erreicht, eine<br />

Containe rstadt, worin es, um es möglichst<br />

exakt zu formulieren , praktisch alles zu<br />

kaufen gibt.<br />

Ein gewisse r Stolz verbietet es uns, die<br />

Taxipreise der Rückfahrt zu bezahlen, die<br />

das Dreifache einer selbstorganisierten<br />

Hinfah1t ausmachen. Also erfahre ich<br />

im billigen Kleinbus wieder dieses<br />

erstaunliche Phänomen russischer<br />

Wärme und lebendiger Gemütlichkeit,<br />

wie sie mir aus moos gedichteten<br />

Blockhäusern im verfrorenen Mordwinien<br />

oder von winterlichen Nachtreisen in<br />

kohlebeheizten Schlafwägen mit ihren<br />

Pflanzendekor ationen und Samowars her<br />

bekannt ist<br />

So sind auch diese ausgemus terten<br />

Mercedesbusse hier von warmer<br />

Herzlichkeit belebt dur ch die muntere<br />

Geschäftigkeit von Menschen, die<br />

meist richti ge Sorgen haben, nicht das,<br />

was wir daheim so nennen. Es gibt<br />

dick eingewickelte Babushkas in ihren<br />

ofenrohrdicken Walenki- Filzstiefeln und<br />

daneben zart hochgeschossene Fräu lein,<br />

die man anderswo Topm odel nennen<br />

würde. Man sieht Teena ger mit Earplugs,<br />

deren Kabel in der Tiefe abenteuerlich<br />

gefälschter Phantasie-Desi gnerjacken<br />

verschwinden und man wetzt die<br />

Schultern an schweren alten Männern<br />

mit verschlossenen Gesichtern. Sobald<br />

der Bus voll ist. kann man abfahren. Wir<br />

alle schwingen im Takt der Schlaglöcher,<br />

die wie die Zinken einer Spieluhr ein<br />

Lied aus der gequä lten Federung pressen<br />

und während wir umständlich einige<br />

im Schlamm liegengeliebene Fahrzeuge<br />

umschiffen, erklärt meine Begleiter in, dass<br />

der trostlose Ort , den wir hier durchfahren,<br />

übersetzt "Nichtlangweilig" heißt und dass<br />

wir und auf seiner Haup tstra ße befinden ,<br />

nämlich der ~Nichtlangweiligstraße"<br />

Beim Aussteigen - jeder Passagier legt<br />

wortlos einen Geldschein im Wert von<br />

zirka 20 Cent neben den Fahrer - sagt<br />

der Chauffeur zu meiner Freundin, die<br />

versehentlich nicht für mich mitge2ahlt<br />

hatte: "Djewushka, will der junge Mann da<br />

nicht bezahle n?" Mit hochrotem Kopf lege<br />

ich die Zwei-Grivna -Note hin. Jugend hat<br />

ihren Preis<br />

Viktoriyas Lieblingswitz, jener mit den<br />

toten Polizisten, die in Särgen den Fluss<br />

hinunte1 t reiben, kann nur auf Anfrage<br />

erzählt werden, aber ihr Zweitlieblin gswitz<br />

ist auch nicht schlecht:<br />

Raoul Castro schüttelt<br />

den sterbenden Brude r<br />

"Fidel, wach noch einma l auf , Millionen<br />

Menschen sind unten, sie wollen sich von<br />

dir verabschieden!~ Fidel darau f: ~Ja, wo<br />

wollen sie denn hinfahren?"<br />

Nr. <strong>50</strong>/2016 Buch III - AUTO-<strong>ST</strong>AR + sT/A/R 11

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