faktor Sommer 2022
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mensch<br />
»Spätestens in diesen Monaten hat mein<br />
Team gelernt, dass ein ‚Geht nicht‘ für mich<br />
keine akzeptable Antwort ist. «<br />
Um das Grundstück am Flüthe damm in Rosdorf erwerben<br />
zu können, verkaufte Witter-Wirsam mit dem Segen<br />
ihres Vaters das Altgelände und die dort angesiedelten<br />
Gebäude. Mit einem Teil des Erlöses zahlte sie ihren Bruder<br />
als Gesellschafter aus. „Er hatte sich schon 1999 aus<br />
dem operativen Geschäft komplett zurückgezogen“, erzählt<br />
Witter-Wirsam. „Im Nachhinein hat sich das als<br />
genau richtig herausgestellt. So hatte ich die Unabhängigkeit<br />
und den unternehmerischen Handlungs- und<br />
Entscheidungsfreiraum, der mir bis heute wichtig ist.“<br />
Der Rest war ihr Kapital für den Neustart, der sich auf<br />
jede erdenkliche Art als sehr herausfordernd erwies.<br />
„2009 WAR NICHT NUR DAS JAHR, in dem mein Vater<br />
starb, es war auch das Jahr der Wirtschaftskrise“, sagt<br />
sie und offenbart die Gedanken, die sie damals umtrieben.<br />
„Ich hätte mich zur Ruhe setzen, Privatier werden<br />
können. Denn ich hatte den Erlös vom Altgrundstück<br />
schon auf dem Bankkonto. Ich wollte aber meine<br />
Mit arbeiter nicht im Stich lassen, nur weil mir der Mut<br />
und der Elan fehlen.“ So übernahm sie die Verantwortung<br />
– für die Zukunft des Unternehmens, der Mitarbeiter<br />
und ihrer Familien. Sie kaufte den lang anvisierten<br />
Bauplatz von sechs verschiedenen Vorbesitzern zusammen,<br />
erhielt nach einigem Hin und Her die Baugenehmigung<br />
und startete mit der Umsetzung ihres Konzepts.<br />
„Ich warf alles, was ich mir bisher erarbeitet hatte, in<br />
einen Topf. Die Bank wollte zusätzliche Bürgschaften<br />
sehen“, sagt sie, erneut in Erinnerungen versunken.<br />
„Das unterscheidet uns selbstständige Unternehmer von<br />
angestellten Vorständen. Wir gehen auch privat ins volle<br />
Risiko.“<br />
Sie habe über den Zeitraum vieler Monate einfach<br />
funktioniert: Dinge abzuarbeiten, Nächte zum Tag zu<br />
machen und immer wieder auf neue Einfluss<strong>faktor</strong>en zu<br />
reagieren, war Normalität. „Spätestens in diesen Monaten<br />
hat mein Team gelernt, dass ein ‚Geht nicht‘ für mich<br />
keine akzeptable Antwort ist“, sagt Birgitt Witter-Wirsam<br />
mit einem selbstbewussten Lächeln. „Ich frage dann immer,<br />
ob wir es denn schon versucht haben.“ Denn sie<br />
selbst habe die Erfahrung gemacht, dass 90 Prozent aller<br />
Dinge, die als nicht machbar im Raum stehen, am Ende<br />
doch machbar sind. ‚Geht nicht – gibt es nicht‘ wurde zu<br />
ihrem Lebensmotto.<br />
IHREN MUT UND DIE FÄHIGKEIT, sich bietende Gelegenheiten<br />
beim Schopf zu packen, bewies die umtriebige<br />
Geschäftsfrau bereits im Jahr 2005 beim Kauf von insgesamt<br />
sechs Kasernenblöcken auf den Zietenterrassen.<br />
Mit dem Plan angetreten, eine einzelne Wohnung zu<br />
kaufen, saß sie gemeinsam mit ihrem Sohn Marcus bei<br />
der Versteigerung auf der Bieterbank. Der Rest ist schnell<br />
zusammengefasst: Als die Blöcke nur zusammen zur Versteigerung<br />
kommen sollten, nutzte sie die Pause für ein<br />
Telefonat mit der Sparkasse, an dessen Ende das gemeinsame<br />
Geschäft stand: Sie und ihr Sohn kauften die kompletten<br />
Blöcke. Als Fehler bezeichnet sie heute, dass sie<br />
relativ bald vier der sechs Gebäude an eine Baugruppe<br />
weiterverkauft habe. Um die Verwaltung und Vermietung<br />
der verbliebenen Wohnungen kümmert sich heute<br />
ihr Sohn Marcus.<br />
Nachdem sie dieses zweite Standbein aufgebaut und<br />
den Umzug auf das neue Betriebsgelände durchgezogen<br />
hatte, war Birgitt Witter-Wirsam mit dem Umbau des<br />
Familienunternehmens allerdings noch immer nicht<br />
fertig. Sie gründete vor zehn Jahren zusätzlich eine<br />
Tischlerei. „Nicht alle unsere gewerblichen Kunden waren<br />
von diesem Schritt begeistert “, sagt sie. „Aber ohne<br />
diese Dienstleistung wären wir heute nicht so gut aufgestellt.<br />
Auch die Handwerksmeister der Region konnten<br />
sich letztlich mit der neuen Situation arrangieren. Da wir<br />
uns nicht an Ausschreibungen beteiligten, gab es auch<br />
keinen Wettbewerb.“<br />
RÜCKBLICKEND SEI SIE FROH, den dornenreichen Weg<br />
gewählt zu haben. „Ich bin immer in schwierige Situationen<br />
mittenrein“, sagt Witter-Wirsam. „Meinem Wirtschafsprüfer,<br />
der mich seit über 40 Jahren bei meinen<br />
Unternehmungen begleitet, bin ich besonders dankbar,<br />
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